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Deutsche Geschichten


Versailles
Durch das Odium des verlorenen Krieges belastet, stand die Geburtsstunde der Republik von Anfang an unter keinem guten Stern.

Noch vor der Verabschiedung der Verfassung hatte sich die Nationalversammlung mit dem Friedensvertrag zu befassen.

Politische Bildung
Weimarer Verfassung
Am 31. Juli 1919 nahm die Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit die Weimarer Verfassung an ...

Am 7. Mai 1919 erhielt die vom (parteilosen) Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau geleitete deutsche Delegation den Entwurf, den die seit dem 18. Januar in Paris tagende Konferenz der Siegermächte - ohne Beteiligung der Besiegten - erarbeitet hatte. Er war letzt-
lich das Werk der "Großen Drei": des US-Präsidenten Woodrow Wilson, des briti-
schen Premierministers Lloyd George und des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau. "In der Nacht vom 7. zum 8. Mai und wäh-
rend des ganzen Tages stu-
dierten wir die Bedingungen. Unsere vollkommene Nieder-
geschlagenheit über die darin enthaltenen Zumutungen lässt sich überhaupt nicht schildern", heißt es in den Aufzeichnungen

des Hamburger Bankiers Max Warburg, der der deutschen Delegation angehörte.

Versailler Vertrag

Die vorgesehenen Gebiets-
verluste, Souveränitätsbe-
schränkungen, Reparationen und vor allem die Zuweisung der Alleinschuld am Krieg lösten in ganz Deutschland,
quer durch alle sozialen Schichten und politischen Lager, einen Entrüstungssturm aus. Ministerpräsident Scheidemann lehnte es am 12. Mai 1919 in der Nationalver-
sammlung mit starken Worten ab, den Vertrag zu unterschrei-
ben: "Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte?" Die Regierung durfte innerhalb von 14 Tagen Stellung neh-
men. Jedoch wiesen die Alliier-
ten fast alle deutschen Wün-
sche, Alternativ- oder Kompro-
missvorschläge (bis auf eine Abstimmung in Oberschlesien über die nationale bzw. staat-
liche Zugehörigkeit) ab. Am 16. Juni erhielt die deutsche Delegation in Paris den end-
gültigen Vertragstext mit einer Annahmefrist von sieben Tagen. Daraufhin trat das Kabinett Scheidemann am 20. Juni zurück; die DDP schied vorläufig aus der Koalition aus (bis zum 3. Oktober 1919). Neuer Reichskanzler wurde

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Nachkriegsdeutschland

Chronologie
Chronologie 1918-1932

Literatur
Carl Zuckmayer - "Als wär´s ein Stück von mir"


Gustav Bauer (MSPD).
Am 21. Juni 1919 wurden die Alliierten gleich doppelt pro-
voziert: In der Bucht von Scapa Flow ließ Admiral Ludwig von Reuter eigenmächtig die deutsche Hochseeflotte ver-
senken, damit sie den Sieger-
mächten nicht in die Hände fiel; in Berlin verbrannten Offiziere die im Krieg 1870/71 erbeuteten Fahnen französischer Truppenteile. Danach waren weitere

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Verhandlungen des neuen Reichskanzlers Bauer von vornherein vergeblich. Als Ebert am 23. Juni bei der OHL in Kassel anrief, um sich nach den Chancen eines militärischen Widerstandes zu erkundigen, eilte Hindenburg vor die Tür, um nicht mit dem Reichspräsidenten sprechen zu müssen. Groener übernahm die Aufgabe, Ebert die Wahrheit zu sagen. "Die Wiederaufnahme des Kampfes ist [...] aussichtslos. Der Friede muss daher unter den vom Feinde gestellten Bedingungen abgeschlossen werden." So eindeutig mochte er sich aber nicht als "Erster Generalquartiermeister" äußern, sondern nur als "Deutscher, der die Gesamtlage klar übersieht". Da es keine verantwortbare Alternative gab, beschloss die Nationalversammlung am Nachmittag des 23. Juni 1919 mit großer Mehrheit die Annahme des Friedensvertrages; dagegen stimmten die DNVP, die DVP, die meisten DDP- und einige Zentrumsabgeordnete. Am Abend und an den folgenden Tagen verübten Reichswehr-
angehörige auf den Unterzeichner des Waffenstillstandes, Matthias Erzberger, Attentatsversuche. Zur Unterzeich-
nung mussten sich Außenminister Hermann Müller (MSPD) und Verkehrsminister Johannes Bell (Zentrum) am 28. Juni 1919 im Spiegel-
saal des Schlosses zu Versailles einfinden, wo die deutschen Fürsten 1871 Wilhelm I. zum Kaiser ausgerufen hatten. Nach der Ratifizie-
rung durch die Unterzeichnerstaaten trat der Vertrag am 10. Januar 1920 in Kraft.

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"Ich hab mich ergeben"
Das von Hans F. Maßmann komponierte Lied "Ich hab mich ergeben", besteht ursprünglich aus 6 Strophen, hier die Strophen 1 und 4: 1. Ich hab' mich ergeben Mit Herz und mit Hand, |: Dir Land voll Lieb' und Leben, Mein deutsches Vaterland! :| 4. Ach Gott, tu' erheben Mein jung Herzensblut |: Zu frischem freud'gem Leben, Zu freiem frommem Mut! :|

Bestandteil des Vertrages war die Satzung des vor allem auf Betreiben des amerikanischen Präsidenten Wilson am 29. April 1919 in Versailles gegründeten Völkerbundes (dem Deutschland vorläufig nicht angehören durfte).

Wegen der darin enthaltenen Sanktionsbestim-
mungen lehnte jedoch die Mehrheit des US-Kongresses, die nach dem Krieg zum traditionellen Isolationismus zurückkehren und eine Verwicklung in internationale Konflikte vermeiden wollte, im November 1919 die Satzung ab. Ausgerechnet die USA blieben daher dem Völkerbund fern, was diesen von vornherein schwächte.

Ein separater deutsch-amerikanischer Friedensschluss erfolgte am 25. August 1921.

Der Versailler Vertrag nahm Deutschland nicht nur sämtliche Kolonien, sondern auch 13 Prozent seines Territoriums und zehn Prozent seiner Bevölkerung, damit verbunden 50 Prozent der Eisenerzversorgung, 25 Prozent der Steinkohleförderung, 17 Prozent der Kartoffel- und 13 Prozent der Weizenernte. Der Großteil dieser Gebiete fiel an den nach 123-jähriger Teilung wieder gegründeten Staat Polen - für die Alliierten auch ein Bollwerk gegen den russischen Bolschewismus. Die neue Grenzziehung im Osten führte wegen der dortigen gemischtnationalen Siedlungsweise unvermeidlich zu neuen Minderheitsproblemen. Wo bisher Polen unter preußisch-deutscher Herrschaft leben und nationalistische Diskrimi-
nierungen erdulden mussten, kehrten sich die-
se Verhältnisse jetzt um. Es gab auch Ströme von deutschen Flüchtlingen und Ausgewiese-
nen. Clemenceau war mit weiter gehenden Forderungen (Übernahme aller linksrheini-
schen deutschen Gebiete durch Frankreich) im Kreise der "Großen Drei" gescheitert; er galt bei den französischen Nationalisten schon bald als "Verlierer des Sieges". Im "Diktatfrieden" von Brest-Litowsk hatte Deutschland dem Russischen Reich annähernd ein Viertel seines europäischen Territoriums - das freilich von nach Unabhängigkeit strebenden Völkern bewohnt war - und damit zugleich ein Viertel seiner landwirtschaftlichen Nutzfläche sowie

drei Viertel seiner Schwerindustrie und Kohleproduktion entzogen; nun wurde es selbst in Versailles ähnlich hart behandelt. Gleichwohl blieb sein nationalstaatliches Gefüge weitgehend erhalten; auch eine Rückkehr in den Kreis der Großmächte war nicht ausgeschlossen.

