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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Stalingrad
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Heinrich Kappelmann
geb. 1922

Russischer Winter
Soldat (Heer) von April 1940 bis April 1945 als Kraftfahrer.

Stationen u.a.: Dortmund, Recklinghausen, Büderich/Werl, Münster, Paderborn, Russland (Kursk, Orel, Kaukasus, Elista), Frankreich (Normandie, St. Lo, Caen), Niederlande (Arnheim), Belgien (Rundstedt-Offensive).

Gefangenschaft (amerikanische) von Mai 1945 bis Mai 1946 in Belgien und Frankreich (Le Havre).


Brutaler russischer Winter

Es war Nacht und eiskalt. Der Winter des Jahres 1941 hatte Russland überzogen. Ein furchtbarer Winter, wie sich noch herausstellen sollte. Die Deutschen hatten im Juni 1941 die Russen in einem Blitzkrieg bezwingen wollen. Aber es ging nicht so schnell wie man ihnen propagandistisch vorgemacht hatte. Nun waren sie als Eindringlinge mit extremer Kälte konfrontiert. Auch der Infanterist Heinrich Kappelmann harrte in dieser Nacht aus. Er lag in der Gegend von Kursk und Orel. Zwei Namen, die vielen noch Jahre später Schauer über den Rücken jagen sollten.
Seine Stellung befand sich in der Nähe einer Art Schlucht. Eine Geländeformation, die nur einen Ein- und Ausgang hatte. Von dort kam schon seit mehreren Nächten regelmäßig Störfeuer der Russen. Kappelmann konnte nur 15 bis 20 Minuten draußen bleiben, dann flüchtete er in eines der nahegelegenen Häuser. Erst nachdem die Stiefel am Feuer aufgewärmt waren, konnte er sie ausziehen. Gerade die Füße waren bei dieser brutalen Kälte eine Schwachstelle. Wie viele Zehen bei den anderen Männern allein dem Frost schon zum Opfer gefallen waren, darüber mochte er gar nicht nachdenken.

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Russischer Winter
Am Tag konnte seine Einheit das Gelände der Russen gut einsehen. Das wurde auch genutzt, um diesen Bereich mit Sperrfeuer zu belegen. Sinn und Zweck war es, dem Gegner die Basis für die nächtlichen Feuerüberfälle zu entziehen.
Aber das ganze schien wie ein Rätsel. Man sah am Tag niemanden und konnte sich nicht erklären, wo die Russen nachts herkamen. Auch als die Deutschen in einer Nacht nach dem Störfeuer in dieses Gelände eindrangen, konnten sie die Russen nicht finden. Hatten sie sich so gut getarnt oder auf unbekannten Wegen die Schlucht verlassen? Für Kappelmann und seine Kameraden blieb das ein Rätsel.
Das Schlimmste aber war und blieb die Kälte. Den Russen schien sie nichts auszumachen. Wenn die Deutschen draußen an einer Flasche tranken, blieb sie nach kurzer Zeit an den Lippen kleben. Es machte ihnen zu schaffen, dass sie keine geeignete Winterkleidung hatten.

Deutsche Soldaten unterwegs bei Gschatsk. Deutsche Soldaten unterwegs bei Gschatsk.

Bei Mossaisk (Nähe Moskau).Bei Mossaisk (Nähe Moskau).

Wenigstens kam man mit der russischen Zivilbevölkerung sehr gut aus. Bei manchen hatte Heinrich Kappelmann das Gefühl, dass sie mehr Angst vor den eigenen Leuten hatten, als vor den Deutschen. Die Bereitschaft, ihr Weniges mit den Deutschen zu teilen, beeindruckte ihn sehr. Wenn er dann mit ansah, wie die russischen Mütter ihre Kinder draußen in einem zwar geschützt gelegenen aber nicht zugefrorenen Bach im Freien wuschen, konnte er sich schon eher ihre abgehärtete Natur erklären. Jedes Mal schauderte es ihn vor Kälte, wenn er das sah.
Kappelmann verbrachte mehrere Wochen dort, bevor er weiterging. Erst als die Schneeschmelze kam und die Temperaturen stiegen, lief es auch bei den Kämpfen wieder besser. Doch nach dem Weggang des Schnees schien dort eine völlig andere Gegend entstanden zu sein. Die Schneemassen und der Frost hatten die ursprüngliche Landschaft so verändert, dass man sich woanders wähnte.
Die Zeit blieb nicht stehen, und Heinrich Kappelmann zog mit seiner Einheit 1942 in den Kaukasus.

Heinrich Kappelmann 1943 im Kaukasus bei einer Ausbildung an einem 8-mm-Granatwerfer.Heinrich Kappelmann 1943 im Kaukasus bei einer Ausbildung an einem 8-mm-Granatwerfer.

Als "Belohnung" für seinen Einsatz im Winter 1941/1942
erhielt er die Ostmedaille, im Soldatenmund "Gefrierfleischorden" genannt. Die Freude darüber hielt sich in Grenzen, und sein sehnlichster Wunsch war, diese Tortur nicht noch einmal zu erleben.

