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1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
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Die Vertreibung
Peter Glotz, der als Kind selbst aus Sudetenland vertrieben wurde, erzählt am Beispiel Böhmens von den Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Sein Buch ist eine ebenso genaue wie erschütternde Darstellung des Unrechts und des Leidens, die ein seit 1848 entfesselter Nationalsozialismus verursacht hat. Der Fall Böhmen zeigt:
Jede Vertreibung ist ein Verbrechen gegen die Menschenrechte.
Autor: Peter Glotz
ISBN: 3-550-07574-X

Buchauszug
Am 12. Mai 1945 sagte Benes in einer Rede in Brünn: »Das deutsche Volk hat in diesem Krieg aufgehört, menschlich zu sein, menschlich erträglich zu sein, und erscheint uns nur noch als ein einziges großes menschliches Ungeheuer ... Wir haben uns gesagt, dass wir das deutsche Problem in der Republik völlig liquidieren müssen.«
Diese Arbeit begann sofort. Schon wenige Tage später mussten alle Deutschen eine Armbinde mit dem Buchstaben N für Nemec — Deutscher — tragen.


Die Vertreibung —Wahre Wunder an nationaler Säuberung


Sofern das Gewissen der Menschheit jemals wieder empfindlich werden sollte, wird diese Vertreibung als die unsterbliche Schande aller derer im Gedächtnis bleiben, die sie veranlasst oder die sich damit abgefunden haben. Die Deutschen wurden vertrieben, aber nicht einfach mit einem Mangel an übertriebener Rücksichtnahme, sondern mit dem denkbar höchsten Maß an Brutalität.

Victor Gollancz, 1946

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Buchauszug
In Brünn (Brno), der mährischen Hauptstadt, wurde Ende Mai die Unruhe immer größer. Viele Belegschaften der Brünner Betriebe verlangten die sofortige Aussiedlung der arbeitsunfähigen deutschen Bevölkerung. Es dauerte bis zum 29. Mai, bis der Rat des Landesnationalausschusses einen Erlass beschloss, demzufolge die »Hinausführung« der deutschen Bevölkerung aus Brünn angeordnet wurde. Das Ganze sollte mit dem Innenminister abgesprochen werden. Wohin die Leute »hinausgeführt« werden sollten, war noch nicht festgelegt.
Am 30. Mai dramatisierte sich die Lage. Die Vertreter des Betriebsrats der Brünner Waffenfabriken drängten auf einen raschen Hinauswurf der Deutschen. Eine (kommunistisch geführte) Delegation erschien bei dem kommunistischen Oberbürgermeister Manila. Sie drohte dem offenbar ein wenig ratlosen Mann. Wenn die staatlichen Stellen jetzt nicht handelten, würden die Arbeiter aus den Fabriken die Umsiedlung der Deutschen selber durchführen.
Der Bürgermeister berief eine außerordentliche Sitzung des Nationalausschusses von Großbrünn ein. Dort tauchte dann erstmals die Bemerkung auf, dass die deutsche Bevölkerung in Richtung auf die österreichische Grenze hin« »hinausgeführt« werden sollte.
Ab neun Uhr abends trommelte man die Deutschen aus ihren Wohnungen und konzentrierte sie auf unterschiedlichen Plätzen der Stadt. Gegen Morgen führte man sie in verschiedenen Marschsäulen hinaus. Die arbeitsfähigen Deutschen zwischen vierzehn und sechzig Jahren sollten in einem Lager in Brünn-Malmaritz (Malomerice) konzentriert werden. Wahrscheinlich gab es keine einheitliche Konzeption, was mit den Frauen, den Kindern und den alten Leuten passieren sollte. Die Radikalen wollten sie gleich über die österreichische Grenze treiben, andere wollten sie in irgendwelchen Dörfern an der Grenze unterbringen. Es war Fronleichnam, ein drückend heißer, schon frühsommerlicher Tag, der sich abends in einem Gewitter entlud. Der Zug bestand aus knapp 30000 Menschen. 10000 konnte man wirklich über die österreichische Grenze abschieben.
Aber dann begannen die Österreicher sich zu wehren. Also wurden zigtausend Menschen in Scheunen, Baracken oder Fabrikhallen der großen Gemeinde Pohrlitz (Pohorelice) untergebracht. Diese Gemeinde war auf eine solche Menschenmasse natürlich überhaupt nicht vorbereitet. Der tschechische Historiker Tomas Stanek zog folgende Bilanz: »Der Aufenthalt im improvisierten Lager in Pohrlitz und in den umliegenden Gemeinden führte zu zahlreichen Tragödien. Entsprechend einem Bericht des Ministeriums des Inneren vom Dezember 1947 verstarben in Pohrlitz zwischen dem 31. Mai und dem 5. Juli 1945 insgesamt 408 namentlich belegte Personen. Darüber hinaus wurden 77 Tote ausgewiesen, deren Identität nicht festgestellt werden konnte.«

Eine deutsche Krankenschwester erinnerte sich sechs Jahre danach an folgende Geschichte:
»Die zweite Tote, die mir in Erinnerung ist, war eine etwa dreißigjährige Frau, die mit zwei Kindern, einem etwa dreijährigen Mädchen und einem einige Wochen alten Säugling, auf dem Beton lagerte. Beim Morgengrauen hörten wir das dreijährige Kind wimmern und nach der Mutter rufen und mussten feststellen, dass diese Frau durch Gift Selbstmord begangen hat. Ihr Gesicht war blau geworden. Aber auch der Säugling war von der toten Frau so fest an die Brust gedrückt, dass das Kind auch tot war.