Schlaglicht
Kriegsschuld-Artikel (Artikel 231)
Diese These von der Alleinschuld Deutschlands wurde das Fundament für alle Wiedergutmachungsforderungen der Alliierten.

Dennoch gelangte die deutsche Öffentlichkeit nicht nur im spannungsgeladenen Sommer 1919, sondern auch später, in den zwanziger und dreißiger Jahren bei der Auseinander-
setzung mit dem Vertrag von Versailles über eine leidenschaftliche Verdammung nicht hinaus. Zu groß war die Enttäuschung darüber, dass das von Wilson proklamierte Selbstbe-
stimmungsrecht der Völker zwar auf andere Nationen, aber kaum auf Deutschland angewandt wurde.

Zudem unterblieb eine öffentliche Diskussion über den Kriegsschuldanteil und die Kriegs-
zielpolitik des Kaiserreiches; auch im Untersuchungsausschuss der Nationalver-
sammlung für die Schuldfragen des Weltkriegs fand sie nicht statt. Die Beamten des Auswärtigen Amtes und der Reichskanzlei gaben zu bedenken, dass die Veröffentlichung aufschlussreicher, geheimer Dokumente - insbesondere zu den weitgesteckten deutschen Kriegszielen (Annexion von Teilen Frankreichs und Belgiens, dauerhafte Ausschaltung Frank-
reichs als Großmacht durch hohe Reparatio-
nen, wirtschaftliche und politische Vormacht-
stellung in Europa, Weltmacht mit einem mittelafrikanischen Kolonialreich) - die Verhandlungsposition der Reichsregierung gegenüber den Alliierten schwächen würde.
Dieser Auffassung schloss sich die Mehrheit der Ausschussmitglieder (darunter Mehrheits-
sozialdemokraten ebenso wie Deutschnatio-
nale) an. Der Verzicht auf eine rückhaltlose politische Aufarbeitung des Weltkriegs leistete allerdings später unfreiwillig der "Dolchstoßle-
gende" Vorschub.

Dolchstoßlegende

Die militärische Niederlage, die die Oberste Heeresleitung am 2. Oktober 1918 öffentlich vor den Parteiführern eingestand, wirkte auf die deutsche Bevölkerung wie ein furchtbarer Schock. Nach all den Siegesmeldungen, selbst noch aus den letzten Monaten, wollte man die Niederlage nicht zur Kenntnis nehmen. Schon bei der Begrüßung heimkehrender Fronttrup-
pen in der Heimat tauchte das Wort >>im Felde unbesiegt<< auf. Bald schon erschien das Wort >>Dolchstoß<< in der Rechtspresse, wurde die Revolution für die Niederlage verantwortlich gemacht. Die Dolchstoßlegende war geboren. Die Heimat sei der kämpfenden Front in den Rücken gefallen. Hindenburg untermauerte diese Deutung des Zusammen-
bruchs, indem er am 18. November 1919 vor dem Untersuchungsausschuss der National-
versammlung sich auf die Aussage eines britischen Generals berief und erklärte, die deutsche Armee sei von hinten erdolcht worden. Das unverändert große Ansehen, das der ehemalige Feldmarschall noch immer im deutschen Volk genoss, sorgte dafür, dass die Dolchstoßlegende - obwohl sachlich völlig unhaltbar - rasch eine außerordentlich große Verbreitung erfuhr und eine entsprechende Wirkung erzielte. Sie ist ständig von der politischen Rechten als Waffe im innenpoli-
tischen Kampf gegen die Weimarer Parteien verwandt worden. Sie wurde schließlich in der Propaganda der Nationalsozialisten zum tödlichen Dolchstoß gegen die erste deutsche Republik.

Finanzpolitik und Wirtschafts-
entwicklung

Weimarer Verfassung und Versailler Vertrag steckten den innen- und außenpolitischen Rahmen ab, innerhalb dessen die Republik

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zahlreiche schwierige Probleme zu lösen hatte. Die Umstellung der Kriegs- auf Friedenswirt-
schaft und die Wiedereingliederung der Kriegs-
teilnehmer in den Arbeitsprozess waren noch nicht abgeschlossen. Die Gebietsabtrennungen führten einerseits zum Abbruch eingespielter Binnenwirtschaftsbeziehungen, andererseits zu einem Zustrom von Flüchtlingen und Ausge-
wiesenen. Der Staat war hoch verschuldet, seine Finanzmittel waren äußerst knapp. Die

Schlaglicht
Reparationen
1921 wurde die Gesamtsumme der Reparationen mit 132 Milliarden Goldmark, zahlbar in 30 Jahren, festgelegt...

Reparationen - vorab bis zum 1. Mai 1921 Leistungen im Werte von 20 Milliarden Gold-
mark (eine inflationssichere Verrechnungs-
einheit, die dem 1395. Teil eines Pfundes Feingold entsprach) - bedeuteten eine schwere Belastung. Da das Kaiserreich den Krieg von 1914 bis 1918 nicht nur mit Krediten finanziert hatte, sondern auch - bei einem rückläufigen Warenangebot - durch eine Vervierfachung sowohl der umlaufenden Bargeldmenge als auch des Giralgeldes (Buchgeld für den bargeldlosen Zahlungsverkehr), war eine erhebliche Nachkriegsinflation die Folge.
Für die Bedienung der Staatsverschuldung (153 Milliarden Mark), die Erfüllung des Friedensvertrages und vor allem für den Aufbau des neuen Staates und seiner Sozialpolitik benötigte die Republik enorme finanzielle Mittel. Reichsfinanzminister Erzberger schuf daher 1919/20 eine eigene Finanzverwaltung des Reiches (das bis 1918 von den Finanzzuweisungen der Bundesstaaten abhängig gewesen war) und gliederte das Steueraufkommen in Reichs-, Länder- und Gemeindesteuern. Das Reich erhielt unter anderem 100 Prozent der Einkommensteuer und der Verbrauchssteuern, 85 Prozent der Umsatzsteuer und 80 Prozent der neu eingeführten Erbschaftssteuer. Mit einmaligen Abgaben für Vermögende (Kriegsabgaben, "Reichsnotopfer") demonstrierte Erzberger, dass es ihm nicht einfach um die Füllung der Staatskasse, sondern auch um die Abschöpfung von Kriegsgewinnen und um Steuergerechtigkeit ging. 39 Prozent des gesamten Steueraufkommens erhielt das Reich, 23 Prozent die Länder, 38 Prozent die Gemeinden. Diese notwendige Steuerreform war freilich nicht unproblematisch: Länder und Gemeinden gerieten infolge der Schmälerung ihres Steueranteils in finanzielle Schwierigkei-
ten und in Abhängigkeit vom Reich.
Die Inflation wurde zusätzlich angeheizt, weil sich das Reich zur Überbrückung der Anlaufzeit noch mehr verschulden musste und weil in der Wirtschaft die Einkommens- und Vermögens-
abgaben teilweise auf die Preise abgewälzt wurden.
Trotz der schwierigen Ausgangslage nahm die wirtschaftliche Entwicklung in den ersten Nach-
kriegsjahren einen relativ günstigen Verlauf. Mit der Aufhebung der alliierten Seeblockade am 12. Juli 1919 entfiel ein schweres Hindernis für den Außenhandel und die Nahrungsmittel-
versorgung. Danach kam es zu einer Wieder-
belebung der Friedensproduktion bei an-
nähernder Vollbeschäftigung und, trotz der Inflation, zu einer leichten Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards. Die Nachkriegs-
inflation wurde vorläufig von Unternehmer-
verbänden, Gewerkschaften und Staat still-
schweigend akzeptiert, denn sie bildete die Grundlage des bis Mitte 1921 anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs: Die Industrie konnte lohnkostengünstig produzieren und sich auf dem internationalen Markt Wettbewerbsvor-
teile verschaffen. Auch Staatsaufträge, unter anderem im Eisenbahnbereich, kurbelten die Wirtschaft an; sie erhöhten allerdings die