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Russischer Winter
20 fehlende Meter zur Freiheit

Ein langer Rückzug lag hinter ihnen. Überall nur "Auflösungserscheinungen", d.h. die meisten wollten nicht mehr so richtig für die "Sache des Führers" kämpfen. Auch Heinrich Kappelmann zählte zu ihnen. Zusammen mit seinen Kameraden befand er sich in Iserlohn. Auch die Offiziere dieser Einheit machten sich nichts mehr vor. Es hieß, dass man sich ergeben wolle. Kappelmann wollte das nicht und beschloss, sich nach Hause durchzuschlagen. Von Iserlohn bis Scheidigen bei Werl war es ja nicht weit. Er schnappte sich ein Motorrad, nahm einige Handgranaten, zusätzlich eine Pistole im Koppel und machte sich auf den Weg.
Zuerst ging alles gut, aber nach zehn Kilometern kam eine deutsche Straßensperre. Er sah die gefürchteten "Kettenhunde" und hatte gar kein gutes Gefühl. Auf die Frage wohin er wolle, erklärte Kappelmann sein Vorhaben und das sich seine Einheit ergeben habe. Die "Kettenhunde" entschlossen sich, ihn "nicht zu beißen" und ließen ihn durch. Sein Motorrad brachte ihn immer näher nach Hause. Nur noch fünf Kilometer, und er hatte sein Ziel erreicht.
Doch plötzlich ein weiteres Hindernis. Der Motorradfahrer sah sich mit einer amerikanischen Sperre konfrontiert. Sowohl er, als auch die Amerikaner waren sehr von der Situation überrascht. Kurzerhand sprang er von der fahrenden Maschine ab und schlug sich in die Büsche. Er kannte diese Gegend gut und konnte sich durch diesen "Heimvorteil" sicher bewegen. Das bewahrte ihn vor einer Festnahme.
Über Felder und Zäune gelangte der Flüchtige bis in unmittelbare Nähe seines Zuhauses. Aber auch dort standen amerikanische Posten vor dem Haus. Sie unterhielten sich und rauchten eine Zigarette. Kappelmann wollte unbemerkt ins Haus schleichen, aber wie sollte er das machen? Er fand eine Bohnenstange und hatte eine Idee. Nach einigen Augenblicken richtete er die Stange auf und klopfte damit an das Fenster. Darauf kam seine Mutter und rief: "Is da einer?" Das erregte auch die Aufmerksamkeit der Posten, so dass sich der im Verborgenen wartende Sohn nicht zeigen konnte.
Nach einer Dauer von zehn Minuten machte er den zweiten Anlauf. Dieses mal kam sein Vater ans Fenster. Er sagte aber nichts und schaute nur raus. Endlich konnte sich Kappelmann zeigen, und nach einem Zeichen gelangte er unbemerkt ins Haus.
Nun folgten schwierige Augenblicke und Tage. Der Soldat war nicht legal da und deutsches Militär wurde gesucht. Wer sich versteckte, riskierte standrechtlich erschossen zu werden. Und bei Kappelmanns war eine fremde Frau mit einem Kind zu Gast. Würde sie den Amerikaner etwas von seiner Anwesenheit erzählen? Dies erfüllte die Eltern, aber auch den Geflohenen mit Ungewissheit und Sorge.
Nach drei Tagen beschloss Heinrich Kappelmann, in Zivil zum Bürgermeister zu gehen. Als er dort vorsprach, war dieser überrascht und erfreut zugleich den Jungen zu sehen. Aber er fand die Situation ziemlich prekär. Er hatte eine Meldepflicht und würde in "Deufelsküche" kommen, wenn er schwieg. So beratschlagten die beiden die Situation, und nach dem Gespräch ging der Bürgermeister zu einem amerikanischen Offizier. Dieser hörte sich alles geduldig an und schickte den ehemaligen Soldaten zu einer US-Meldestelle. Dort schien alles gut zu gehen und es hieß, er könne nach Hause gehen.
Kappelmann freute sich und glaubte es geschafft zu haben. Doch der Schock kam etwas später. Als er nur noch 20 Meter vom Elternhaus entfernt war, wurde er festgenommen und als Gefangener abgeführt. Wieso konnte man ihn an der Meldestelle wegschicken und hier einfach festnehmen? Aber alles Hadern nutzte nichts und Widerstand war zwecklos. So waren er und seine Eltern einfach fassungslos.
Es folgte über ein Jahr Gefangenschaft mit Stationen in Belgien und Frankreich mit vielen Höhen und Tiefen. Dass er überlebte, verdankte er einem amerikanischen Captain, der ihn regelrecht vor dem Verhungern rettete.
So gesehen machte aus Sicht von Heinrich Kappelmann ein Landsmann derjenigen alles wieder gut, die ihn 20 Meter vor seiner Freiheit in eine ungewisse Zukunft einfach "umgeleitet" hatten.

Aus: Jürgen Klosa, "Eine Generation verabschiedet sich", Übach-Palenberg, 2004.
ISBN: 3-00-014237-1

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