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Stalingrad
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Russischer Winter
20 fehlende Meter zur Freiheit

Ein langer Rückzug lag hinter ihnen. Überall nur "Auflösungserscheinungen", d.h. die meisten wollten nicht mehr so richtig für die "Sache des Führers" kämpfen. Auch Heinrich Kappelmann zählte zu ihnen. Zusammen mit seinen Kameraden befand er sich in Iserlohn. Auch die Offiziere dieser Einheit machten sich nichts mehr vor. Es hieß, dass man sich ergeben wolle. Kappelmann wollte das nicht und beschloss, sich nach Hause durchzuschlagen. Von Iserlohn bis Scheidigen bei Werl war es ja nicht weit. Er schnappte sich ein Motorrad, nahm einige Handgranaten, zusätzlich eine Pistole im Koppel und machte sich auf den Weg.
Zuerst ging alles gut, aber nach zehn Kilometern kam eine deutsche Straßensperre. Er sah die gefürchteten "Kettenhunde" und hatte gar kein gutes Gefühl. Auf die Frage wohin er wolle, erklärte Kappelmann sein Vorhaben und das sich seine Einheit ergeben habe. Die "Kettenhunde" entschlossen sich, ihn "nicht zu beißen" und ließen ihn durch. Sein Motorrad brachte ihn immer näher nach Hause. Nur noch fünf Kilometer, und er hatte sein Ziel erreicht.
Doch plötzlich ein weiteres Hindernis. Der Motorradfahrer sah sich mit einer amerikanischen Sperre konfrontiert. Sowohl er, als auch die Amerikaner waren sehr von der Situation überrascht. Kurzerhand sprang er von der fahrenden Maschine ab und schlug sich in die Büsche. Er kannte diese Gegend gut und konnte sich durch diesen "Heimvorteil" sicher bewegen. Das bewahrte ihn vor einer Festnahme.
Über Felder und Zäune gelangte der Flüchtige bis in unmittelbare Nähe seines Zuhauses. Aber auch dort standen amerikanische Posten vor dem Haus. Sie unterhielten sich und rauchten eine Zigarette. Kappelmann wollte unbemerkt ins Haus schleichen, aber wie sollte er das machen? Er fand eine Bohnenstange und hatte eine Idee. Nach einigen Augenblicken richtete er die Stange auf und klopfte damit an das Fenster. Darauf kam seine Mutter und rief: "Is da einer?" Das erregte auch die Aufmerksamkeit der Posten, so dass sich der im Verborgenen wartende Sohn nicht zeigen konnte.
Nach einer Dauer von zehn Minuten machte er den zweiten Anlauf. Dieses mal kam sein Vater ans Fenster. Er sagte aber nichts und schaute nur raus. Endlich konnte sich Kappelmann zeigen, und nach einem Zeichen gelangte er unbemerkt ins Haus.
Nun folgten schwierige Augenblicke und Tage. Der Soldat war nicht legal da und deutsches Militär wurde gesucht. Wer sich versteckte, riskierte standrechtlich erschossen zu werden. Und bei Kappelmanns war eine fremde Frau mit einem Kind zu Gast. Würde sie den Amerikaner etwas von seiner Anwesenheit erzählen? Dies erfüllte die Eltern, aber auch den Geflohenen mit Ungewissheit und Sorge.
Nach drei Tagen beschloss Heinrich Kappelmann, in Zivil zum Bürgermeister zu gehen. Als er dort vorsprach, war dieser überrascht und erfreut zugleich den Jungen zu sehen. Aber er fand die Situation ziemlich prekär. Er hatte eine Meldepflicht und würde in "Deufelsküche" kommen, wenn er schwieg. So beratschlagten die beiden die Situation, und nach dem Gespräch ging der Bürgermeister zu einem amerikanischen Offizier. Dieser hörte sich alles geduldig an und schickte den ehemaligen Soldaten zu einer US-Meldestelle. Dort schien alles gut zu gehen und es hieß, er könne nach Hause gehen.
Kappelmann freute sich und glaubte es geschafft zu haben. Doch der Schock kam etwas später. Als er nur noch 20 Meter vom Elternhaus entfernt war, wurde er festgenommen und als Gefangener abgeführt. Wieso konnte man ihn an der Meldestelle wegschicken und hier einfach festnehmen? Aber alles Hadern nutzte nichts und Widerstand war zwecklos. So waren er und seine Eltern einfach fassungslos.
Es folgte über ein Jahr Gefangenschaft mit Stationen in Belgien und Frankreich mit vielen Höhen und Tiefen. Dass er überlebte, verdankte er einem amerikanischen Captain, der ihn regelrecht vor dem Verhungern rettete.
So gesehen machte aus Sicht von Heinrich Kappelmann ein Landsmann derjenigen alles wieder gut, die ihn 20 Meter vor seiner Freiheit in eine ungewisse Zukunft einfach "umgeleitet" hatten.

Aus: Jürgen Klosa, "Eine Generation verabschiedet sich", Übach-Palenberg, 2004.
ISBN: 3-00-014237-1

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