Druckversion
www.deutschegeschichten.de/popup/objekt.asp?OzIID=5671&ObjKatID=106&ThemaKatID=1006

1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Mauerfall
 

40. Jahrestag der DDR
In dieser Situation kam das festliche Ereignis des 40. Jahrestages der DDR am 6. Oktober 1989 durchaus ungelegen. Die öffentlichen Demonstrationen und Aktivitäten der Oppositionsgruppen erreichten am Vorabend dieses Tages einen neuen Höhepunkt. Besonders Dresden, wo die Durchfahrt eines Zuges mit DDR-Flüchtlingen aus der Bonner Botschaft in Prag am 4. Oktober Unruhen ausgelöst hatte, die immer noch andauerten, war Schauplatz schwerer Auseinandersetzungen. Die Proteste, die zunächst auf Berlin, Leipzig und Dresden konzentriert gewesen waren, breiteten sich rasch aus. Aus Magdeburg wurde am 5. Oktober eine Aktion mit 800 Demonstranten gemeldet, von denen nicht weniger als 250 durch Polizei und Staatssicherheitsdienst verhaftet wurden. Aber auch aus vielen anderen Orten der DDR trafen Berichte über Demonstrationen und Protestaktionen ein, die nun schon kaum noch beherrschbar schienen.
Währenddessen bereitete Erich Honecker sich in Ostberlin darauf vor, mehr als 4000 geladene Gäste aus der DDR und über 70 ausländische Delegationen zu empfangen, unter ihnen auch eine sowjetische Abordnung mit Michail Gorbatschow an der Spitze. Die SED-Führung hoffte, vom Glanz des mit großem internationalen Renomee ausgestatteten Generalsekretärs der KPdSU zu profitieren. Doch Gorbatschow war auch ein Hoffnungsträger für die ostdeutschen Dissidenten, die fühlten, dass nur er dem Reformprozeßin der DDR zum Erfolg verhelfen konnte.
Gorbatschows Kritik
Am ersten Tag der Feierlichkeiten, dem 6. Oktober, beschränkten sich Honecker und Gorbatschow noch auf den Austausch von Nettigkeiten, die dem festlichen Anlass angemessen waren. Auffällig war nur die Tatsache, dass Honeckers Festrede am Nachmittag im Palast der Republik jeglichen Hinweis auf die prekäre Lage im Lande vermissen ließ: kein Wort über die Flüchtlinge, kein Satz über die internen Probleme. Bei einem Fackelzug durch Ostberlin gab es am Abend allerdings bereits spontane öffentliche Ovationen für Gorbatschow. Erst am folgenden Tag wurde Gorbatschow bei einem persönlichen Gespräch mit Honecker und in einer Unterredung mit den Mitgliedern des SED-Politbüros im Schloss Niederschönhausen dann deutlicher: "Kühne Entscheidungen" seien notwendig, jede Verzögerung werde zur Niederlage führen. Wörtlich erklärte der Generalsekretär der KPdSU vor den Politbüromitgliedern: "Ich halte es für sehr wichtig, den Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chance zu vertun [...]. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort [...]. Wir sind in einer Etappe sehr wichtiger Beschlüsse. Es müssen weitreichende Beschlüsse sein, sie müssen gut durchdacht sein, damit sie reiche Früchte tragen. Unsere Erfahrungen und die Erfahrungen von Polen und Ungarn haben uns überzeugt: Wenn die Partei nicht auf das Leben reagiert, ist sie verurteilt [...]. Wir haben nur eine Wahl: entschieden voranzugehen."
Nachdem Gorbatschow mit seinem Plädoyer für politische und ökonomische Reformen geendet hatte, pries Honecker aufs neue den Erfolg des Sozialismus in der DDR. Wiederum keine Erwähnung der Flüchtlinge, kein Satz über die Krise in seinem Lande, die er gar nicht wahrzunehmen schien. Auch andere führende Politiker der DDR, wie Kurt Hager, Gerhard Schürer, Werner Krolikowski und Werner Eberlein, die danach sprachen, vermieden jede Kritik oder Selbstkritik. Schließlich ergriff Gorbatschow noch einmal das Wort, ging zunächst auf die schwierige Situation bei den Bergarbeitern im ukrainischen Donezk ein und kritisierte die eigenen Funktionäre, um dann verallgemeinernd hinzuzufügen: "Wir sehen also, wenn jemand schlecht arbeitet, die Sache nicht im Griff hat, und wir schützen ihn, dann ufern diese Probleme aus. Es gibt viele Signale für die Partei." Anschließend erhob sich der sowjetische Generalsekretär abrupt, um anzudeuten, dass man das Treffen beenden möge. Offenbar gab es nichts mehr zu sagen.
Der Tag klang aus mit einem Empfang im Palast der Republik, bei dem Krenz und Schabowski gegenüber Valentin Falin - Moskaus Botschafter in Bonn von 1971 bis 1978 und danach Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU - ihre Meinung kundtaten, dass Honeckers Äußerungen entmutigend gewesen seien und dass die sowjetischen Genossen sicher sein könnten, dass bald etwas geschehen werde.
Währenddessen hatten sich auf dem Alexanderplatz, unweit des Palastes der Republik, etwa 15000 bis 20000 Menschen versammelt, wo sie von "Agitatoren" der Partei in Diskussionen verwickelt wurden. Die Strategie der SED-Bezirksleitung erwies sich zunächst als erfolgreich: Niemand wurde geschlagen oder verhaftet. Erst als die Menge sich bereits zu zerstreuen begann, starteten einige Demonstranten am Ufer der Spree wieder mit "Gorbi, Gorbi"-Rufen und dem Slogan "Wir sind das Volk". Kurze Zeit später war die Situation völlig verändert: Einheiten der Polizei und der Staatssicherheit, die auf dem Alexanderplatz so große Zurückhaltung geübt hatten, erwarteten die auf dem Heimweg befindlichen Demonstranten in den Straßen auf dem Prenzlauer Berg. Die Gewalt, die in der Stadtmitte angesichts der dortigen internationalen Medienpräsenz vermieden worden war, wurde nun abseits des Rampenlichts der Öffentlichkeit angewandt.

Quelle: "Informationen zur politischen Bildung", Copyright
Bundeszentrale für politische Bildung
www.bpb.de