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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Opposition in der DDR
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Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Die beim Besuch Honeckers in der Bundesrepublik erneut bekräftigte Hoffnung der DDR-Spitze, dass ihr Bemühen um internationale Anerkennung letztlich auch zu einer Stabilisierung der politischen Verhältnisse in Mitteleuropa führen werde, erwies sich bald als Illusion.
Autor: Manfred Görtemaker
ISBN: 3893314563

Buchauszug
Als ungarische Soldaten am 2. Mai 1989 nahe der Ortschaft Köszeg mit dem Abbau der elektronischen Sicherungsanlagen und des Stacheldrahtverhaus an der Grenze zu Österreich begannen, war zum ersten Mal seit 1945 das Prinzip des «Eisernen Vorhangs» in Frage gestellt. Schon jetzt - nicht erst am 9. November - war die Grenze zum Westen offen. Obwohl man, wie Günter Schabowski später berichtete, im SED-Politbüro durchaus ahnte, welche Sprengkraft in dem Vorgang lag, zog man es vor, sich selbst zu beschwichtigen. «Erschrocken und hilflos» habe man beobachtet, «wie der sozialistische Block in die Brüche ging». Die Flüchtlingszahlen stiegen dramatisch an. Aus dem Rinnsal wurde ein Strom. Dennoch hielt die SED-Führung an ihrem starren Kurs fest, wie sowohl ihre Manipulation der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 als auch die demonstrative Unterstützung der chinesischen Regierung nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz in Peking am 4. Juni 1989 zeigten. Während die Wahlresultate die weiterhin bestehende Zustimmung der Bevölkerung zum SED-Regime unterstreichen sollten, war der Schulterschluss mit den repressiven Kräften in China ein Signal an innenpolitische Gegner, nicht durch unbedachten Reformeifer «chinesische Verhältnisse» heraufzubeschwören. Doch diesmal war die Bevölkerung nicht mehr einzuschüchtern. Ermutigt durch die Vorbilder in Polen, Ungarn und auch der Sowjetunion, reagierte sie mit offen geäußerter Entrüstung und Protest. Gerüchte, dass die Regierung die Wahldokumente gefälscht hatte, um die erwünschten Ergebnisse zu erhalten, machten die Runde. Oppositionsgruppen gingen daran, die Manipulationen aufzudecken. Staatssicherheitsminister Mielke wurde nach eigenen Angaben mit Berichten über «Aktivitäten feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte» bombardiert, die versuchten, über eine angebliche Fälschung der Wahlergebnisse» zu erbringen, und wies deshalb die Sicherheitsorgane an, jeden Bürger, der sich über die Inkorrektheit des Wahlverfahrens beschwere, darüber zu informieren, dass «keine Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen». In Wirklichkeit waren die Manipulationen vom 7. Mai kaum gravierender als bei früheren Wahlen in der DDR.
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Aber das innen- und außenpolitische Umfeld hatte sich verändert: Die wichtigsten Verbündeten befanden sich inzwischen auf Reformkurs, und die meisten DDR-Bürger hielten ihre Regierung nicht mehr nur für reformunwillig, sondern auch für reformunfähig. Die SED-Führung war deshalb weithin isoliert; ihr Verhalten stieß nahezu überall auf Kritik, ja Verständnislosigkeit.
Vor diesem Hintergrund fassten offenbar immer mehr DDR-Bewohner den Entschluss, ihrem Land so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Allein 120 000 von ihnen stellten im Sommer 1989 einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Im Juli und August versuchten darüber hinaus Hunderte, ihre Ausreise durch die Besetzung westlicher - vor allem westdeutscher - diplomatischer Vertretungen in Budapest, Warschau, Ost-Berlin und Prag zu erzwingen. Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin und die Botschaft in Prag mussten sogar wegen Überfüllung geschlossen werden. Etwa 600 DDR-Urlauber nutzten zudem am 19. August 1989 ein Fest der «Paneuropa-Union» bei Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze zur Flucht nach Österreich, während die ungarischen Grenzposten die Massenflucht zwar beobachteten, aber demonstrativ untätig blieben.