Staatsverschuldung. Zwischen März 1920 und Juli 1921 strömte amerikanisches Spekula-
tionskapital ins Land, da der Wechselkurs der deutschen Währung in diesem Zeitraum einigermaßen stabil bei etwa 60 Mark für den Dollar lag. Ging die Industrieproduktion 1920/21 weltweit um 15 Prozent zurück (was damals als starker Einbruch galt), so stieg sie in Deutschland um 20 Prozent an. Freilich erreichte sie hier 1920 erst wieder 55 Prozent des Vorkriegsniveaus, 1921 immerhin schon 66 Prozent. Die Arbeitslosigkeit fiel 1921 unter drei Prozent, 1922 sogar unter zwei Prozent, während sie im Ausland durchweg im zwei-
stelligen Bereich lag. Der Wirtschaftsauf-
schwung blieb aber an zwei Bedingungen geknüpft: Die Inflation durfte nicht außer Kontrolle geraten, und die Reparationen mussten sich als bezahlbar erweisen.

Schlaglicht
Rapallo
In dem Vertrag von Rapallo, der auf deutscher Seite von Reichskanzler Wirth und Reichsaußenminister Rathenau, auf russischer Seite von Außenminister Tschitscherin unterzeichnet wurde, nahmen die beiden Staaten wieder diplomatische Beziehungen auf und verzichteten auf eine Erstattung der durch den Krieg verursachten Kosten und Schäden.

Politische Polarisierung

Mitte 1919 klagte Ludendorff in einem Ge-
spräch mit dem Chef der britischen Militär-
mission, Generalmajor Malcolm, über die mangelnde Unterstützung der deutschen Front durch die Heimat im letzten Kriegsjahr. "You mean that you were stabbed in the back?" fragte Malcolm erstaunt zurück. Diese Formu-
lierung griff Ludendorff sofort auf: "Ja, genau das. Man hat uns einen Dolchstoß in den Rücken versetzt."

Biographie
Erich Ludendorff

Dies war (auch wenn sich der Begriff bis zum Dezember 1918 zurück-
datieren lässt) die eigentliche Geburt der berüchtigten so genannten Dolchstoßlegende.
Hindenburg, seit dem 25. Juni 1919 im Ruhe-
stand, machte am 18. November vor dem Ausschuss der Nationalversammlung für die Schuldfragen des Weltkriegs eine Aussage über die "Ursachen des deutschen Zusammen-
bruchs im Jahre 1918". Er las einen Text vom Blatt ab, der in der Öffentlichkeit ungeheures Aufsehen erregte: "In dieser Zeit setzte die heimliche planmäßige Zersetzung von Flotte und Heer als Fortsetzung ähnlicher Erscheinun-
gen im Frieden ein [...]. So mussten unsere Operationen misslingen, es musste der Zusammenbruch kommen; die Revolution bildete nur den Schlussstein. Ein englischer General sagte mit Recht: ,Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.' [...] Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen."
Damit stellte Hindenburg die Tatsachen auf den Kopf. Niemand wusste besser als die kaiserlichen Generäle, dass der Krieg unter ihrer Führung bereits militärisch verloren war, bevor die Auflösungserscheinungen an der Westfront begannen; dass diese nicht so sehr auf "Zersetzung" zurückzuführen waren (obwohl es solche Versuche gegeben hatte), sondern auf Erschöpfung und Verzweiflung; dass die OHL selbst die von ihr gewünschte parlamentarische Regierung sofort zu einem

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kapitulationsähnlichen Waffenstillstandsgesuch gezwungen hatte und dass sich die Revolution erst Bahn gebrochen hatte, als die Illusion vom "Siegfrieden" geplatzt war. Selbst Ludendorff bezeichnete in seinen 1919 er-
schienenen "Kriegserinnerungen" Amerika als "kriegsentscheidende Macht". Aber kaum einer besaß die Aufrichtigkeit des Generals von Schönaich, der in der "Frankfurter Zeitung" vom 23. August 1924 nüchtern feststellte: "Der deutsche Militarismus beging einfach Selbst-
mord".
Die republikanischen Parteien unterschätzten die politische Sprengkraft der Dolchstoßle-
gende. Sie unterließen es, die deutsche Öffentlichkeit unablässig darüber aufzuklären, dass allein das Regime Wilhelms II. die Ver-
antwortung für Kriegsniederlage, Waffenstill-
standsabkommen und Friedensvertrag trug. Dieses Versäumnis hatte fatale Folgen: Unter den als hart und demütigend empfundenen Bedingungen des Versailler Vertrages, bei anhaltender offizieller Kriegsunschuldspro-
paganda, stieß die von prominenten kaiser-
lichen Militärs und Politikern mit Unterstützung konservativer und rechtsradikaler Zeitungen unermüdlich verbreitete Dolchstoßlegende in breiten Bevölkerungskreisen, die sich mit der Sinnlosigkeit ihrer Entbehrungen und Opfer im Krieg nicht abfinden mochten, auf Zustimmung - vom rechtsradikalen Lager und der DNVP über die Freikorps und die Reichswehr bis weit in die Reihen der bürgerlichen Parteien und der Kirchen. Dadurch wirkte sie ihrerseits wie ein Dolchstoß "in den Rücken des neuen Staates" (Albert Schwarz).

Politische Bildung
Terrorismus
In den ersten Jahren der Republik fielen zahlreiche prominente Kommunisten, Sozialdemokraten, liberale und katholische Demokraten politischen Mordanschlägen zum Opfer.

Aufstände und Putschversuche

Im Frühjahr 1920 musste die Weimarer Republik ihre erste große Existenzkrise überstehen, die durch einen Rechtsputsch ausgelöst wurde. Geplant hatte ihn die Verschwörergruppe "Nationale Vereinigung", die eine Militärdiktatur anstrebte.
Zu ihr zählten Ludendorff, General Walther Freiherr von Lüttwitz, dem die mitteldeutschen und ostelbischen Reichswehrverbände sowie sämtliche Freikorps unterstanden, Hauptmann Waldemar Pabst, der die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zu verant-
worten hatte, Traugott von Jagow, der letzte kaiserliche Polizeipräsident von Berlin, und Wolfgang Kapp, ostpreußischer General-
landschaftsdirektor, Mitbegründer der "Deutschen Vaterlandspartei", jetzt Mitglied der DNVP.
Ausgelöst wurden die Putschvorbereitungen durch die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages, der am 10. Januar 1920 in Kraft getreten war. Danach mussten bis zum 31. März 1920 das Heer auf 100000, die Marine auf 15000 Mann verkleinert werden.

