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Mauerfall
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Buchauszug
Man hat mich oft gefragt, wann ich, der Bürgermeister, erfahren hätte, daß die Mauer gebaut werden würde. Und was ich dagegen unternommen hätte. Die Antwort lautet: Ich habe befürchtet, daß der Zugang aus der DDR nach Ostberlin erschwert und die Übergänge von dort nach West-Berlin weitgehend gesperrt würden. Die Tendenz einer solchen Entwicklung war abzuschätzen, nicht Zeit und Form des Geschehens. Sonst wäre ich nicht am Samstag, dem 12. August, noch in Nürnberg gewesen, um mit einer großen Kundgebung den Bundestagswahlkampf zu eröffnen.
Auf dem Weg nach Nürnberg hatte ich am Freitag in Bonn Station gemacht und in einer ernsten Unterredung mit dem Außenminister ein letztes Mal - vergeblich - eine Ausweitung der Thematik auf Gesamtberlin angeregt. Auf dem Nürnberger Marktplatz versuchte ich die Zuspitzung der Lage zu erklären: Die Furcht der Landsleute in der Zone, sie würden abgeschnitten, allein gelassen und eingesperrt, habe die Flüchtlingsziffern so dramatisch hochschnellen lassen. Daß Sowjets und deutsche Kommunisten alles daransetzen würden, die Massenflucht nach dem Westen zu unterbinden, konnte nicht überraschen. Daß man Ostberlin einmauern, die durch die Stadt verlaufende Trennungslinie versteinern würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Vergessen oder verdrängt war ein Plan aus dem Jahr 1959; damals ging die Kunde, der Ostberliner Bürgermeister Ebert, ein Sohn des ersten Reichspräsidenten, habe für eine »chinesische Mauer« plädiert, sei aber am sowjetischen Veto gescheitert. Das Projekt, von dem man sagte, es sei unter maßgeblicher Federführung Erich Honeckers zustande gekommen, verschwand in ebenjener Schublade, aus der es 1961 wieder hervorgeholt wurde.
Meine Befürchtungen behielt ich nicht für mich. Ich war bemüht, sie den Alliierten und der Bundesregierung, behutsam auch der Öffentlichkeit nahezubringen. Zum Bundesaußenminister Heinrich von Brentano sprach ich an jenem 11. August, an dem in der Volkskammer Maßnahmen gegen »Menschenhändler, Abwerber und Saboteure« angekündigt wurden, eindringlich von der Gefahr rigoroser Absperrungen: Vermutlich würden die DDR-Behörden - aus purem Selbsterhaltungstrieb - die vorgesetzten sowjetischen Stellen bedrängen, daß sie drastische Maßnahmen absegneten. Zu diesem Zeitpunkt hatte, was ich nicht ahnte, die Sowjetunion Ulbricht längst grünes Licht zur völligen Abschirmung gegeben; dies war von der Sowjetunion und den anderen Ländern des Warschauer Paktes auf einer Ostblock-Konferenz - 3. bis 5. August in Moskau - signalisiert worden.
Später erst erfuhr ich, was vorausgegangen war: Mitte März 1961 forderte Ulbricht vor dem ZK-Plenum seiner Partei strengste Maßnahmen und teilte mit, daß er sich direkt an den Kreml-Chef wenden werde. Was ich wußte: Am 17. Februar hatte der sowjetische Botschafter in Bonn dem Bundeskanzler zwei Schriftstücke übergeben, die West-Berlin und den angedrohten Friedensvertrag betrafen. Wenn der Vertrag mit der DDR nicht hingenommen und das Besatzungsregime in West-Berlin nicht liquidiert werde, müsse man »mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen« rechnen. Die Amerikaner werteten diese Drohung durchaus richtig; seit dem Ultimatum von 1958 war das Feuer der Berlin-Krise nie richtig erloschen; es hatte - 1959/60 - vor sich hin geflackert und war nun neu entflammt worden.
Ende März tagte der Politische Beraterausschuß des Warschauer Pakts, dem Ulbricht darlegte, warum verstärkte Grenzkontrollen und Stacheldrahtsperren nicht ausreichten, sondern Betonmauer und Palisaden nunmehr notwendig seien. Keiner war richtig dafür, keiner richtig dagegen, Chruschtschow hielt sich zurück. Immerhin fühlte sich der SED-Chef daraufhin so sicher, daß er nach seiner Rückkehr Erich Honecker, verantwortlich für nationale Sicherheit, beauftragte, für Material und Arbeitskräfte zu sorgen - bei Geheimhaltung und allergrößter Vorsicht. Am 15. Juni tönte Ulbricht auf einer Pressekonferenz: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.«
Es wurde mir -Jahre später - zugetragen, daß Chruschtschow auf jener Konferenz nur Stacheldrahtsperren erlaubt habe und eine Mauer erst gebaut werden sollte, wenn die westlichen Reaktionen getestet wären. Tatsächlich wurde mit dem Bau einer Mauer im engeren Sinn erst am 16. August begonnen; am 13. handelte es sich noch um einen mit Betonpfeilern abgestützten Stacheldrahtverhau, der den Ostsektor von West-Berlin abriegelte.
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