1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Die 68er-Bewegung und ihre Folgen
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Buchauszug
Danach erlebte die Bundesrepublik die bis dahin schwersten Straßenschlachten ihrer Geschichte. Nach Angaben von Bundesinnenminister Ernst Benda fanden allein in den fünf Tagen von Gründonnerstag bis Ostermontag in 27 Städten Demonstrationen statt, die in etwa einem Fünftel der Fälle mit Ausschreitungen, Gewaltakten und «schwerwiegenden Rechtsverletzungen» verbunden gewesen seien. Die «Aktionen mit Gewaltanwendung», so Benda, hätten sich im Wesentlichen gegen «Einrichtungen des Verlagshauses Springer» gerichtet. Bei den Demonstrationen seien jeweils zwischen 5 000 und 18 000 Personen beteiligt gewesen. An Demonstrationen mit Ausschreitungen hätten sich jeweils 4 000 bis 11000 Personen beteiligt. Gegen 827 Beschuldigte, zumeist Studenten, aber auch Schüler, Angestellte und Arbeiter, wurden polizeiliche Ermittlungsverfahren eingeleitet. Bei den Unruhen in München kamen wiederum zwei Menschen ums Leben.
Die erhebliche Radikalisierung der Proteste, die sich in diesen Zahlen widerspiegelt, zielte vor allem gegen die Springer-Presse und die Große Koalition. Aber auch Vorlesungsstörungen missliebiger Professoren, die mehr und mehr zur Zielscheibe radikaler Kritik wurden, waren nun an der Tagesordnung. Von Seiten der studentischen Linken wurde das Attentat auf Dutschke nicht als Tat eines verwirrten Einzelgängers, sondern als Ergebnis manipulativer Beeinflussung vor allem durch die Berichterstattung in den Medien des Springer-Konzerns gesehen. Dutschke sei, so hieß es vielfach, nach dem 2. Juni 1967 durch die Bild-Zeitung und andere Boulevardblätter zum «Volksfeind Nr. 1» gestempelt worden, so dass es «nur geringer Anstöße durch die staatlichen Autoritäten» bedurft hätte, «die produzierte Volkswut gegen Einzelne sich entladen zu lassen». Der «Bild-Leser Josef Bachmann» habe sich deshalb als Vollstrecker eines Volkswillens gesehen, weil er mit Recht habe hoffen können, «dass ihn die Ermordung des verhassten Kommunisten Dutschke beliebt und hoffähig machen würde». Auch von Seiten des SDS wurde Gewaltanwendung nun offen legitimiert, wobei kaum noch - wie in der Anfangsphase der Protestbewegung - zwischen «Gewalt gegen Sachen» und «Gewalt gegen Personen» unterschieden wurde.
In der Rückschau ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass blinder Aktionismus wenig Raum für eine nüchterne Analyse ließ. Die «revolutionäre Bewegung», die sich nicht nur von der angeblich manipulierten Bevölkerung missverstanden fühlte, sondern in ihrem Drang zur revolutionären Tat auch selbst immer mehr die Fähigkeit zu reflektierender Betrachtung verlor, verfing sich nun gänzlich in den selbst gelegten Schlingen einer Veränderungserwartung, für die es weder eine gesellschaftliche Grundlage noch eine politische oder ökonomische Notwendigkeit gab. Die Bundesrepublik von 1968 war - trotz Großer Koalition, Verabschiedung der Notstandsgesetze und genereller Unterstützung für die Außenpolitik der USA - weder mit dem Russland von 1917 noch mit dem Deutschen Reich nach 1933 vergleichbar. Richard Löwenthal hatte daher sicher Recht, wenn er der studentischen Protestbewegung in dieser Phase die Fähigkeit zu rationaler Analyse, Toleranz und Selbstkritik bestritt. Tatsächlich fand er damit viel Unterstützung bei nachdenklichen Kollegen, die entweder zu besonnenen Reformen aufriefen oder - wie Jürgen Habermas, der sich selbst zur «Neuen Linken» zählte - sogar umgekehrt den Vorwurf eines «linken Faschismus» erhoben.
Die Irrealität der Bewegung zeigte sich nicht zuletzt am Beispiel des Kampfes gegen die Notstandsgesetze. Abgesehen von der instrumentellen Nützlichkeit dieser Kampagne zur Verbreiterung der Massenbasis, war die politische Argumentation in dieser Frage kaum nachvollziehbar. Weder bedeuteten die Notstandsgesetze das Ende der Demokratie in der Bundesrepublik, noch war ihr Missbrauch von der Großen Koalition, die sie verabschiedete, in irgendeiner Form beabsichtigt. Dennoch wurden gerade die Notstandsgesetze zum innenpolitischen Kristallisationspunkt des Protestes, der auch den Vorwürfen gegen Bundeskanzler Kiesinger wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit neue Nahrung gab. Der Verdacht keimte auf, dass der Kanzler, der bereits 1933 der NSDAP beigetreten war, die Gelegenheit nutzen könne, die Demokratie zu beseitigen. Günter Grass hatte deshalb vorausschauend bereits am Tage vor der Wahl Kiesingers zum Regierungschef am 30. November 1966 in einem offenen Brief «noch einmal, in letzter Minute, empörten Einspruch» erhoben. Das Amt des Bundeskanzlers dürfe «niemals von einem Mann wahrgenommen werden..., der schon einmal wider alle Vernunft handelte und dem Verbrechen diente». Doch Kiesinger war mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD zum Bundeskanzler gewählt worden, und die Große Koalition hatte mit ihrer - in der Sache durchaus erfolgreichen - Arbeit begonnen. Bei den Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetze schienen sich nun jedoch die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.
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