Wenngleich die Siegermächte eine stufenweise Truppenreduzierung und eine Fristver-
längerung bis zum Jahresende akzeptierten, standen rund 300000 Reichswehrangehörige und Freikorpsleute vor der Entlassung.
Die meisten klammerten sich an das Militär, das ihnen Halt gab. Insbesondere die ohnehin demokratie- und republikfeindlichen Freikorps fühlten sich von der Weimarer Regierung verraten, denn in ihrem Auftrag hatten sie - anstelle des nicht mehr kampfwilligen Ost-
heeres, das in den ersten Monaten nach Kriegsende unaufhaltsam nach Hause geströmt war - im Baltikum gegen die Rote Armee, im östlichen deutschen Grenzgebiet gegen polni-
sche Freiwilligenverbände gekämpft und sich 1919 im Reich an der Niederschlagung der Frühjahrsunruhen beteiligt. Zu den ersten Verbänden, deren Auflösung Noske am 29. Februar 1920 verfügte, gehörte die 6000 Mann starke, in Döberitz stationierte und von dem Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt geführte Marinebrigade II.

Kapp-Lüttwitz-Putsch

Am 10. März verlangte General von Lüttwitz in einem Gespräch mit Reichspräsident Ebert und Reichswehrminister Noske in ultimativer Form die Beibehaltung der Freikorps, seine - Lüttwitz' - Ernennung zum Oberbefehlshaber der Reichswehr sowie die Neuwahl des Reichstages und des Reichspräsidenten. Statt Lüttwitz sofort seines Kommandos zu enthe-
ben, forderte Noske ihn lediglich auf, in den Ruhestand zu treten. Als er den General am nächsten Tag beurlaubte, hatten Lüttwitz und Ehrhardt den Putsch bereits beschlossen und entsprechende Befehle gegeben. Die Marine-
brigade traf ihre Vorbereitungen; am 12. März marschierte sie spätabends die 25 Kilometer lange Strecke von Döberitz nach Berlin, um die Regierung zu stürzen.
Währenddessen trommelte Noske die Reichs-
wehrführung zusammen, um über Gegen-
maßnahmen zu beraten. Mit Ausnahme des preußischen Kriegsministers und Chefs der Heeresleitung, General Walther Reinhardt, lehnten die versammelten Generäle den Einsatz regierungstreuer Truppen gegen die Putschisten ab - im Raum Berlin stünden nicht genügend Soldaten zur Verfügung, und "Reichswehrtruppen (würden) niemals auf andere Reichswehrtruppen schießen" - so insbesondere der General Hans von Seeckt.

Schlaglicht
Reichswehr
Die Reichswehr wurde eine Armee von länger dienenden Freiwilligen, ein Berufsheer. Den Oberbefehl führte nach der Weimarer Verfassung der Reichspräsident, im Frieden übte als sein Stellvertreter die Befehlsgewalt der Reichswehrminister aus.

Das grenzte an offenen Ungehorsam - offen-
kundig wollte die Reichswehr die parlamenta-
risch-demokratische Republik, auf deren Verfassung sie vereidigt war, nicht verteidigen. Der Regierung blieb nur die Flucht nach Stuttgart. Inzwischen besetzte die Brigade

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Ehrhardt, unterstützt von einem Reichswehr-
bataillon, das Berliner Regierungsviertel. Kapp rief sich selbst zum Reichskanzler aus und ernannte von Lüttwitz zum Oberbefehlshaber der Reichswehr.
Infolge der Verweigerungshaltung der Reichs-
wehr konnten nur starke gesellschaftliche Kräfte die Republik noch retten. Der Presse-
chef der Reichskanzlei, Ulrich Rauscher, veröffentlichte daher im Namen Eberts einen Aufruf, der geradezu revolutionäres Vokabular enthielt: "Kein Proletarier darf der Militärdik-
tatur helfen! Generalstreik auf der ganzen Linie! Proletarier, vereinigt euch! Nieder mit der Gegenrevolution!"
Wieweit Rauscher eigenmächtig handelte, ist umstritten; jedenfalls tat der Generalstreik-
aufruf seine Wirkung. Gewerkschaften und SPD befolgten ihn sofort, die KPD nur wider-
willig und erst einen Tag später - sie hatte an der Verteidigung der ihr verhassten "Noske-Demokratie" an sich kein Interesse. Vielerorts kam es zu bewaffneten Kämpfen mit Kapp-Lüttwitz-Anhängern.
Zum Glück für die Republik war der Putsch schlecht vorbereitet. Die Unternehmer lehnten ihn überwiegend ab, der größte Teil der Reichswehr blieb zumindest politisch neutral, und die Berliner Ministerialbeamten, die nicht eingeweiht waren und Kapp für unfähig hielten, blieben einfach zu Hause. Wirklichen Rückhalt besaßen die Putschisten nur bei den Groß-
agrariern, Offizieren und Landräten östlich der Elbe. Schließlich mussten Kapp und Lüttwitz einsehen, dass sie ohne Geld und Personal in ungeheizten Amtsräumen ohne Telefon, Strom und fließendes Wasser nicht regieren konnten. Am 17. März 1920 brach der Putsch landesweit zusammen. Lüttwitz floh nach Ungarn, Kapp nach Schweden, Ehrhardt tauchte in Bayern unter.

Tags darauf zeigte sich, dass die Streikenden nicht einfach für die Wiederherstellung der Verhältnisse vor dem Putsch in den Ausstand getreten waren. Der "Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund" (ADGB), die ihm angeschlossene "Arbeitsgemeinschaft für Angestellte" (AfA-Bund) und der (vor allem die untere Beamtenschaft repräsentierende) "Deutsche Beamtenbund" beschlossen, den Generalstreik fortzusetzen, bis die Demokratie durch wirksame Maßnahmen gesichert sei. In einem Neun-Punkte-Programm forderten sie:

· "Umgestaltung" von Reichsregierung und Landesregierungen sowie "Neuregelung" der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung,
· Bestrafung aller Putschisten,
· Rücktritt des Reichswehrministers Noske und des preußischen Innenministers Heine (denen die Unzuverlässigkeit von Militär und Polizei angelastet wurde),
· Entfernung "reaktionärer Personen" aus allen Betrieben,
· Demokratisierung der Verwaltung unter Mitwirkung der Arbeitnehmerorganisationen,
· Verbesserte Sozialgesetze,
· Sozialisierung des Bergbaus und der Energiewirtschaft,
· Enteignung von Großgrundbesitzern, "die Lebensmittel nicht abführen oder ihre Betriebe nicht rationell bewirtschaften",
· Auflösung aller "konterrevolutionären, militärischen Formationen".

Dieser Versuch, mit Hilfe einer gemeinsamen Regierung der Gewerkschaften, der MSPD und der USPD Versäumnisse der Revolution von 1918/19 nachzuholen, ließ sich nicht verwirk-
lichen. DDP und Zentrum lehnten eine Regie-
rungsbeteiligung der Gewerkschaften ab; die USPD blieb bei ihrer Fundamentalopposition. Zudem war der profilierteste Gewerkschafts-
führer, der ADGB-Vorsitzende Carl Legien, nicht bereit, das Amt des Reichskanzlers zu übernehmen. So kam es nur zu einer neuen Weimarer Koalitionsregierung unter Hermann Müller (MSPD). Reichswehrminister Noske, dessen Politik der Härte gegenüber dem Links- und Rechtsradikalismus an den Generälen gescheitert war, wurde von Otto Geßler (DDP) abgelöst; in Preußen musste unter anderem Innenminister Heine gehen. Aus Solidarität mit Noske trat der republiktreue Chef der Heeres-
leitung, General Reinhardt, zurück. Zum Nach-
folger machte Geßler ausgerechnet den fähi-
gen, aber politisch unzuverlässigen General von Seeckt, unter dessen Amtsführung sich die Reichswehr in den folgenden Jahren erst recht zu einer Art "Staat im Staate" entwickelte.


