Druckversion
www.deutschegeschichten.de/popup/objekt.asp?OzIID=6260&ObjKatID=107&ThemaKatID=1003

1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Widerstand
Seite 1 | 2 | 3 
Willi Graf - Briefe und Aufzeichnungen
Diese Briefe und Aufzeichnungen stehen neben denen von Hans und Sophie Scholl als eines der großen Zeugnisse der Weißen Rose.

"Hätte es aber im deutschen Widerstand nur sie gegeben, die Geschwister Scholl und ihre Freunde, so hätten sie alleine genügt, um etwas von der Ehre des Menschen zu retten, welcher die deutsche Sprache spricht." Golo Mann

Autor: Herausgegeben von Anneliese Knoop-Graf und Inge Jens
ISBN: 3-596-12367-4

Anneliese Knoop-Graf/Inge Jens (Hrsg.)-
"Willi Graf - Briefe und Aufzeichnungen"
Inhalt
Die Publikation der folgenden Dokumente soll die Erinnerung an den Studenten Willi Graf wachhalten, der über eine Gruppe christlich orientierter Kritiker der kompromißlerisch mit dem nationalsozialistischen Regime paktierenden Amtskirche den Weg zum aktiven Widerstand fand.
Geprägt von Romano Guardini und fasziniert von den strengen Riten eines um eine Liturgieform ringenden Freundeskreises, suchte Willi Graf ein Leben, in dem Denken und Handeln nicht getrennt, sondern auf ein gemeinsames Ziel gerichtet waren: auf die Einheit von Pflicht und Neigung, von verantwortlichem Dienst in der Gemeinschaft und souveräner Selbstbestimmung des einzelnen.
Willi Graf ging es um solidarisches Handeln in widriger Zeit, nicht um parteipolitische Opposition, schon gar nicht um Demonstration einer heroischen Märtyrerpose. Die in diesem Band erstmals versammelten Briefe und Tagebuchnotizen zeigen, wie ihm Bildung und Lektüre zunehmend zum Politikum wurden, und wie er die ethischen Impulse der Wissenschaft, der Kunst und des Glaubens als Verpflichtung zum Widerstand begriff.



Buchauszug
An Marita Herfeldt, [Rußland], 29. 6.1941

Liebe Marita,
inmitten des Trubels eines großen Vormarsches schreibe ich Dir einen Gruß während einer der karg bemessenen freien Stunden, die nur ab und zu in diesen Tagen und Wochen gegeben sind. Dein Brief vom 5. VI. erreichte mich noch in einem verhältnismäßig ruhigen Quartier. Quartier auch deshalb, weil es die letzte feste Behausung war, wo wir wohnten. Seit etwa drei Wochen liegen wir nun meistens in Zelten, fast an jedem Abend irgendwo anders in den weiten Wäldern des Ostens.

Seite 1 | 2 | 3 
Widerstand
Seite 1 | 2 | 3 
Buchauszug
Nun sind wir schon im alten Rußland, in Weißrußland also. Bedauerlich ist, daß meine Kenntnisse in der russischen Sprache nicht über das primitive Lesen hinauskommen, manchmal wäre es schon sehr praktisch. Für Dich könnte es wahrscheinlich noch viel praktischer sein. Neugierig bin ich schon auf Rußland. Bis zum letzten Tag wollte ich nicht glauben, daß wir dorthin auf diese Weise kämen. In der Frühe des vergangenen Sonntag wurde es dann doch Tatsache. Der Marsch in den Osten geht sehr rasch vorwärts, fast kann man es sich gar nicht richtig vorstellen. Du wirst ja selbst neugierig sein, wie es kommen wird.
Die Weite des östlichen Landes unterscheidet sich seit Polen und schon mit Polen fast überhaupt nicht. In dieser Gegend wohnen nur wenige Leute, bisher kamen wir selbst fast nur an kleinen Orten auf den schlechten Straßen vorbei. Von Rußland merkt man nichts,
vielleicht haben wir uns auch ganz andere Vorstellungen davon gemacht.
Der Sommer ist drückend heiß. Kaum kann ein Gewitter ein wenig Frische und Kühlung bringen. Auch die Nächte bleiben warm mit zum Glück etwas frischen Winden.
Was werden die nächsten Wochen für mich hier bringen? Sicher eine große Menge Staub und viel Sonne und Hitze. Froh bin ich, wenn wir aus den Sumpfgebieten heraus sind. Bisher gab es hier bei meinem Verein wenig durch den Krieg bedingte Arbeit. Einzigste Gefahr war und ist der Abwurf feindlicher Bomben, wie er ja auch vielleicht noch gelegentlich zu erwarten ist. Aber davon werdet auch Ihr daheim etwas zu spüren haben.
Nimm diesen Schrieb als Zeichen meines Gedenkens. Grüße alle in Bonn von mir. Ich wünsche Dir alles Gute. nurmi