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Buchauszug
Ein vorübergehender tschechischer Gendarm fragte mich, warum die Frau so blau sei, worauf ich die Bemerkung machte, dass sie höchstwahrscheinlich Gift genommen hat. Darauf begann er entsetzlich zu fluchen. Er nannte die Tote eine Nazi-Hure, Drecksau, deutsches Schwein, die nach zwei Tagen Lager schon mit Selbstmord endet und gab mir den Befehl: >Werfen Sie die Drecksau samt dem Bankerten in die Latrine.< Auf meine Einwendung hin, dass ich Rotkreuzschwester bin, unter Eid stehe und eine solche Tat nicht ausführen kann und auch nicht will, auch wenn er mich selbst erschießen würde, beschimpfte er mich mit >deutsches Schwein und deutsche Hure<, rief aber dann drei andere Frauen, die er eher gefügig machen konnte, weil sie den Drohungen keinerlei Argumente entgegenzusetzen wagten, und zwar waren diese Frauen Agnes Skalicky, Straßenbahnerswitwe aus Leskau [Liskovec] 63 Jahre alt, eine dreißigjährige Franziska Wimetal und eine dritte Frau, die mir dem Namen nach unbekannt ist. Diese Frauen mussten nun die tote Mutter mit dem toten Säugling in die offene Latrine werfen. Partisanen zwangen dann die Insassen des Lagers, diese Latrine zu benutzen, damit, wie sie riefen, >die Drecksau mit dem Bankert so schnell wie möglich unsichtbar wird<. Und das vollzog sich auch.«

Die Zeitatmosphäre ist mit der in normalen Zeiten - was immer normale Zeiten sein mögen - nicht vergleichbar; das muss der Zeitgenosse, der überlebt hat, vor allem aber der Nachgeborene bedenken. Prinzipien wie nulla poena sine lege oder die Unschuldsvermutung, erst recht der Eigentumsbegriff, waren zerbrochen und wirkten gegenüber der mörderischen Realität von Krieg und Nachkrieg wie bürgerlicher Plunder. Umso mehr muss man an die Menschen — wiederum aller Seiten - erinnern, die trotz der Rohheit der Zeit mit anderen leiden konnten oder den Leidenden zu helfen versuchten. Auch diese Fälle verlangen nach Dokumentation - als Nachweis, dass der Prozess der Verrohung nicht alle ergreift.

Kein Mord, keine Folterung ist allerdings entschuldbar mit der Phrase von der »revolutionären Gerechtigkeit«, mit dem Hinweis auf die vorherigen Verbrechen der jeweils anderen. Die Sätze, die mit »Was wundert Ihr euch?« eingeleitet werden, behandeln »very grave wrongs« mit einer nonchalanten Alltagspsychologie, die brutales Hin- und Hermorden, also Blutrache rechtfertigen soll. Vierzehnjährige Jungen auszupeitschen und anschließend zu erschießen, weil sie aus Hunger Äpfel vom Baum gestohlen haben, ist ein Verbrechen, selbst wenn diese Burschen die Söhne von Verbrechern gewesen sein sollten. Sicher war nur, dass sie die Söhne von Deutschen waren. Dass solche Verbrechen zwischen Mai und Oktober oder November 1945 tausendfach vorkamen, hatte allerdings konkrete Gründe in der politischen Strategie des Transfers der deutschen und magyarischen Minderheit.
Beness Regierung fühlte sich unter Druck. Die Potsdamer Konferenz, die die Aussiedlung der Deutschen (nicht der Magyaren) schließlich akzeptierte, war erst im August. Der erfahrene Außenpolitiker Benes spürte, dass die Amerikaner und Briten von ihren Zusagen während des Kriegs, die Deutschen zu »transferieren«, immer mehr abrückten. Nur Stalin stand in unbeirrbarer, selbstverständlicher Brutalität zu seinem Wort. Die antideutsche Stimmung der Bevölkerung war zwar eindeutig und erschien auch haltbar. Aber es war hochkompliziert, zigtausend Deutsche zum Beispiel aus einer Mittelstadt zu erfassen, zusammenzuführen und rasch über eine Grenze zu bringen, hinter der oft genug Leute standen, die die Ausgewiesenen nicht wollten. Es war ein logistisches Riesenproblem, und es schien leichter lösbar, wenn es in der entfesselten Stimmung der ersten Nachkriegsmonate geregelt wurde. Es ging der tschechischen Regierung darum, »die Großmächte vor vollendete Tatsachen zu stellen«.

Quelle: Peter Glotz
Die Vertreibung
ISBN: 3-550-07574-X
Ullstein Berlin Verlag

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