1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Weltweite Wirtschaftskrise
 

Sozialpolitik
Viele Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit wurden seit der Revolution von 1918/19 zwar nicht beseitigt, aber wesentlich stärker als früher sozialpolitisch abgemildert. Das in den 1880er Jahren von Bismarck eingeführte Sozialversicherungswesen (Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung) wurde in der Verfassung verankert (Artikel 161 WV), seine Leistungen verbesserte man durch erhöhte Rentensätze (Politik der sozialen Sicherung). Außerdem sorgte eine Vielzahl von größeren und kleineren Maßnahmen für mehr soziale Gerechtigkeit (Politik des sozialen Ausgleichs). Sie reichten von der Anerkennung neuer Berufskrankheiten, die zum Bezug einer Invalidenrente berechtigten, über die Steigerung der Zahl der Ärzte (1909: 4,8 bis 1930: 7,4) sowie der Krankenhausbetten (1910: 63,1 bis 1930: 90,9) pro 10000 Einwohner bis zum sozialen Wohnungsbau: Zwischen 1925 und 1929 erhöhte sich die Zahl der jährlich fertiggestellten Wohnungen (in weiträumigen Siedlungen oder mehrstöckigen Mietshäusern ohne Hinterhöfe) von 106502 auf 317682; davon wurde jede zweite mit staatlichen Mitteln gefördert oder vom Staat selbst gebaut.
Arbeitslosenversicherung
Viele sozialpolitische Reformen waren, neben dem anhaltenden Druck der organisierten Arbeitnehmerschaft, dem langjährigen, tatkräftigen Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns (Zentrum) zu verdanken. Sein bedeutendstes Werk war das Gesetz über die Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 1. Oktober 1927, von der "Bürgerblock"-Regierung (Zentrum - BVP - DVP - DNVP) unter Reichskanzler Wilhelm Marx (Zentrum) eingebracht und vom Reichstag mit großer Mehrheit (ausgenommen KPD, Deutschvölkische und einige Deutschnationale) verabschiedet. Danach übernahmen künftig eine Reichsanstalt sowie regionale und lokale Arbeitsämter die Arbeitsvermittlung. Anspruchsberechtigte Arbeitslose konnten bis zu 39 Wochen ihren Unterhalt aus einer Versicherung beziehen, die zu gleichen Teilen durch Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber finanziert wurde. Der Staat sollte im Notfall mit Darlehen (nicht mit Zuschüssen) einspringen. Somit wurde bei der sozialen Absicherung der Arbeitslosen das bisherige entwürdigende Fürsorgeprinzip durch das Versicherungsprinzip abgelöst, der Verfassungsauftrag zum Ausbau des Sozialversicherungswesens (Artikel 161 und 163 WV) erfüllt.
Weil Teile der Unternehmerschaft schon im Vorfeld heftig über die Erhöhung ihrer Soziallasten klagten, wurde die Beitragshöhe möglichst niedrig angesetzt (das heißt auf drei Prozent des Grundlohns). Daher reichten die Finanzmittel vorläufig nur für 700000 Arbeitslose, was aber höchstens der günstigen Wirtschaftslage vom Sommer 1927 entsprach. Als die Arbeitslosenversicherung schon bald Darlehen aus dem Reichshaushalt benötigte, wurde sie zum dauernden Streitthema zwischen Parteien, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften.

Zerwürfnis der Tarifvertragsparteien

1928 vertiefte sich die Kluft zwischen RDI und ADGB. Zunächst gingen die Gewerkschaften im September mit einem Programm für "Wirtschaftsdemokratie" in die Offensive. Ihre Forderungen lauteten:
·Ausbau des Arbeitsrechts, der Sozialpolitik und der innerbetrieblichen Mitbestimmungsrechte,
·Erleichterung des Bildungszugangs für Arbeiter,
·Vermehrung der "gemeinwirtschaftlichen" (das heißt staatlichen und genossenschaftlichen) Betriebe,
·paritätische Besetzung der Handels-, Handwerks- und Landwirtschaftskammern,
·Kontrolle der Großunternehmen durch Kartellämter und durch Arbeitnehmervertreter in den Geschäftsleitungen.
Für die Durchsetzung sollte im wirtschaftlichen Bereich der ADGB, im politischen Bereich die SPD sorgen, an deren Rückkehr in die Regierung sich große Hoffnungen knüpften.
Die Arbeitgeberverbände begriffen das Gewerkschaftsprogramm nicht zu Unrecht als Kampfansage gegen die freie Unternehmerinitiative; vor allem der RDI reagierte mit heftiger Kritik an der "Wirtschaftsdemokratie". Mehr noch: Beim "Ruhreisenstreit" im Oktober 1928, dem größten Arbeitskampf in der Geschichte der Weimarer Republik, lehnte die Arbeitgeberseite den eher maßvollen Schiedsspruch des staatlichen Schlichters ab, sperrte mehr als 230000 Metallarbeiter aus, ließ es auf ein Arbeitsgerichtsverfahren ankommen und begann eine Kampagne gegen die staatliche Zwangsschlichtung bei Tarifkonflikten. Der Druck der Unternehmer führte am Ende zu einem zweiten, für sie günstigeren Schiedsspruch. Mit seiner Offensive gegen Gewerkschaften und Zwangsschlichtung machte der RDI deutlich, dass er letztlich die Flächentarifverträge durch betriebliche Einzelvereinbarungen zwischen Unternehmensleitung und Belegschaft (ohne gewerkschaftliche und staatliche Beteiligung) ersetzen wollte. Daher standen sich ab Ende 1928 Unternehmerverbände und Gewerkschaften unversöhnlich gegenüber - der Stinnes-Legien-Pakt vom November 1918, die "Sozialverfassung der Republik" (Hagen Schulze) war zerbrochen.


Quelle: "Informationen zur politischen Bildung", Copyright
Bundeszentrale für politische Bildung
www.bpb.de


 
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