An Günther Schmich, [Rußland], 24.7.1941

Lieber Günther,
aus diesem unheimlich großen, bisher unvorstellbaren Land schreibe ich Dir nach langen Wochen einen Gruß. Durch die Postsperre und die unregelmäßige Postzustellung habe ich nur ganz selten in den vergangenen Wochen Post empfangen und bin so ohne Nachricht. Ich weiß daher auch nicht, ob Du noch in Speyer sitzest oder vielleicht irgendwo untergekommen bist. Aber das wird sich ja zeigen.
Bis zur letzten Stunde wollte ich noch nicht an diesen Krieg glauben, obwohl hier im Osten doch alle Zeichen es sichtbar machten, erst beim ersten Schuß in der Frühe des 22. VI. lagen dann die Dinge klar. Es begann ein Krieg, für den ich keine Vergleiche habe, dazu eben in diesem Land, das uns doch immer ein Rätsel geblieben. Und nun sitze ich schon einige Hundert Kilometer weiter in Rußland, manche Flüsse sind überquert und vieles hat sich zugetragen. Sonne, Staub und Stechmücken wurden oft zur Qual, denn ihre Ausmaße sind schon nichts mehr für unsere Bedürfnisse.
Mancher von uns wird ebenfalls an dieser Front stehen, doch es ist schade, daß man von niemand etwas hört, weil eben die Post uns nicht erreicht. So leicht wird man auch keinem begegnen, denn die Größenordnung läßt so etwas schon nicht mehr zu. Die Tage verlaufen sehr rasch, obwohl Tag und Nacht sich vermischen und zu mancher Zeit nur wenig an Schlaf zu denken ist. Man lebt das Leben aller anderen Menschen und spürt den gleichen Pulsschlag, weil man immer mit ihnen zusammen ist. So wird es wohl noch einige Zeit weitergehen, denn ein Ende ist sicher noch nicht abzusehen, obwohl dieses ganze augenblickliche Geschehen ohne jeden Vergleich mit anderen Dingen abläuft. Arbeit für mich gibt es zuweilen, denn auch die andere Armee versteht zu kämpfen.
Ganz selten lese ich etwas, und dann sind es Hölderlin-Gedichte oder kurze Schriebe von Guardini. Dann steht unversehens wieder ein anderes Leben vor mir, das ich schon lange vermissen muß. Wann wird es wieder einmal Tatsache sein?
Ich grüße Dich herzlich und wünsche, daß Dich mein Gruß noch am Guidostiftsplatz antrifft. Dein nurmi

Seite 1 | 2 | 3 
Widerstand
Seite 1 | 2 | 3 
Buchauszug
An Marita Herfeldt, [Rußland], 10. 8.1941

