1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Widerstand
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Buchauszug
Der Pfarrer Poelchau indessen entwickelte, wie seine Freunde mit achtungsvoller Ironie bemerkten, eine geradezu kriminelle Energie, um seinen Schützlingen zu helfen. Perfekt imitierte Dokumente lieferten Freunde in einer Druckerei, die einst der Familie Lipschitz gehörte - ein Name, der in einer Chronik des Widerstandes so wenig fehlen darf wie der des Druckers Theodor Görner, der Verfolgte in seinem Betrieb arbeiten, andere in seinem Papierlager nächtigen ließ; auch er fertigte falsche Papiere, die täuschend echt wirkten. Zu seinen Vertrauten gehörte Otto Weidt, der in seiner Blindenwerkstatt (nicht weit von der Druckerei) vielen Juden Arbeit und Obdach gewährte, unter ihnen Inge Deutschkron. Görner wurde im Sommer 1944 verhaftet, doch seiner Tochter gelang der Nachweis, dass der Betrieb des Vaters für die Wehrwirtschaft unentbehrlich sei: Theodor Görner wurde in der Tat unter Auflagen wieder entlassen.
So kunstfertig die Ausweispapiere von Görner oder Lipschitz gefälscht wurden: das Problem waren die Stempel. Auch hier half Poelchau eine Art Wunder. Nach einem der Angriffe, die Berlin nun fast Tag um Tag und Nacht um Nacht heimsuchten, wurde der Pfarrer auf einem seiner Wege angehalten: man befahl ihm, bei den Lösch- und Aufräumarbeiten zu helfen. Als er entdeckte, dass
in einem der halb zerstörten Häuser eine Dienststelle der Partei untergebracht war, schlich er ohne Zögern in eines der Büros, öffnete die Schubladen der Schreibtische und stopfte sich alle Formulare, die er greifen konnte, in die Taschen, vor allem aber die Stempel mit dem Adler und dem Hakenkreuz: ein unbezahlbarer Fund. Der offizielle, der echte Parteistempel verlieh auch Dokumenten und Papieren, die mit jener Berliner Dienststelle nicht das Geringste zu schaffen hatten, eine gewisse Authentizität.
Im wachsenden Chaos der Zerstörung unter den Schlägen der alliierten Luftflotten, die nun unablässig auf die Hauptstadt niederprasselten, wurde nicht immer jeder Ausweis mit der Akribie geprüft, die man den Deutschen nachsagt. Doch die Kontrollen blieben unberechenbar. Das Spitzelsystem der Gestapo funktionierte bis zuletzt. Die jüdischen «Greifer», die ihre Haut durch den Verrat der Verfolgten zu retten hofften, suchten nach wie vor die Spuren der Illegalen (obschon auch sie diesen und jenen schonten, und sei es nur, um für den Tag der Abrechnung Entlastungszeugen zu gewinnen).
Die Retter wurden kühner. Doch die Angst vor der Denunziation beschwerte, bis zuletzt, die Gemüter, zumal die fanatischsten der Nazis im Zeichen des nahenden Untergangs jede Hemmung verloren und ohne Aufenthalt jeden exekutierten, in dem sie einen Feind ihres Regimes zu wittern glaubten. Poelchaus Mut zur Menschlichkeit aber war allemal stärker. Liselotte Weiskopf erinnerte sich Jahrzehnte später: «Vielleicht war der erste Augenblick, in dem ich Sie noch nicht gesehen hatte und nur ihre Stimme durch das Telefon ... hörte, schon der entscheidende. Ich sprach von einer Telefonzelle am Innsbrucker Platz aus, weit entfernt von meiner Wohnung, ohne meinen oder irgendeinen anderen Namen zu nennen. Eine Verfolgte hatte mir Ihren Namen gesagt, und ich war dabei, die Flucht und das Versteck eines vom Tod Bedrohten vorzubereiten. Sie sprachen damals so, wie Sie immer sprechen, leise, wenig Worte, aber eben das Entscheidende, und das war in diesem Augenblick, dass ich Sie aufsuchen durfte.
Alles Weitere ergab sich daraus, auch die Stunde, in der ich mit dem Flüchtling vor Ihnen stand und Sie Ihren Kleiderschrank aufmachten: Der Mann ist gerettet worden.»
Die Last der Verantwortung und der stets gegenwärtige Schatten der Furcht hinterließen ihre Spuren, auch in Poelchaus Gesicht. Ruth Andreas-Friedrich schrieb in ihr Tagebuch: «Doktor Tegel sieht ernst und angegriffen aus. Fast jeden Tag einen Menschen, den man schätzt und liebt, zum Schafott begleiten zu müssen ist mehr, als ein Einzelner ertragen kann. Dass er es trägt, dass er darüber nicht den Verstand verliert, sondern jede freie Minute benutzt, um die Frauen der Verurteilten zu betreuen, den Verbindungsdienst zwischen ihnen und den gefangenen Männern herzustellen, Untergetauchten zu helfen, Verfolgte unter seinen Schutz zu nehmen, das ist das, was uns zu diesem Mann fast wie zu einem Heiligen aufblicken lässt.» Nicht nur zu ihm, müsste hinzugefügt werden, sondern ebenso zu seiner Frau Dorothee, die seine Verantwortung, seine Geheimnisse, seinen Mut mit solch erstaunlicher Energie zu teilen vermochte, überdies noch sehr viel unmittelbarer als ihr Mann von der Sorge um den kleinen Harald heimgesucht, dessen Asthma- Anfälle für ihn selber und für seine Eltern eine bittere Qual waren.

Quelle: Klaus Harpprecht
Harald Poelchau - Ein Leben im Widerstand
ISBN: 3 498 02969 X
Rowohlt Verlag GmbH Berlin, März 2004, 19,90 Euro

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