Der Flüchtlingsstrom aus der DDR über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik schwoll nun immer mehr an. Täglich trafen zwischen 100 und 200 Ostdeutsche in Aufnahmelagern in Bayern ein, bis die DDR-Regierung am 5. September von der ungarischen Regierung informiert wurde, dass es vom 11. September an DDR-Bürgern erlaubt sein werde, die Grenze nach Österreich legal zu überschreiten. Jetzt flohen nicht nur Hunderte, sondern Tausende täglich. Bis Ende September waren es bereits 32 500. Im SED-Politbüro beschuldigte Günter Mittag, der für den erkrankten Honecker die Amtsgeschäfte führte, die Ungarn des «Verrats am Sozialismus» und konnte doch nur resigniert den Bericht eines Abgesandten entgegennehmen, der nach Budapest geschickt worden war, um «die Dinge zu verlangsamen», und von dort mit leeren Händen zurückkehrte: Die Ungarn hatten die Kontrolle verloren und - schlimmer noch - besaßen auch nicht die Absicht, sie zurückzuerlangen. Außenminister Gyula Horn, so hieß es, sei dort jetzt die «treibende Kraft», während das ungarische Militär den «Erwartungen der DDR» zwar loyal gegenüberstehe, aber aufgrund innerer Uneinigkeit nicht mehr handlungsfähig sei. Die Bitte von DDR-Außenminister Oskar Fischer, ein Warschauer-Pakt-Treffen einzuberufen, um die Ungarn zur Räson zu bringen, wurde von Gorbatschow mit dem Hinweis abgelehnt, die Zeit, als eine Abweichung von der allgemeinen Linie durch den Druck der Mehrheit habe korrigiert werden können, sei vorüber. Die DDR stand allein. Zugleich nahmen die Proteste und Demonstrationen innerhalb der DDR zu. Seit Juni wurden am 7. jeden Monats Protestaktionen veranstaltet, um an die Manipulation der Kommunalwahl vom 7. Mai zu erinnern. Darüber hinaus begannen am 4. September in Leipzig nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche etwa 1200 Menschen mit den «Montagsdemonstrationen», auf denen Forderungen nach Reise- und Versammlungsfreiheit laut wurden. Bis zum 25. September stieg die Teilnehmerzahl auf 5 000, am 2. Oktober waren es bereits 20 000. Ermutigt durch den Erfolg dieser Aktionen bildeten sich nun auch politische Organisationen, die sich zum Teil als Parteien, zum Teil als Bürgerbewegungen begriffen. Am 26. August entstand die «Sozialdemokratische Partei in der DDR», am 9./10. September das «Neue Forum», am 12. September «Demokratie jetzt» und am 14. September der «Demokratische Aufbruch». Erstmals in ihrer Geschichte sah sich die SED damit einer organisierten innenpolitischen Opposition gegenüber, die darüber hinaus durch die Liberalisierungstendenzen in Osteuropa und die wachsende Fluchtbewegung zunehmend Auftrieb erhielt.
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In dieser Situation kam das festliche Ereignis des 40. Jahrestages der DDR am 6. Oktober 1989 durchaus ungelegen. Die öffentlichen Demonstrationen und Aktivitäten der Oppositionsgruppen erreichten am Vorabend dieses Tages einen neuen Höhepunkt. Besonders Dresden, wo die Durchfahrt eines Zuges mit DDR-Flüchtlingen aus der Bonner Botschaft in Prag am 4. Oktober Unruhen ausgelöst hatte, die immer noch andauerten, war Schauplatz schwerer Auseinandersetzungen. Während die Proteste, die zunächst auf Berlin, Leipzig und Dresden konzentriert gewesen waren, sich immer mehr ausbreiteten, erwartete die Führung in Ost-Berlin mehr als 4 000 geladene Gäste aus der DDR und über 70 ausländische Delegationen, unter ihnen eine sowjetische Abordnung mit Michail Gorbatschow an der Spitze. Man hoffte, vom Glanz des Generalsekretärs der KPdSU zu profitieren. Doch Gorbatschow war auch ein Hoffnungsträger für die ostdeutschen Dissidenten, die sich von ihm eine Ermutigung für den Reformprozess in der DDR versprachen.
