1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Die 68er-Bewegung und ihre Folgen
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Buchauszug
Die Farbe Weiß

Die mythische Aura, in die die RAF sich von Beginn an gehüllt hat, war vielleicht der entscheidende Teil ihre Wirkungsgeschichte. Schon die Namensgebung griff tief ins Arsenal der deutschen Schreckensbilder und ließ an den apokalyptischen "Blitz" der britischen Bomber wie das tellurische "Urrah" der Rotarmisten denken. Damit setzte die RAF eine mit historischen Assoziationen überfrachtete Bildermaschine in Gang, die bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist und sich der kollektiven Erinnerung dauerhaft eingeprägt hat.
Zum eisernen Bestand dieser Mythen gehört jenes System von Tarnnamen, das Gudrun Ensslin bald nach der Inhaftierung der Kerngruppe 1972 ersonnen und überwiegend aus Herman Melvilles Roman "Moby Dick" entlehnt hat. Baader firmierte darin als "Ahab", der Kapitän des Schiffs, der die Jagd auf den weißen Wahl anführte, und seine Zelle war die "Kajüte". Holger Meins hieß "Starbuck" nach dem auf Gedeih und Verderb an Ahab gefesselten Steuermann, der geschickte Jan-Carl Raspe war der Zimmermann, der junge Gerhard Müller der edle Wilde "Quiqueg", Horst Mahler der pharisäerhafte Schiffseigner "Bildad", und sie selbst firmierte als "Smutje", der "die Töpfe spiegelblank hält und gegen die Haie predigt". Ulrike Meinhof dagegen wurde "Theres" benannt, worunter man wahlweise an eine Heilige oder an eine Hure á la Genet denken konnte. In Wirklichkeit sind diese Tarnnamen im regen schriftlichen Verkehr der Kassiber und Zirkulare kaum je benutzt worden, zumal sie gleich aufflogen, mit Ausnahme der Bezeichnung Baader als "Ahab" und Meinhofs als "Theres", die sich länger hielten.

Die Weiße des Schreckens

Tatsächlich verriet diese literarische Metaphorik viel über das Projekt der "RAF" und über seine Autorin, als die man Gudrun Ensslin durchaus sehen kann. Alles war zugeschnitten auf die Person des "Ahab", dem sie in einem Brief an Ulrike alias "Theres" mit den großartigen Worten Melvilles huldigte: "Und sollte von Geburt an oder durch besondere Umstände hervorgerufen tief auf dem Grunde seiner Natur etwas Krankhaftes sein eigensinnig grillenhaftes Wesen treiben, so tut das seinem dramatischen Charakter nicht den geringsten Eintrag. Alle tragische Größe beruht auf einem Bruch in der gesunden Natur, des kannst du gewiß sein...".
Sie jedenfalls hatte (wie Ismael, der Ich-Erzähler des Romans) ihr Schicksal völlig an das dieses düsteren Mannes und seiner von mörderischer Rachsucht gepeitschten Jagd auf den weißen Leviathan gebunden; und wenn die Mannschaft den tieferen Zweck und das absehbare Ende nicht wirklich kannte, so tat das der Größe des Unternehmens "nicht den geringsten Eintrag". Denn, wie sie in einem ihrer Briefe aus der Brandstifterhaft als revolutionäres Credo formuliert hatte: "was dem europ. Kampf um den Sozialismus seit 100 J. fehlt, ist doch das wahnsinnige Element ...". Der Kampf der Roten Armee Fraktion war somit, wie der Ahabs, ein Akt jenes existenziellen Heroismus, der sich nach Nietzsche als "der gute Wille zum Selbstuntergang" bestimmte.
Melvilles Welt ist noch die seiner calvinistischen Vorfahren, eine untergehende Welt freier Menschen, die sich selbst ihr Gesetz geben, jenseits der heraufziehenden industriellen Zivilisation und der Herrschaft des Geldes. Der weiße Wal, den Ahab auf Leben und Tod jagt und der ihn und das Schiff mit Mann und Maus schließlich in die Tiefe reisen wird, ist das größte lebende Säugetier und gilt von alters her als Inbild des mythischen "Leviathan", der von Thomas Hobbes als Symbol des neuzeitlichen Zentralstaates verwendet wurde, "der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch"; moderner gesprochen: die Verkörperung des Gemeinwesens selbst, das sich alle Individuen, Gruppen, Korporationen mit Gewalt unterordnet. Das war eine unter den vielen Referenzen, die Melville seinem Roman voranstellte. Die italienischen Linken bezeichneten die Democrazia Cristiana, die den Senat als Erbhof gepachtet zu haben schien, als den "weißen Wal". Auch das mochte bei Gudrun Ensslin im Hinterkopf mitspielen.
Aber sie mag sich auch an das berühmte Kapitel Melvilles über "Die Weiße des Wals" erinnert haben, worin es heißt: "Aber noch immer habe ich das Geheimnis dieser Weiße nicht gelöst und noch nicht in Erfahrung gebracht, wie es kommt, dass sie die Seele mit solcher Gewalt in Verwirrung bringt, und dass sie, was noch seltsamer und bedrohlicher ist ... zwar das häufigste Sinnbild geistiger Dinge, ja in der Tat der wirkliche Schleier der Gottheit der Christenheit ist und trotzdem alles steigert, was die Menschheit am meisten in Schrecken versetzt. - Ist es ihre Wesenlosigkeit, die an die herzlose Leere und Unermeßlichkeit des Universums erinnert und uns hinterrücks mit dem Gedanken an die Vernichtung überfällt ...? Oder liegt es daran, dass das Weiß in seinem Wesen nicht so sehr eine Farbe als der sichtbare Mangel an Farbe und gleichzeitig doch die Summe aller Farben ist? ... (Wenn) wir das alles in Betracht ziehen, dann liegt die Welt gelähmt und wie vom Aussatz befallen vor uns."

Quelle: Gerd Koenen
Vesper/Ensslin/Baader - Urszenen des deutschen Terrorismus
ISBN: 3-462-03313-1
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003

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