Politische Bildung
Linksradikalismus
Unter der Dominanz ihres linken Flügels näherte sich die USPD den politischen Positionen der KPD an ...

Aufstand der Ruhrarmee

Noch während des Kapp-Lüttwitz-Putsches entstand der Republik neben der Gefahr von rechts eine Gefahr von links. In den größeren Orten des Ruhrgebietes übernahmen spontan gebildete lokale "Vollzugsräte" die politische Macht. Sie wurden meist von der USPD dominiert, aber auch die KPD war vertreten. Die Vollzugsräte organisierten bewaffnete, politisch bunt zusammengewürfelte Arbeiterwehren, denen es in erbitterten Kämpfen gelang, einmarschierende Freikorps zum Rückzug zu zwingen. Ein Teil dieser Arbeiterwehren formierte sich zu einer etwa 50000 Mann starken, revolutionären "Roten Ruhrarmee", die bis Ende März das gesamte Ruhrgebiet unter ihre Kontrolle brachte und sich dabei örtlich auch gegen die MSPD stellte. Unterstützung erhielt sie durch den neuerlichen Streik von mehr als 300000 Bergarbeitern (rund 75 Prozent der Belegschaften). Damit erweiterte sich der linksradikale Widerstand gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch zu einem Kampf für die Wiederbelebung und Vollendung der sozialen Revolution und des Rätesystems.

Diese so genannte Märzrevolution - die größte bewaffnete Arbeiteraktion, die es in Deutsch-
land je gab - nährte, wie schon die Münchner Räterepublik, die Angst des Bürgertums vor dem "Bolschewismus". Denn durch das Fehlen einer einheitlichen, anerkannten Führung kam es örtlich immer wieder zu Ausschreitungen gegen tatsächliche oder vermeintliche Kapp-Lüttwitz-Anhänger.

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Die Reichsregierung versuchte vergeblich, durch die Zusage politischer Reformen und einer Amnestie die Selbstauflösung der Roten Ruhrarmee zu erreichen. Schließlich erhielten Reichswehrtruppen unter dem Kommando des Generals von Watter am 2. April 1920 "volle Freiheit des Handelns, zu tun, was die Lage gebietet", das heißt die Rote Ruhrarmee mit allen Mitteln (auch mit Hilfe von Standgerich-
ten) zu bekämpfen. Diesmal ließ sich die Reichswehr bereitwillig einsetzen, ging es doch gegen die "Bolschewisten", nicht gegen "Kameraden". Es ähnelt einer Satire, dass unter anderem die Marinebrigade Loewenfeld ins Ruhrgebiet geschickt wurde - drei Wochen vorher hatte sich dieses Freikorps am Kapp-Lüttwitz-Putsch beteiligt. Die Gräueltaten der Regierungstruppen übertrafen bei weitem die Ausschreitungen der Roten Ruhrarmee. Wer bei seiner Festnahme bewaffnet war, wurde sofort erschossen - auch Verwundete. Am 3. April musste Reichspräsident Ebert die Standgerichte wieder verbieten, um das Schlimmste zu verhüten. Erst am 12. April untersagte General von Watter seinen Soldaten "gesetzwidriges Verhalten". Nach dem Ende der Kämpfe hatten die Aufständi-
schen weit mehr als 1000 Tote zu beklagen, Reichswehr und Freikorps etwa 250.

Politische Bildung
Politische Justiz
Um den sozialen Frieden wiederherzustellen, verabschiedete der Reichstag am 2. August 1920 ein Amnestiegesetz ...

Reichstagswahlen 1920

Der Putschversuch von rechts und der Revolutionsversuch von links veranlassten die Weimarer Koalition dazu, sich früher als geplant den Wählern zu stellen und den ersten republikanischen Reichstag an die Stelle der Nationalversammlung treten zu lassen. Nach einer Wahlrechtsänderung entfiel jetzt auf 60000 Stimmen ein Mandat. Die Wahlen vom 6. Juni 1920 endeten für das Bündnis zwischen sozialdemokratischer Arbeiterschaft, liberalem Bürgertum und politischem Katholizismus mit einer verheerenden Niederlage. MSPD, DDP und Zentrum erlitten so schwere Verluste, dass sie zusammen unter die 50-Prozent-Marke rutschten - sie vermochten ihre Mehr-
heit nie wiederzuerlangen.

Demgegenüber erzielten USPD, DVP und DNVP beträchtliche Gewinne. Die starken Einbußen der Weimarer Koalition erklären sich aus der seit Sommer 1919 anhaltenden politischen Polarisierung, die - je nach Standort der Wäh-
ler - mit der Enttäuschung über die stecken gebliebene Revolution und ihre gescheiterte Fortsetzung bzw. mit der Empörung über den Versailler Vertrag und mit der Anziehungskraft der Dolchstoßlegende zusammenhing. Da die USPD der Weimarer Koalition nicht beitreten und die MSPD mit der im Wahlkampf monar-
chistisch und antisozialistisch aufgetretenen DVP nicht koalieren wollte, wechselten die Mehrheitssozialdemokraten in die Opposition. Zentrum, DDP und DVP bildeten eine bürger-
liche Minderheitsregierung unter Reichskanzler

Konstantin Fehrenbach (Zentrum).
Unter diesen Bedingungen musste das 9-Punkte-Programm der Gewerkschaften vom 18. März 1920 weitgehend unerfüllt bleiben. Sozialisierungsideen stand die neue Regierung noch ferner als die alte. Die Freikorps wurden allerdings aufgelöst. Auf Druck der Alliierten schaffte man jetzt auch die Einwohnerwehren ab (in Bayern im Sommer 1921). Nicht wenige ihrer Mitglieder wandten sich den deutschvöl-
kischen Organisationen zu - unter anderem der NSDAP und der SA.

Politische Bildung
Rechtsradikalismus
Im Zuge des Kriegsendes und der Revolution von 1918/19 entstand ein rechtsradikales Lager, dass sich aus zahlreichen konkurrierenden Parteien und Organisationen zusammensetzte ...

In Preußen, wo die Weimarer Koalition ihre Mehrheit behielt, machte die Landesregierung jetzt ernst mit der Demokratisierung des öffentlichen Dienstes. In den folgenden Jahren wurden viele republikfeindliche Beamte aus ihren Positionen entfernt, sodass Preußen, das über 60 Prozent der Fläche und der Bevölkerung der Weimarer Republik umfasste, Republikanern bald als "Bollwerk der Demokratie", Rechtsstehenden als "rote Festung" galt. Demgegenüber entwickelte sich Bayern, der zweitgrößte Flächenstaat, eher in eine andere Richtung. Die MSPD wurde schon während des Kapp-Lüttwitz-Putsches in die Opposition gedrängt, und es etablierten sich rechtskonservative Regierungen unter Führung der BVP. Bayern erwarb sich - je nach politischer Perspektive - den Ruf einer "Ordnungszelle" oder eines "Hortes der Reaktion".

