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Die 68er-Bewegung und ihre Folgen
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Buchauszug
Dann kam der Morgen des 2. Juni, als vorm Rathaus Schöneberg der Schah empfangen wurde. Als mein Vater unruhig wurde, sagte meine Mutter: "Geh zum Rathaus Schöneberg. Du hältst es hier sowieso nicht aus. Aber zieh die alte Hose an!" Meine Geschwister waren woanders im Einsatz. Er stand da und um ihn herum lauter demonstrierende Studenten. An den Hamburger Reitern waren die "Jubelperser" mit ihren Dachlatten und schlugen auf die Demonstranten ein. Es ging hin und her, bis schließlich mein Vater, als aufrechter Demokrat und Christ, sagte: "Passen sie mal auf! Sie sind hier in Deutschland, und diese Studenten haben das Recht zu demonstrieren. Nu` packen sie mal ihre Latten weg." Da haben die "Jubelperser" voll auf meinen Vater draufgehauen.
Dieses Bild, wie ein grauhaariger Herr unter der Latte regelrecht zu Boden geht, ist immer in diesen Filmen über den 2. Juni zu sehen. Zum Glück ist ihm äußerlich nichts passiert, aber innerlich! Dieser Schlag auf den Kopf, dieses undemokratische Verhalten und das "unsere deutsche Polizei" nicht gegen diese "Jubelperser" vorgegangen ist, hat ihn zutiefst erschüttert. Als er wieder nach Hause kam, hat er sofort die goldene Ehrennadel der CDU zurückgeschickt.
Als ich damals in Tübingen vom Tod Benno Ohnesorgs erfuhr, war ich geschockt und entsetzt. Das hat mich mehr aufgeregt als Vietnam. Danach haben wir den Berliner Bürgermeister Heinrich Albertz sehr verachtet, wegen der Art und Weise, wie er darauf reagierte. Das hat sich Jahre später aber völlig geändert, und Albertz wurde eines meiner Vorbilder.
Weihnachten 1967 hörte ich von meiner Schwester Bärbel, dass in der Berliner Gedächtniskirche eine Aktion mit Rudi Dutschke geplant war. Was sie dort vorhatten, fand ich hochgradig spannend, und gleichzeitig hörte ich, dass das ZDF zu Weihnachten den Tübinger Gottesdienst übertragen würde, während die ARD in Berlin zugange war. Also habe ich zu meinen Tübinger Genossen gesagt: "Leute, daraus müssen wir was machen!"
Alle fanden die Idee großartig. Dann ging ich zum Küster und sagte "ich habe Großfamilie, und wir möchten gerne oben auf der Empore in der ersten Reihe sitzen." Da meinte der: "Wenn die rechtzeitig da sind, kriegen sie sicher noch einen Platz." Also habe ich zu den Genossen gesagt: "Wir malen Transparente unter dem Motto: "Nur beten ist Mord". Die werden eingerollt und unter dem Wintermantel versteckt. Um halb vier gehen wir generalstabsmäßig oben an die beiden Brüstungen, und sobald die vorletzte Zeile der vierten Strophe kommt, von "Vom Himmel hoch", entrollen wir die Transparente. Denn da laufen die Fernsehkameras." Ich fand das unheimlich aufregend. In unserer kleinen Wohnung hingen die ganzen Wände voll mit Transparenten. Ich hatte damals eine Handnähmaschine und habe auch noch eine Vietcong-Fahne genäht. Denn die Genossen wussten ja nicht, wo wir wohnen. Also habe ich ihnen gesagt: "Da, wo am Heiligen Abend in der Köllestrasse eine Vietcong-Fahne aus dem Fenster hängt, müsst ihr hingehen".
Es kamen sogar einige ganz wichtige Genossen aus der Frankfurter SDS-Zentrale, die davon gehört hatten, aber im Grunde nicht recht glauben wollten, dass das gut geht. Der Vater des einen saß im Bundestag, und er war recht ängstlich. Also habe ich gesagt: "Wenn du Angst hast, gehst du vor der Kirche mit Philipp spazieren." Plötzlich wollten andere auch lieber draußen Flugblätter verteilen.
Wir haben unsere Aktion dann wie abgesprochen durchgezogen, und alles wäre wunderbar gewesen, wenn nicht ein paar von diesen bekloppten Christen, die sich gestört fühlten, auf uns losgegangen wären. Wir hatten die Transparente an Holzstäben festgemacht. Doch in diesem Gedränge fielen sie hinunter und den anderen, unten sitzenden Christen auf den Kopf.
Es ist den Leuten weiter gar nichts passiert, aber das Dumme war, dass das ZDF unsere Aktion bei der Übertragung einfach weggelassen hat. Von der Berliner Aktion in der Gedächtniskirche gibt es Fernsehaufnahmen, von unserer Aktion nicht. Als wir jedoch aus der Kirche herauskamen, hatten wir es mit furchtbar wütenden Menschen zu tun. Wir brachten Philipp ins Bett und fanden es insgesamt doch eine ziemlich gelungene Aktion.
Eine Woche später stand morgens um elf ein Bulle vor meiner Tür und meinte, er müsse jetzt mal reinkommen, denn er habe gehört, ich sei die Rädelsführerin dieser ganzen Aktion gewesen. Dann wurde ich sogar vorgeladen. Aber ich habe das Ding genossen, und zum Schluss wurde alles eingestellt. Wir habe sogar anschließend mit den Pfarrern diskutiert. Jedenfalls war das meine erste eigenständige politische Aktion, und die Anregung dazu kam durch diesen guten Berlin-Tübingen-Kontakt.
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