Am 6. Oktober, dem ersten Tag der Feierlichkeiten, beschränkte man sich noch auf den Austausch von Höflichkeiten, die dem festlichen Anlass angemessen waren. In Honeckers Festrede am Nachmittag im Palast der Republik fand sich dabei kein Wort über die Flüchtlinge, kein Satz über die internen Probleme. Am Abend gab es allerdings bei einem Fackelzug Unter den Linden spontan öffentliche Ovationen für Gorbatschow. Doch erst am folgenden Tag wurde dieser bei einem persönlichen Gespräch mit Honecker und in einer Unterredung mit den Mitgliedern des SED-Politbüros im Schloss Niederschönhausen deutlicher: «Kühne Entscheidungen» seien notwendig, jede Verzögerung werde zur Niederlage führen: «Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.» Nachdem Gorbatschow mit seinem Plädoyer für politische und ökonomische Reformen geendet hatte, pries Honecker aufs neue den Erfolg des Sozialismus in der DDR. Wiederum kein Wort über die Krise in seinem Lande oder das Problem der Flüchtlinge.
Der Tag klang aus mit einem Empfang im Palast der Republik. Währenddessen hatten sich auf dem Alexanderplatz, nur wenige Meter entfernt, etwa 15 000 bis 20 000 Menschen versammelt, wo sie von «Agitatoren» der Partei in Diskussionen verwickelt wurden. Niemand musste verhaftet werden. Doch als die Menge sich bereits zu zerstreuen begann, starteten einige Demonstranten am Ufer der Spree wieder mit «Gorbi, Gorbi»-Rufen und dem Slogan «Wir sind das Volk». Kurze Zeit später war die Situation völlig verändert: Einheiten der Polizei und der Staatssicherheit, die sich auf dem Alexanderplatz zurückgehalten hatten, erwarteten die auf dem Heimweg befindlichen Demonstranten in den Straßen auf dem Prenzlauer Berg. Die Gewalt, die in der Stadtmitte vermieden worden war, wurde nun mit großer Härte angewandt.
Für die Führung der SED waren die Ereignisse bei den Jahrestag-Feierlichkeiten ein weiterer Rückschlag. Vor allem Honecker hatte offenbar jeglichen politischen Instinkt verloren. Zwei Tage nach dem Jubiläum, am 8. Oktober, ergriff daher Egon Krenz, der lange als «Kronprinz» Honeckers gegolten hatte, die Initiative und erörterte mit Günter Schabowski ein fünfseitiges Papier, das vom Politbüro verabschiedet und als Proklamation der Parteiführung veröffentlicht werden sollte. Es enthielt keine Sensationen, aber doch einen Anflug von Selbstkritik. Da nur der Generalsekretär das Recht hatte, Vorlagen im Politbüro zur Diskussion zu stellen, musste Honecker zustimmen, wenn der Text überhaupt zur Sprache kommen konnte. Wie nicht anders zu erwarten, lehnte er ab. Doch Krenz beharrte darauf, dass die Parteiführung nicht länger schweigen dürfe, und kam schließlich telefonisch mit Honecker überein, die Angelegenheit am folgenden Tag nochmals zu besprechen.
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Dieser Tag, der 9. Oktober, war besonders spannungsgeladen, weil bei der anstehenden Montagsdemonstration in Leipzig das Schlimmste befürchtet wurde. In den Kirchen und über den Leipziger Stadtfunk wurde deshalb ein Aufruf verlesen, der die Unterschriften vom Kapellmeister des Gewandhausorchesters, Kurt Masur, des Pfarrers Peter Zimmermann, des Kabarettisten Bernd-Lutz Lange und den drei Sekretären der SED-Bezirksleitung Leipzig trug und zu einem freien und friedlichen Dialog aufforderte. In Ost-Berlin bemühte sich derweil Krenz, die Sicherheitsorgane in Leipzig von der Zentrale aus an die Leine zu legen. Tatsächlich blieb alles ruhig. Gleichzeitig erreichte Krenz bei Honecker sein Ziel, die von ihm entworfene Proklamation im Politbüro beraten zu lassen. Aber die Reaktion Honeckers hatte ihn in seiner Überzeugung bestärkt, dass eine baldige Ablösung unvermeidlich sei.