Auflagen

Nach langer Vorbereitung - ohne deutsche Beteiligung - entschieden die Alliierten am 29. Januar 1921 in Paris über Umfang, Zeitdauer und Zahlungsweise der von Deutschland zu erbringenden Reparationen. Die Weimarer Republik sollte ab 1. Mai 1921 226 Milliarden Goldmark (GM) zahlen, verteilt auf 42 Jahre, in Jahresraten von anfangs zwei, später sechs Milliarden GM. Darüber hinaus waren im selben Zeitraum jährlich zwölf Prozent des Wertes der deutschen Ausfuhr (etwa 1-2 Milliarden GM) abzuführen. Frankreich sollte 52 Prozent, England 22 Prozent, Italien zehn Prozent und Belgien acht Prozent der Reparationen erhalten; die restlichen acht Prozent verteilten sich auf sonstige Kriegsgegner.
Die treibende Kraft hinter diesen harten Forderungen war der französische Vorsitzende der alliierten Reparationskommission, Raymond Poincaré, 1922 bis 1924 und 1926 bis 1929 Ministerpräsident und Außenminister seines Landes. Frankreich gedachte - ebenso wie England - mit Hilfe der deutschen Zahlungen seine Nachkriegskrise zu überwinden und seine Kriegsschulden bei amerikanischen Gläubigern (Banken) zu begleichen. Auch erwartete die französische Öffentlichkeit eine nachhaltige Schwächung

Versailles
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Deutschlands, um den als gefährlich empfundenen Nachbarstaat dauerhaft kriegsunfähig zu machen. Vor allem deshalb verfolgte Poincaré seinen Plan, die Reparationsansprüche als Instrument für eine territoriale Revision des Versailler Vertrages zu benutzen: Konnte Deutschland die hohen Forderungen nicht erfüllen, so würden vertraglich festgelegte Sanktionen verhängt, nämlich die Besetzung von Teilen des Industriegebietes an Rhein und Ruhr durch alliierte bzw. französische Truppen.

Schlaglicht
Ruhrbesetzung
Als die Reparationskommission Ende 1922 einen Rückstand in Holz- und Kohlelieferungen meldete, ließ Poincare am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzen. Die französischen und belgischen Truppen sollten die Arbeit der gleichzeitig entsandten Kontrollkommission, die die Reparationsleistungen zu überwachen hatte, absichern. In Deutschland erhob sich ein Sturm der Entrüstung, der alle Parteien- und Klassengegensätze in den Hintergrund treten ließ.

Darin sah Poincaré eine Chance, Frankreichs Ostgrenze allmählich doch noch bis an den Rhein vorzuschieben und das Ruhrgebiet mit seiner Schwer- und Rüstungsindustrie zu kontrollieren.

Londoner Ultimatum

Die deutsche Öffentlichkeit zeigte sich schok-
kiert. Die Pariser Reparationsbeschlüsse waren Wasser auf die Mühlen der konservativen und rechtsradikalen Gegner der Weimarer Repu-
blik; sie gaben der Dolchstoßlegende und der Unschuldspropaganda neue Nahrung. Die Regierung Fehrenbach erklärte die Forderun-
gen für weder annehmbar noch erfüllbar. Auf der Londoner Reparationskonferenz wurde Deutschland am 31. März 1921 ein Ultimatum gestellt: Annahme der Forderungen oder Vorlage von Gegenvorschlägen innerhalb von vier Tagen. Nach der Ablehnung eines deut-
schen Angebots in Höhe von 50 Milliarden GM, begannen alliierte Truppen am 8. März mit der Besetzung der "Sanktionsstädte" Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort. In Deutschland kam es zu einer wochenlangen Regierungskrise, die die KPD zu einem Umsturzversuch verführte.

Ende März 1921 löste sie Arbeiteraufstände in Mitteldeutschland und in Hamburg aus, die jedoch von der preußischen Polizei niederge-
schlagen wurden. Auch polnische Freiwilligen-
verbände hielten die Gelegenheit für günstig und rückten - mit Duldung der französischen Besatzungsmacht - am 2. Mai 1921 in Ober-
schlesien ein, das sich in einer Volksabstim-
mung am 20. März mit großer Mehrheit (60 Prozent) für den Verbleib bei Deutschland entschieden hatte. Sie wurden von deutschen Freikorps vertrieben. Dennoch musste Ost-
oberschlesien aufgrund eines Beschlusses des Völkerbundsrates an Polen abgetreten werden, was in Deutschland neuerliche Verbitterung auslöste und dem Ansehen der Republik schadete.
Da die DVP die Übernahme der Reparations-
verpflichtungen nicht mitverantworten wollte, trat die Regierung Fehrenbach am 4. Mai 1921

zurück. Am Tag darauf verlangten die Sieger-
mächte die Annahme ihrer Forderungen, die sie inzwischen immerhin fast auf die Hälfte verringert hatten: 132 Milliarden GM, Jahres-
zahlungen für Zinsen und Tilgung in Höhe von etwa zwei Milliarden GM, ferner Abgabe von 26 Prozent des jährlichen Exportwertes - ande-
renfalls werde ab 12. Mai das Ruhrgebiet besetzt. Die am 10. Mai neu gebildete Weima-
rer Koalitionsregierung unter Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) sah sich gezwungen, dieses "Londoner Ultimatum" anzunehmen.
Aus der Sicht der Reichsregierung überfor-
derten die Londoner Beschlüsse bei weitem die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und die Zahlungsfähigkeit des deutschen Staa-
tes. Daher rang die Reichsregierung 1921/22 mit den Alliierten ständig um Zahlungsaufschü-
be und um die Umwandlung von Geldzahlun-
gen in Güterlieferungen, damit Staatsverschul-
dung und Inflation nicht außer Kontrolle gerieten. Die französische Regierung hingegen argwöhnte hinter diesen Bemühungen, dass Deutschland seine Zahlungsverpflichtungen zu umgehen versuchte.

Politische Bildung
Deutsch-russisches Abkommen (Rapallo-Vertrag)
Vom 10. April bis zum 19. Mai 1922 fand in Genua eine Weltwirtschaftskonferenz unter Beteiligung Deutschlands statt...

Hyperinflation

Die durch Zinszahlung und Schuldentilgung bereits angespannte Haushaltslage wurde durch die Produktionsausfälle im Ruhrgebiet und die Unterstützung der Ausgesperrten und Ausgewiesenen enorm verschärft. Dieser Kostenlawine, die aus ordentlichen Haushaltsmitteln nicht mehr finanziert werden konnte, versuchte die Regierung mit immer höheren Krediten der Reichsbank und durch immer häufigere Betätigung der Notenpresse Herr zu werden.

Die bereits galoppierende Inflation wurde ab Juni 1923 zu einer Hyperinflation. Die Geldmenge stieg ins Astronomische: Das Giralgeld wuchs auf 500 Trillionen Mark, das umlaufende Bargeld auf fast dieselbe Summe.

Banknoten der Reichsbank
Foto
Reichsbanknoten

Zusätzlich gaben Gemeinden und Großbetriebe "Notgeld" in Höhe von 200 Trillionen Mark aus. 300 Papierfabriken und 150 Druckereien waren mit der Herstellung von Banknoten beschäftigt. Die Kaufkraft der deutschen Währung sank ins Bodenlose, der Dollar-Kurs stieg steil an; es wurden Reichsbanknoten mit immer höherem Nennwert ausgegeben. Die anhaltende Flucht in den Dollar, in Sachwerte und Immobilien beschleunigte sich. Den sprunghaften Preissteigerungen in immer kürzeren Abständen hinkten die Löhne hinterher.