Liebe Marita,
erstaunlich rasch habe ich Deinen Brief vom 29. VII. in Händen. Es ist erfreulich, daß nun die Postverbindung ohne Unterbrechung hergestellt ist, obwohl doch die räumliche Entfernung eine immer größere wird. Gerade aber der Postverkehr bedeutet hier draußen schon viel. Fast hat es garnichts Besonderes mehr auf sich, daß ich gestern am späten Nachmittag Deinen Brief las, während nur wenig von unserem Lagerplatz entfernt die Maschinengewehre knatterten und der Himmel von den Feuerscheinen brennender Dörfer und vielleicht auch Wälder grellrot beleuchtet wurde. In diesen langen Wochen seit 22. Juni mußte man sich unbemerkt an diese täglichen Erscheinungen gewöhnen, obwohl ich doch immer wieder an das Fremdartige dabei erinnert werde. Zwischen allen Soldaten und im ständigen Umgang
mit diesen Kameraden gewöhnt man sich daran, das ist einfach so. Vielleicht ist es oft gut, denn dadurch empfindet man bei der Begegnung mit allem Grauenhaften nicht soviel Abscheu wie es sonst doch ganz bestimmt wäre.
Man lebt sehr schnell hier draußen, und sehr oft vergehen auch die langen Stunden durchwachter oder auf dem Marsch verbrachter Nächte ziemlich rasch. Wenn man sich vorstellt, was in solch langer Zeit, etwa seit Anfang Juni hätte gearbeitet werden können, so muß man immer wieder den Kopf schütteln. Gerade in diesen Tagen schrieb mir nämlich ein Kamerad, der Medizinstudent ist und zu Anfang Mai von dieser Einheit zum Studium kommandiert wurde, daß er inzwischen seine Doktorarbeit angefangen und schon fertiggestellt habe, dazu aber auch noch Vorlesungen und Praktika erledigt hat und auch keineswegs die Lektüre der so lang vermißten schönen Künste versäumt hat. Aber diese Überlegungen liegen im Augenblick wohl zu sehr abseits, als daß man daran festhalten sollte. Schließlich ist es ja auch wieder so, daß die Arbeit der Stunde und des Tages diese und ähnliche Gedanken verdrängen. Sicher aber ist, daß durch diese schnell verlebte Zeit - wenigstens scheint es mir manchmal so - oft dem Schrecken ein guter Teil des Schrecklichen genommen wird, weil man oft garnicht so stark reflektiert wie es sonst wohl wäre. Was allerdings nachher, später bleibt, ist nicht geklärt. Dafür aber hat man ja auch später bessere Möglichkeiten, um sich einen Ausgleich zu verschaffen.
Es ist nun wieder nicht so, daß man ohne Nachdenken in den Tag hineinlebt. Vor allem sind es die ersten Abendstunden oder auch die wachen Stunden der Nächte, die einem viel Zeit zu Überlegungen geben. Schon abends um acht Uhr ist es hier dunkel, sodaß man auch nicht mehr lesen kann, und so nur sich und seinen Gedanken überlassen bleibt.
Nur selten mal findet sich die Gelegenheit zu einem Gespräch, denn die Wenigsten haben hier eine Bereitschaft oder das Vermögen dazu. Dann kann man also allein einen Gedanken hernehmen und in seinen Gegebenheiten und Möglichkeiten weiterführen. Es ist so, daß man aus so weiter Entfernung eine Distanz zu den Dingen bekommt, die gut und schlecht zugleich sein kann. Eigen ist solchen Überlegungen die Leichtigkeit eines Seiltänzers, der über die Klüfte hinwegsteigen kann, ohne an ihren Schwierigkeiten hängen zu bleiben oder Schaden
an ihnen zu nehmen. Die Gefahr also, zu Phantastereien zu gelangen ist groß, aber manchmal auch so wunderbar schön. In diesen Zeiten, da man ein anderes Leben führen muß, werden sicher viele tolle Pläne geboren, ob aber alle lebensfähig und zum Wachsen bestimmt sind, kann kein Mensch vorhersagen. Vielleicht aber sind diese Art Pläne auch wieder ein guter Teil Fluchtversuche vor dem täglichen Einer- und Allerlei. Es wird sich das erst zeigen nach all diesen Ereignissen.
Das Semester ist wieder zu Ende, und Du freust Dich über die ruhigen Wochen daheim. Wenn die Geschütze damals nicht so laut gedonnert hätten, müßte ich schon das feine Klingen der Gläser am Abend des Semesterendes gehört haben. Ich weiß nicht mehr, ob gerade an diesem Tag meine Gedanken bei Euch in Bonn waren. Ich danke jedenfalls für Euer Gedenken und begleite meine Gedanken mit allen guten Wünschen. Ob ich falsche Überlegungen anstelle, wird sich mir schon zeigen, wenn ich wieder in Eurem Kreise sein darf und in gleicher Weise leben kann. Jedenfalls ziehe ich keine falschen Schlüsse, das kann ich sicher behaupten.
Inzwischen wirst Du wohl meinen Brief vom 25. VII. erhalten haben. Seitdem sind schon wieder viele Tage vergangen, die besonders hier manche Veränderung brachten. Nun ist auch die russische Landschaft bewegter und dadurch bunter und abwechslungsreich. Bestimmt, an manchen Stellen ist es sogar schön. Heute, am Sonntag, liegen wir am Rande eines herrlichen Kiefernwaldes, die Erde duftet nach geschnittenem Heu und Korn, die Sonne wärmt wieder ordentlich die schon leicht durchgefrorenen Knochen der letzten kühlen Tage und Nächte.
Schreibe mir doch bitte rasch, wo Hein jetzt steckt, d. h. während der Ferien. Daheim ist er doch bestimmt nicht. Was tut sich sonst in Bonn?
Eigentlich kann ich Dir auch sagen, daß es mir wohlgeht. Es ist nicht so schlimm, wie Du es vielleicht meinst. Trotzdem aber macht sich meine Mutter die größten Sorgen, kein Wort der Aufklärung und Beruhigung hilft da noch. Nimm meine herzlichen Grüße und Wünsche entgegen von nurmi.

Quelle: Hrsg. von Anneliese Knoop-Graf und Inge Jens
Willi Graf - Briefe und Aufzeichnungen
ISBN: 3-596-12367-4
S. Fischer Verlag GmbH

Seite 1 | 2 | 3