Als der Text schließlich am 12. Oktober in leicht veränderter Form im Neuen Deutschlandveröffentlicht wurde, war das Ergebnis enttäuschend: Die erhoffte positive Resonanz blieb aus. Zu wenig war zu spät vom Politbüro geäußert worden. So war Glaubwürdigkeit nicht wiederzuerlangen. Allerdings war auch der Sturz Honeckers inzwischen kaum noch aufzuhalten. Am selben Tag, als die Proklamation des Politbüros im Neuen Deutschland erschien, wurde der Generalsekretär in einer Sitzung mit den Bezirkschefs der SED derart scharf kritisiert, wie es im Politbüro noch nie vorgekommen war. Vor allem Hans Modrow aus Dresden, der durch die Flüchtlingszüge aus Prag schwer in Bedrängnis geraten war, tat sich hervor. Krenz fühlte sich dadurch ermutigt, in der folgenden Politbürositzung am 17. Oktober den Sturz zu wagen. Gemeinsam mit Schabowski und dem FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch verabredete er am 15. Oktober, dass Honecker zu Beginn der Sitzung von Ministerpräsident Willi Stoph zum Rücktritt aufgefordert werden solle. Tisch wurde beauftragt, am Tag zuvor, dem 16. Oktober, anlässlich eines seit längerem geplanten Routinebesuchs in Moskau Gorbatschow über die geplante Aktion zu informieren.
Da die Situation in den Bezirken eindeutig zu sein schien und auch aus Moskau keine Einwände kamen, brachte Stoph am 17. Oktober die Rücktrittsforderung vor, die sich ebenfalls auf Mittag und den im ZK der SED für Agitation und Propaganda zuständigen Joachim Herrmann erstreckte. Honecker leistete kaum Widerstand. Alle Politbüromitglieder, einschließlich Günter Mittag und Erich Mielke, plädierten für seinen sofortigen Rücktritt. Bei der anschließenden Abstimmung war das Ergebnis einmütig: Honecker, Mittag und Herrmann votierten gegen sich selber. Nur Verteidigungsminister Heinz Keßler fehlte; er befand sich auf Dienstreise in Nicaragua.
Bereits am folgenden Tag wurde Egon Krenz auf Vorschlag des Politbüros vom Zentralkomitee der SED zum neuen Generalsekretär der Partei gewählt. Am Abend im Fernsehen vermittelte er das typische Negativ-Image der alten SED-Elite: dunkler Anzug, steife Haltung, monotone Rhetorik. Er stand in dem Ruf, das Muster eines orthodoxen Parteifunktionärs zu sein. Dieser Eindruck wurde jetzt bestätigt. Wer erwartet hatte, mit Honeckers Absetzung seien die Voraussetzungen für einen Neuanfang erfüllt, sah sich getäuscht. Die Reformer hatten die Chance, ihren Versuch zur Erneuerung überzeugend unter Beweis zu stellen, schon im ersten Anlauf vertan.
Tatsächlich war mit dem Sturz Honeckers keines der Probleme gelöst, die das Dilemma der DDR verursacht hatten. Zwar versprach die neue Führung unter Krenz, dass Demonstrationen künftig toleriert, neue Reisegesetze erlassen, die Berichterstattung in den Medien geändert und Ausgereiste bzw. Flüchtlinge und Demonstranten amnestiert werden sollten. Alles wurde auch binnen weniger Tage auf den Weg gebracht. Doch die Proteste gegen das SED-Regime hielten unvermindert an. Und als in der Nacht zum 1. November die Anfang Oktober von den DDR-Behörden verhängten Beschränkungen im Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei wieder aufgehoben wurden, überquerten binnen weniger Stunden mehr als 8 ooo DDR-Bürger die Grenze zur CSSR. Ehe der Tag zu Ende war, hatten erneut 1200 Ostdeutsche in der Bonner Botschaft in Prag Zuflucht gesucht, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Auch die Demonstrationsbewegung erreichte in dieser ersten Woche ihren Höhepunkt, als sich am 4. November mehr als eine halbe Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz versammelten und am 6. November ebenfalls wieder eine halbe Million in Leipzig, 60 000 in Halle, 50 000 in Karl-Marx-Stadt, 10 000 in Cottbus und 25 000 in Schwerin. Daraufhin trat am 7. November zunächst der gesamte Ministerrat (die Regierung der DDR) und am 8. November auch das Politbüro geschlossen zurück, um einer neuen Führung zu weichen, die im Wesentlichen aus Anti-Honecker-Leuten bestand.