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Schließlich verlor das Geld seine Funktion als Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel:

Statt Bargeld wurden überall Naturalien (beispielsweise Lebensmittel, Zigaretten, Kohle) verlangt. Als der Einzelhandel dazu überging, seine Waren zu horten, kam es zu Hungerdemonstrationen und Plünderungen, im Berliner Scheunenviertel am 5./6. November sogar zu antisemitischen Ausschreitungen.

Gewinner der Inflation waren die Schuldner, die ihre Verpflichtungen schlagartig mit wert-
losem Geld zurückzahlen konnten - vor allem Bauern, die ihre Schulden aus der Vorkriegs-
zeit abschüttelten, und der Staat, der seine Kriegsanleihen bei den Bürgern ablöste. Ferner profitierten Mieter, Pächter und besonders Ex-
portunternehmer, deren Kosten sich nicht nur mit fortschreitender Geldentwertung verringer-
ten, sondern die auch für ihre Produkte im Ausland harte Dollars erhielten. So war es dem devisenstarken Großunternehmer und DVP-Reichstagsabgeordneten Hugo Stinnes schon 1920 bis 1922 gelungen, mit Krediten Eigentumsanteile an mehr als 1600 Betrieben zusammenzukaufen (Siemens-Rhein-Elbe-Schuckert-Union). Sein Geschäfts-
partner Friedrich Flick, ebenfalls DVP-Mitglied, erwarb durch geschickte Börsenspekulationen Industrieanteile im Wert von 100 Millionen GM.

Verlierer waren die Gläubiger, die für "gutes" verliehenes Geld jetzt wertloses zurückerhiel-
ten, ebenso die Bezieher fester Geldeinkom-
men (Arbeitnehmer, Rentner, Vermieter, Ver-
pächter), mit denen man immer weniger kaufen konnte, und die Besitzer von Spargut-
haben.

Währungsreform

Die seit November 1922 amtierende DVP-Zentrum-DDP-Regierung unter dem (partei-
losen) Reichskanzler Wilhelm Cuno musste erkennen, dass der Kampf gegen die Ruhr-
besetzung in den wirtschaftlichen Ruin führte; am 12. August 1923 trat sie zurück. Gustav Stresemann (DVP) bildete ein Kabinett der "Großen Koalition" (SPD - DDP - Z - DVP), verkündete am 26. September das Ende des passiven Widerstandes und leitete eine Wäh-
rungsreform ein.

Biographie
Gustav Stresemann

Bei der am 15. November eingeführten "Rentenmark" (1 Rentenmark = 1 Billion Papiermark [das heißt Inflationsgeld] bei 4,2 Rentenmark für den Dollar) handelte es sich zwar um eine Übergangswährung, doch wurde sie rasch als Zahlungs- und Wertaufbe-
wahrungsmittel akzeptiert. Außerdem schuf sie die Voraussetzung für konstruktive Repara-
tionsverhandlungen. Am 30. August 1924 -

unmittelbar vor In-Kraft-Treten des Dawes-Plans -

Schlaglicht
Dawesplan
Ein unter dem amerikanischen Finanzexperten Charles G. Dawes gebildeter Sachverständi- genausschuss legte im Frühjahr 1924 einen neuen Finanzierungsplan vor, der das Reparationsproblem ausschließlich unter sachlichen Gesichtspunkten und unter Zugrundelegung des wirtschaftlich Möglichen behandelte.

erfolgte ihre Ablösung durch die goldgedeckte, im internationalen Zahlungsverkehr voll konvertierbare "Reichsmark".

Biographie
Charles Dawes

Diktatur in Bayern

Die Empörung in der deutschen Rechten über den Abbruch des passiven Widerstandes lieferte der rechtskonservativen bayerischen Staatsregierung den Vorwand zu einem Schlag gegen die Weimarer Republik. Unter Berufung auf Artikel 48 Abs. 4 WV, der auch einer Lan-
desregierung Notstandsmaßnahmen erlaubte, verhängte sie den Ausnahmezustand über Bayern, ernannte den Regierungspräsidenten von Oberbayern und früheren Ministerpräsi-
denten Gustav Ritter von Kahr zum "besonde-
ren Generalstaatskommissar" und übertrug ihm die vollziehende Gewalt - Kahr verfüge über besonders gute Beziehungen zu den deutschvölkischen Verbänden und sei daher in der Lage, "Störungen der öffentlichen Ord-
nung" zu verhindern. Auf diesen hochverräteri-
schen Versuch, in Bayern eine Rechtsdiktatur zu errichten, reagierte Reichspräsident Ebert sofort mit der Verhängung des Ausnahmezu-
standes über ganz Deutschland. Er übertrug die vollziehende Gewalt auf Reichswehrmini-
ster Geßler; real lag sie dadurch beim Chef der Heeresleitung, General von Seeckt.
Kahr, quasi Diktator, bildete mit General Otto von Lossow, dem bayerischen Wehrkreiskom-
mandeur, und Oberst Hans von Seißer, dem Chef der bayerischen Landespolizei, eine Art "Triumvirat" (Drei-Männer-Bündnis). In den folgenden Wochen ließen sie unter anderem das Republikschutzgesetz in Bayern außer Kraft setzen, sozialdemokratische Selbst-
schutzorganisationen und linke Zeitungen verbieten und mehrere hundert jüdische Fa-
milien, die vor Jahrzehnten aus Osteuropa eingewandert waren ("Ostjuden"), mit faden-
scheinigen Begründungen aus Bayern ausweisen.

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Politische Bildung
Antisemitismus
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Antijudaismus zum Antisemitismus ...

Es sprach sich herum, dass Kahr, Lossow und Seißer auf eine nationale Diktatur hinar-
beiteten. Ihr Vorbild war der erfolgreiche "Marsch auf Rom" der italienischen Faschisten vom 28. Oktober 1922, der seither in deut-
schen Rechtskreisen als wegweisend galt.
Als Lossow am 20. Oktober 1923 vom Reichs-
wehrminister seines Postens enthoben wurde, ernannte Kahr den General zum "Bayerischen Landeskommandanten" und unterstellte ihm die in Bayern stehende 7. Reichswehrdivision "bis zur Wiederherstellung des Einvernehmens zwischen Bayern und dem Reich". Die darauf-
hin fällige Reichsexekution gegen das Land Bayern wusste Seeckt jedoch zu verhindern. Offiziell vertrat er - wie schon beim Kapp-Lüttwitz-Putsch - die Devise: Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr. Inoffiziell sympa-
thisierte er mit dem Münchner Triumvirat: "Die Weimarer Verfassung ist für mich an sich kein noli me tangere (lat.: Rühr' mich nicht an - Anm. d. Red.); ich habe sie nicht mitgemacht, und sie widerspricht in den grundlegenden Prinzipien meinem politischen Denken. Ich verstehe daher vollkommen, dass Sie ihr den Kampf angesagt haben", schrieb er unmiss-
verständlich am 2. November in einem für Kahr bestimmten Brief. Auch wenn er ihn nicht abschickte, kannte das Triumvirat seine politi-
sche Einstellung. Seeckt hielt sich jedoch bei der weiteren Entwicklung geschickt im Hinter-
grund.

