1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Mauerfall
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Buchauszug
Ich bat die Mitbürger und Landsleute, den Prozeß der Veränderungen gut zu verstehen und sich richtig in ihn einzuordnen: »Ich weiß, daß unsere Nachbarn im europäischen Osten verstehen, was uns bewegt, und daß es sich einfügt in das neue Denken und Handeln, welches die Zentral- und Osteuropäer selbst in Anspruch nimmt. Die Sicherheit, die wir unseren Nachbarn und auch den großen Mächten dieser Welt bieten können, ist die, daß wir keine Lösung unserer Probleme anstreben, die sich nicht einfügt in unsere Pflichten gegenüber dem Frieden und gegenüber Europa.« Uns leite die Überzeugung, daß die Europäische Gemeinschaft weiterentwickelt und die Zerstückelung unseres Kontinents schrittweise, aber definitiv überwunden werden müsse.
Zum übergeordneten Thema wurde — viel mehr, als es einer durchgängigen Vermutung entsprochen hätte - das Zusammenwachsen der Teile Europas. Die neu bekundete Zusammengehörigkeit der Deutschen, im besonderen Maße geprägt durch das neugewonnene Selbstbewußtsein im östlichen Teil, wurde zu einem ebenso schönen wie wichtigen Unterkapitel. Die »Winde der Veränderung« hatten gewiß nicht nur mit einem Klimawechsel in den Ländern zwischen Deutschland und Rußland zu tun, sondern auch mit veränderten Daten und Stimmungslagen innerhalb der östlichen Großmacht. Doch warum hätte ich mich dafür entschuldigen sollen, daß der Wechsel im geteilten Deutschland mich in Atem hielt - über alle Erwägungen des Verstandes hinweg.
Die Lage hatte sich grundlegend dadurch verändert, daß die Deutschen in der DDR ihr Geschick in die eigenen Hände nahmen. »Das Volk selbst« erhob seine Stimme, daß sich die Dunstglocke von Gängelei und Entbehrung endlich hebe. Es forderte nicht zuletzt das Recht auf wahrhaftige Information, freie Bewegung und freien Zusammenschluß, auch auf angemessenen wirtschaftlichen Nutzen. Es leuchtete ein, daß die Volksbewegung in freie Wahlen münden werde. Freie Wahlen, die diesen Namen auch verdienen. Und - bei allem Verständnis für jene, die sich zum Übersiedeln entschlossen hatten - meinte ich auch, daß es lohnend sei und Ermutigung verdiene, das Werk der Erneuerung an Ort und Stelle voranbringen zu helfen.
Meine abschließenden Sätze auf dem Kennedy-Platz am 10. November '89 lauteten: »Nichts wird wieder so, wie es einmal war. Dazu gehört, daß auch wir im Westen nicht an mehr oder weniger schönen Parolen von gestern gemessen werden, sondern an dem, was wir heute und morgen zu tun, zu leisten bereit und in der Lage sind, geistig und materiell. Ich hoffe, die Schubladen sind nicht leer, was das Geistige angeht. Ich hoffe, die Kassen geben einiges her. Und ich hoffe, die Terminkalender lassen Raum für das, was jetzt sein muß. Die Bereitschaft, nicht zu erhobenem, Zeigefinger, sondern zur Solidarität, zum Ausgleich, zum neuen Beginn, wird auf die Probe gestellt. Es gilt jetzt, neu zusammenzurücken, den Kopf klar zu behalten und so gut wie möglich das zu tun, was unseren deutschen Interessen ebenso entspricht wie unserer Pflicht gegenüber Europa.«
önnen.
In Potsdam war festgestellt worden, die deutsch-polnische Grenzziehung solle endgültig erst »in den Friedensverträgen« geregelt werden. Doch die Aussiedlung der Deutschen hatten der amerikanische Präsident und der britische Regierungschef 1945 sanktioniert, und sie hatten nicht widersprochen, als die neue Grenze festgeschrieben wurde; de Gaulle nahm den anderen übel, daß sie ihn von Potsdam ferngehalten hatten, nicht, daß sie in dieser Weise verfahren waren.
Das Heimatrecht von Millionen Deutschen wurde abgelöst durch ein solches der nach Westen umgesiedelten und der dort nachgeborenen Polen. In der ganzen Welt gab es keine Regierung, die bereit gewesen wäre, sich für deutsche Grenzansprüche zu engagieren. Es dauerte einige Zeit, bis führende Repräsentanten der westlichen Welt die Deutschen öffentlich und deutlich darauf hinwiesen, daß sie sich mit der neuen Grenzziehung abzufinden hätten. Adenauer und seine Vertrauten wußten, wie die Dinge standen. Aber da waren die vielen Stimmen der Flüchtlinge und Vertriebenen und die lauten Stimmen derer, die sich hauptberuflich um sie kümmerten. Die Sozialdemokraten entschlossen sich erst spät, gegen den Strom zu schwimmen. Mir hatte immer Ernst Reuters Wort, gesprochen in seinem Todesjahr, in den Ohren geklungen: Wir sollten den Polen entgegenkommen, man dürfe ihnen nicht noch einmal einen Staat auf Rädern zumuten. Und doch fand ich meinen Namen unter einem Text wieder, der mit »Verzicht ist Verrat« endete. Entscheidend war für mich, jenseits der Frage des Vokabulars, daß Ostpolitik »nicht hinter dem Rücken der Vertriebenen« gemacht werde. Das hieß: Sie müßten ins Vertrauen gezogen werden und selbst abwägen können, was ging und was nicht. Dazu verpflichtete auch der großartige Beitrag, den heimatvertriebene wie geflüchtete Ost- und Sudetendeutsche zum Wiederaufbau geleistet hatten. 1965 trug eine Denkschrift der Evangelischen Kirche nicht wenig dazu bei, die Diskussion zu entkrampfen; die katholischen Bischöfe in der Bundesrepublik taten sich schwerer, auf ihre polnischen Amtsbrüder zuzugehen. Immerhin, den Hauch von Wandel in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre atmete auch Bundeskanzler Kiesinger ein, als er vom Verständnis für das Verlangen des polnischen Volkes sprach, »endlich in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben«.


Quelle: Willy Brandt
Erinnerungen
ISBN: 3-548-36497-7
Ullstein Verlag, München 2002, 9,95 Euro

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