Hans Modrow wurde nun zum neuen Ministerpräsidenten der DDR bestimmt. Anders als Krenz, der keinen Ruf als Reformer besaß, erschien Modrow als eine glaubwürdige Alternative zur alten Garde der Partei, auch wenn es übertrieben gewesen wäre, ihn als Dissidenten oder gar als Oppositionellen zu bezeichnen. Der 61-jährige Modrow war seit vier Jahrzehnten Mitglied der SED. Bereits 1967 war er in das Zentralkomitee der Partei gewählt worden und hatte von 1971 bis 1973 die Abteilung für Agitation und Propaganda geleitet, ehe Honecker ihn nach Dresden abgeschoben hatte - offenbar um ihn von mächtigeren Positionen in der Hauptstadt fernzuhalten. In Dresden hatte Modrow sich durch einen unideologischen Pragmatismus Achtung und Popularität verschafft, die noch angewachsen waren, als seine Vorgesetzten in Berlin ihm wiederholt, wenn auch ohne Erfolg, Kontrollkommissionen ins Haus schickten, um seine Organisation zu überprüfen und ihn selbst politisch unter Druck zu setzen. Nun glaubten manche, er habe das Zeug, der «Gorbatschow der DDR» zu werden.
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Im Übrigen war es ein offenes Geheimnis, dass Modrow das Vertrauen Moskaus besaß.
Ehe Modrow am 13. November von der Volkskammer offiziell zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, überschlugen sich jedoch die Ereignisse an den Grenzen. Der Massenexodus, der nach der ungarischen Grenzöffnung am 2. Mai 1989 begonnen hatte, setzte sich mit immer neuen Rekordzahlen fort. Bis zum Ende der ersten Novemberwoche hatten allein im Jahre 1989 über 225 000 DDR-Bürger ihren Weg in die Bundesrepublik gefunden. Dazu kamen noch etwa 300 000 deutschstämmige Umsiedler aus Osteuropa. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble warnte deshalb vor falscher Euphorie: Zwar werde die Bundesrepublik weiterhin alle Übersiedler aufnehmen; diese müssten jedoch damit rechnen, für längere Zeit in relativ bescheidenen Verhältnissen zu leben. Bundeskanzler Kohl bot der neuen DDR-Führung in seinem «Bericht zur Lage der Nation» am 8. November an, ihr bei der Umsetzung der Reformen zu helfen. Wenn es einen wirklichen Reformprozess gebe, werde man sogar «eine neue Dimension wirtschaftlicher Unterstützung» für die DDR erwägen. Hilfen vor Ort, so konnte man daraus entnehmen, waren ihm lieber als ein weiterer Anstieg der Übersiedlerflut in die Bundesrepublik. Allerdings sprach Kohl auch von der «nationalen Verpflichtung» seiner Regierung, das «Recht auf Selbstbestimmung für alle Deutschen» zu fordern.
Doch während Kohl im Bundestag redete, schwoll die Zahl der Flüchtlinge aus der DDR auf nicht weniger als 500 pro Stunde an. Innerhalb eines Tages, vom Morgen des 8. November bis zum Morgen des 9. November, flohen mehr als 11000 Ostdeutsche über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. Krenz und die neue SED-Führung waren sich zwar von Anfang an darüber im Klaren gewesen, dass die Frage der Reisefreiheit von größter Bedeutung sein werde, wenn die Stabilisierung des Regimes gelingen sollte. Aber mit solchen Ausmaßen hatte niemand gerechnet. Das neue Reisegesetz, das Innenminister Friedrich Dickel bereits seit dem 19. Oktober im Auftrag von Ministerpräsident Stoph vorbereitete, war deshalb längst überfällig.
Am Nachmittag des 9. November informierte Krenz das Zentralkomitee der SED - eher beiläufig, wie Sitzungsteilnehmer sich erinnerten, da das Gremium immer noch als «orthodox» galt -, dass die Regierung soeben eine Entscheidung über die neuen Reisebestimmungen getroffen habe. Gegen 18 Uhr übergab Krenz dem neuen ZK-Sekretär für Information, Günter Schabowski, der gerade auf dem Weg ins Internationale Pressezentrum am Alexanderplatz war, um die dort versammelten Journalisten über die Ergebnisse der ZK-Tagung zu unterrichten, ein zweiseitiges Papier, das die neuen Bestimmungen enthielt. Offenbar hoffte er, dass das Einlenken in dieser zentralen Frage die Lage entspannen werde.