Politische Bildung
Kommunistische Umsturzversuche
Ende August 1923 beschloss das Politbüro der KPdSU, einen "deutschen Oktober" mit allen Mitteln zu unterstützen.

Hitler-Putsch

Im Laufe des Jahres 1923 konnte die NSDAP von der krisenhaften Entwicklung stark profi-
tieren. Ihre Mitgliederzahl stieg sprunghaft auf 55000; sie hatte sich in Bayern zur aktivsten rechtsradikalen Kraft entwickelt. Der "Deut-
sche Kampfbund", ein Zusammenschluss der drei radikalsten, von Reichswehroffizieren ausgebildeten Wehrverbände (neben anderen die SA), wurde von Hitler und Ludendorff - inzwischen die Galionsfigur des deutschvölki-
schen Lagers - geleitet. Hitler verkehrte in den besten Münchner Kreisen und galt in Bayern vielen bereits als "deutscher Mussolini", dem ein "Marsch auf Berlin" gelingen konnte. Dem-
gegenüber setzte das regierende Triumvirat auf Seeckt und dessen momentane Verfügung über die vollziehende Gewalt.
Hitler beschloss, die Initiative an sich zu reißen und am 9. November - für die Rechtsradikalen ein Symbol der "nationalen Schmach" - den gegenrevolutionären Umsturz zu wagen. Vorher wollte er die Kahr-Gruppe, die am Abend des 8. November im Münchner Bürger-
bräukeller eine politische Versammlung abhielt, überrumpeln und mitreißen. Die SA umstellte das Lokal, Hitler ließ den Saal mit einem Maschinengewehr in Schach halten und verschaffte sich mit einem Pistolenschuss in die Decke Gehör. Er proklamierte die "nationa-
le Revolution", erklärte die bayerische und die Reichsregierung für abgesetzt und kündigte die Bildung einer "nationalen Regierung" an. Anschließend beschworen der NSDAP-Führer und der erst jetzt herbeigeholte, aber bereitwillig mitwirkende Ludendorff in einem Nebenraum Kahr, Lossow und Seißer, den "Marsch auf Berlin" mitzuorganisieren und in eine Regierung Hitler einzutreten. Das erpresste Triumvirat stimmte dem Putsch zum Schein zu. Einzelheiten wurden besprochen, und das Publikum bejubelte die Einigung. Sicherheitshalber nahm die SA im Saal noch einige prominente Geiseln; dann löste sich die Versammlung auf.
Noch in derselben Nacht - während die SA schon mal die Redaktionsräume und die Druckerei der sozialdemokratischen Tages-
zeitung "Münchner Post" verwüstete - trafen Kahr, Lossow und Seißer Maßnahmen zur Unterdrückung des Putsches. Am Morgen des 9. November musste Hitler erkennen, dass sein Umsturzversuch isoliert bleiben würde. Daran konnte auch ein eilig improvisierter Demonstrationsmarsch des "Deutschen Kampfbundes" um die Mittagszeit nichts mehr ändern. An der Feldherrnhalle stieß der von

Hitler und Ludendorff angeführte, mehrere tausend Personen umfassende Zug auf eine Absperrung der bayerischen Landespolizei. Es kam zu einem Handgemenge und zu einem kurzen Feuergefecht, bei dem 14 Demonstran-
ten und drei Polizisten starben. Die Menge stob auseinander; Hitler floh zu einem Freund und wurde dort einige Tage später verhaftet. Der dilettantische Frühstart der NSDAP machte auch alle anderen Pläne für einen "Marsch auf Berlin" zunichte.
Der anschließende Hochverratsprozess gegen Hitler, Ludendorff und andere geriet zu einer Farce. Die Angeklagten - in den Augen der Richter Männer von "rein vaterländischem Geist" und "edelstem selbstlosen Willen" - durften Propagandareden gegen die Republik und ihre Politiker halten; der Ankläger agierte eher als Verteidiger. Am 1. April 1924 erhielten Hitler und drei weitere Angeklagte lediglich fünf Jahre (ehrenvolle) Festungshaft mit der Aussicht auf Begnadigung nach sechs Monaten; die übrigen kamen mit noch geringeren Strafen davon. Ludendorff wurde sogar freigesprochen. Ferner lehnte es das Gericht ausdrücklich ab, "einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler", gemäß den Bestimmungen des Republikschutzgesetzes als wegen Hochverrats verurteilten Ausländer nach Österreich abzuschieben.

Ablösung Stresemanns

In der sozialdemokratischen Reichstagsfrak-
tion herrschte Empörung darüber, dass die Regierung Stresemann gegen die Rechts-
diktatur des Triumvirates in Bayern praktisch nichts unternahm, gegen die kommunistischen Regierungsbeteiligungen in Sachsen und Thüringen dagegen die Reichswehr einsetzte. Am 2. November 1923 zog die SPD ihre Minister aus dem Kabinett zurück. Als der Reichskanzler am 23. November bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage eine Niederlage erlitt, trat er zurück. Neuer Regie-
rungschef einer bürgerlichen Minderheits-
regierung (DDP, Zentrum/BVP, DVP), der Stresemann als Außenminister angehörte, wurde der Zentrumsführer Wilhelm Marx.
Das Jahr 1923 markierte den Höhepunkt der krisenhaften Nachkriegsentwicklung in Deutschland. Die Hauptkrisen dieses Jahres waren zweifellos die Ruhrbesetzung und die

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Ruhrbesetzung
"(...) die inneren und äußeren Gefahren waren so groß, dass sie Deutschlands ganze Zukunft bedrohten (...)", schrieb der britische Botschafter in Berlin, Viscount d'Abernon, am 31. Dezember 1923 in sein Tagebuch.

durch den passiven Widerstand verstärkte Währungszerrüttung. Diese von außen in die Republik hineingetragene Doppelkrise wurde sowohl von außen als auch von innen gelöst: Frankreich blieb mit seiner überharten Handhabung der Reparationsfrage gegenüber Deutschland im Kreise der Siegermächte isoliert und musste schließlich einlenken.

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Separatistenbewegungen
Seit Ende September 1923 verstärkten sich separatistische Bewegungen ...

Die nach dem Abbruch des (letztlich selbst-
zerstörerischen) passiven Widerstandes durchgeführte Währungsreform, von Sozialdemokraten wie Deutschnationalen mitgetragen, wurde rasch ein Erfolg.
Bei den übrigen Gefahren handelte es sich um gezielt ausgelöste Nebenkrisen, durch die die dafür Verantwortlichen je auf ihre Weise von den Hauptkrisen zu profitieren versuchten und dabei mehr oder weniger aus denselben Gründen scheiterten: Der "deutsche Oktober" musste bereits in Sachsen und Thüringen vorzeitig abgebrochen werden, der "Marsch auf Berlin" gelangte nicht einmal über München hinaus, und der rheinische Separatismus brach kläglich zusammen, weil die Akteure zum Teil außerordentlich dilettantisch vorgingen, vor allem aber, weil eine kommunistische "Diktatur des Proletariats" nach sowjetischem Muster, eine rechtsradikale "Führerdiktatur" nach italienischem Vorbild wie auch eine den Interessen Frankreichs dienende Zerstörung der Reichseinheit jeweils nur einer bestimmten Minderheit der Bevölkerung als erstrebenswer-
tes Ziel galt. Deshalb erreichten die Nach-
kriegskrisen 1923 mit ihrem Gipfel zugleich auch ihr Ende.