1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Opposition in der DDR
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 
Buchauszug
Dieser Tag, der 9. Oktober, war besonders spannungsgeladen, weil bei der anstehenden Montagsdemonstration in Leipzig das Schlimmste befürchtet wurde. In den Kirchen und über den Leipziger Stadtfunk wurde deshalb ein Aufruf verlesen, der die Unterschriften vom Kapellmeister des Gewandhausorchesters, Kurt Masur, des Pfarrers Peter Zimmermann, des Kabarettisten Bernd-Lutz Lange und den drei Sekretären der SED-Bezirksleitung Leipzig trug und zu einem freien und friedlichen Dialog aufforderte. In Ost-Berlin bemühte sich derweil Krenz, die Sicherheitsorgane in Leipzig von der Zentrale aus an die Leine zu legen. Tatsächlich blieb alles ruhig. Gleichzeitig erreichte Krenz bei Honecker sein Ziel, die von ihm entworfene Proklamation im Politbüro beraten zu lassen. Aber die Reaktion Honeckers hatte ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass eine baldige Ablösung unvermeidlich sei.
Als der Text schließlich am 12. Oktober in leicht veränderter Form im Neuen Deutschlandveröffentlicht wurde, war das Ergebnis enttäuschend: Die erhoffte positive Resonanz blieb aus. Zu wenig war zu spät vom Politbüro geäußert worden. So war Glaubwürdigkeit nicht wiederzuerlangen. Allerdings war auch der Sturz Honeckers inzwischen kaum noch aufzuhalten. Am selben Tag, als die Proklamation des Politbüros im Neuen Deutschland erschien, wurde der Generalsekretär in einer Sitzung mit den Bezirkschefs der SED derart scharf kritisiert, wie es im Politbüro noch nie vorgekommen war. Vor allem Hans Modrow aus Dresden, der durch die Flüchtlingszüge aus Prag schwer in Bedrängnis geraten war, tat sich hervor. Krenz fühlte sich dadurch ermutigt, in der folgenden Politbürositzung am 17. Oktober den Sturz zu wagen. Gemeinsam mit Schabowski und dem FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch verabredete er am 15. Oktober, dass Honecker zu Beginn der Sitzung von Ministerpräsident Willi Stoph zum Rücktritt aufgefordert werden solle. Tisch wurde beauftragt, am Tag zuvor, dem 16. Oktober, anlässlich eines seit längerem geplanten Routinebesuchs in Moskau Gorbatschow über die geplante Aktion zu informieren.
Da die Situation in den Bezirken eindeutig zu sein schien und auch aus Moskau keine Einwände kamen, brachte Stoph am 17. Oktober die Rücktrittsforderung vor, die sich ebenfalls auf Mittag und den im ZK der SED für Agitation und Propaganda zuständigen Joachim Herrmann erstreckte. Honecker leistete kaum Widerstand. Alle Politbüromitglieder, einschließlich Günter Mittag und Erich Mielke, plädierten für seinen sofortigen Rücktritt. Bei der anschließenden Abstimmung war das Ergebnis einmütig: Honecker, Mittag und Herrmann votierten gegen sich selber. Nur Verteidigungsminister Heinz Keßler fehlte; er befand sich auf Dienstreise in Nicaragua.
Bereits am folgenden Tag wurde Egon Krenz auf Vorschlag des Politbüros vom Zentralkomitee der SED zum neuen Generalsekretär der Partei gewählt. Am Abend im Fernsehen vermittelte er das typische Negativ-Image der alten SED-Elite: dunkler Anzug, steife Haltung, monotone Rhetorik. Er stand in dem Ruf, das Muster eines orthodoxen Parteifunktionärs zu sein. Dieser Eindruck wurde jetzt bestätigt. Wer erwartet hatte, mit Honeckers Absetzung seien die Voraussetzungen für einen Neuanfang erfüllt, sah sich getäuscht. Die Reformer hatten die Chance, ihren Versuch zur Erneuerung überzeugend unter Beweis zu stellen, schon im ersten Anlauf vertan.
Tatsächlich war mit dem Sturz Honeckers keines der Probleme gelöst, die das Dilemma der DDR verursacht hatten. Zwar versprach die neue Führung unter Krenz, dass Demonstrationen künftig toleriert, neue Reisegesetze erlassen, die Berichterstattung in den Medien geändert und Ausgereiste bzw. Flüchtlinge und Demonstranten amnestiert werden sollten. Alles wurde auch binnen weniger Tage auf den Weg gebracht. Doch die Proteste gegen das SED-Regime hielten unvermindert an. Und als in der Nacht zum 1. November die Anfang Oktober von den DDR-Behörden verhängten Beschränkungen im Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei wieder aufgehoben wurden, überquerten binnen weniger Stunden mehr als 8 ooo DDR-Bürger die Grenze zur CSSR. Ehe der Tag zu Ende war, hatten erneut 1200 Ostdeutsche in der Bonner Botschaft in Prag Zuflucht gesucht, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Auch die Demonstrationsbewegung erreichte in dieser ersten Woche ihren Höhepunkt, als sich am 4. November mehr als eine halbe Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz versammelten und am 6. November ebenfalls wieder eine halbe Million in Leipzig, 60 000 in Halle, 50 000 in Karl-Marx-Stadt, 10 000 in Cottbus und 25 000 in Schwerin. Daraufhin trat am 7. November zunächst der gesamte Ministerrat (die Regierung der DDR) und am 8. November auch das Politbüro geschlossen zurück, um einer neuen Führung zu weichen, die im Wesentlichen aus Anti-Honecker-Leuten bestand.
Hans Modrow wurde nun zum neuen Ministerpräsidenten der DDR bestimmt. Anders als Krenz, der keinen Ruf als Reformer besaß, erschien Modrow als eine glaubwürdige Alternative zur alten Garde der Partei, auch wenn es übertrieben gewesen wäre, ihn als Dissidenten oder gar als Oppositionellen zu bezeichnen. Der 61-jährige Modrow war seit vier Jahrzehnten Mitglied der SED. Bereits 1967 war er in das Zentralkomitee der Partei gewählt worden und hatte von 1971 bis 1973 die Abteilung für Agitation und Propaganda geleitet, ehe Honecker ihn nach Dresden abgeschoben hatte - offenbar um ihn von mächtigeren Positionen in der Hauptstadt fernzuhalten. In Dresden hatte Modrow sich durch einen unideologischen Pragmatismus Achtung und Popularität verschafft, die noch angewachsen waren, als seine Vorgesetzten in Berlin ihm wiederholt, wenn auch ohne Erfolg, Kontrollkommissionen ins Haus schickten, um seine Organisation zu überprüfen und ihn selbst politisch unter Druck zu setzen. Nun glaubten manche, er habe das Zeug, der «Gorbatschow der DDR» zu werden.
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 
Druckversion Druckversion
Fenster schliessen
Fenster schliessen