Entsprechend groß war die Aufregung, als Schabowski um 19.07 Uhr, kurz vor Ende der Pressekonferenz, die vom Hörfunk und Fernsehen live übertragen wurde, mit bemühter Routine bekanntgab, die DDR habe ihre Grenzen geöffnet. «Bedeutet dies», fragte ein Reporter, «dass jeder DDR-Bürger jetzt frei in den Westen reisen kann?» Schabowski zitierte danach aus dem Text, dass Anträge auf Reisen ins Ausland ohne Vorbedingungen gestellt werden könnten, dass jeder DDR-Bürger ab dem kommenden Morgen um 8 Uhr ein Visum erhalten könne und dass die Behörden angewiesen seien, Pässe und Visa «schnell und unbürokratisch» auszustellen. Die Regelung trete «sofort» in Kraft.
Natürlich glaubte nun jeder, die Grenzen seien offen. Die westlichen Medien berichteten ausführlich. Im Bundestag, wo eine Plenarsitzung noch über 19 Uhr hinaus andauerte, wich der CSU-Abgeordnete Karl-Heinz Spilker vom Text seiner vorbereiteten Rede ab und gab seinen Kolleginnen und Kollegen die Nachricht weiter, die er soeben erhalten hatte. Die meisten Abgeordneten - mit Ausnahme der Grünen - erhoben sich spontan von ihren Plätzen und sangen die Nationalhymne: «Einigkeit und Recht und Freiheit». Viele Ostdeutsche und Ostberliner machten sich noch in der Nacht auf den Weg zur Grenze, um sich an Ort und Stelle einen Eindruck von der neuen Lage zu verschaffen.
Hier war die Verwirrung allerdings groß, denn die Grenzposten hatten von der angeblichen Grenzöffnung ebenfalls erst aus dem Fernsehen erfahren. Tatsächlich gab es noch keinen Beschluss, sondern nur eine Regierungsvorlage über die vorgezogene Grenzregelung, die Krenz von Innenminister Dickel während der ZK-Tagung zur Prüfung erhalten hatte. Nach der Zustimmung des Politbüros sollte sie im Umlaufverfahren von den Mitgliedern der noch amtierenden Regierung verabschiedet werden. Erst nach dieser Runde im Ministerrat, so das Verfahren, würden auch die entsprechenden Ausführungsbestimmungen erlassen. Dies brauchte jedoch Zeit, die man nun nicht mehr hatte. Die Grenzposten konnten deshalb am Abend des 9. November noch gar keine neuen Weisungen erhalten haben und mussten improvisieren. Als der Druck zu groß wurde, entschieden sie spontan, die Schlagbäume aufzumachen. Auch Krenz, der gegen 21 Uhr von Mielke telefonisch unterrichtet wurde, dass «mehrere Hundert Menschen» an der Grenze die sofortige Ausreise verlangten, plädierte dafür, sie «durchzulassen». Die Öffnung der Mauer war jetzt ohnehin nicht mehr zu vermeiden. Eigentlich war sie ja auch schon beschlossen.
Der Jubel und das Chaos, die in den folgenden Tagen herrschten, ließen eine nüchterne politische Bestandsaufnahme der Entwicklung nur schwer zu. Vor allem war unklar, ob die Verwirklichung der Reisefreiheit nur den Druck beseitigte, unter dem die DDR-Führung bisher gestanden hatte, so dass eine Stabilisierung des SED-Regimes wieder in den Bereich des Möglichen rückte, oder ob die Maueröffnung den Massenexodus noch weiter förderte und die DDR damit endgültig in den Ruin trieb. Einer derjenigen, der sich zutraute, frühzeitig ein Urteil abzugeben, war Willy Brandt, der am Abend des 10. November vor dem Rathaus Schöneberg erklärte, nun sei eine neue Beziehung zwischen den beiden deutschen Staaten entstanden -eine Beziehung in Freiheit. Damit sei die Zusammenführung der Deutschen in Ost und West auf Dauer nicht mehr aufzuhalten. «Jetzt», so Brandt, «wächst zusammen, was zusammengehört.»


Quelle:Manfred Görtemaker
Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
ISBN: 3893314563
C.H. Beck Verlag, München 2002, 24,90 Euro

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