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Deutsche Geschichten


Machtergreifung
Das präsidiale Regierungs-
system bot Hitler mit der Machtergreifung die Chance, seinen Eid auf die Verfassung des Weimarer Staates kaltblütig zu nutzen.

"Es ist fast ein Traum", notierte Joseph Goebbels am 30. Januar 1933 in seinem Tage-
buch. "Die Wilhelmstraße (Sitz der Reichskanzlei und ver-
schiedener Ministerien, Anm. d. Red.) gehört uns. Der Führer arbeitet bereits in der Reichs-
kanzlei." Auch wenn der neue Reichskanzler Adolf Hitler
nach der spektakulären Machtübertragung alles tat, um den Eindruck eines honorigen Staatsmannes zu erwecken, die Macht im Regierungsviertel gehörte den Nationalsozialisten noch keineswegs.

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Fackelzug - 30.01.1933
Als am Abend des 30. Januar 1933 Anhänger der Nationalsozialisten den lang ersehnten "Tag der Machtübernahme" mit Fackelzügen durch das Brandenburger Tor feiern, markieren die triumphierenden Kundgebungen auch symbolisch das Ende der Weimarer Republik. Wenige Stunden zuvor hatte Reichspräsident Paul von Hindenburg den Vorsitzenden der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Adolf Hitler, zum neuen Reichskanzler ernannt.

Das Bild von der "nationalsozialistischen Machtergreifung", das von der NS-Propaganda sofort in die Welt gesetzt wurde und am Abend des 30. Januar mit einem Fackelzug durch das
Brandenburger Tor wirkungs-
voll unterstrichen wurde, war zunächst ebenso eine Propa- gandaformel wie die Behauptung, hier vollzöge sich eine "legale Revolution".

Regierungswechsel

Die vorgebliche national-
sozialistische Machter-
greifung war zunächst und
vor allem eine Machtüber-
tragung, bis die National-
sozialisten in einer Verbindung
von staatlichen Eingriffen von oben und der Parteirevolution von unten stufenweise die politische Macht an sich rissen.

Die These von der "legalen Revolution" versuchte die Erwartungen vor allem des bürgerlichen Publikums und der traditionellen Macht-
gruppen zu befriedigen und
die sofort einsetzenden
Terror- und Repressions-
maßnahmen zu vertuschen.
Zugleich wurde damit der politischen Machtübernahme eine Legalität unterstellt, die schon längst unterminiert war. Denn nicht als Führer einer parlamentarisch tragfähigen Mehrheit kam Hitler an die Regierung, sondern durch die

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Zeitzeugenbericht:
Machtergreifung

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Machtergreifung

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Tondokumente zur Machtergreifung

Chronologie
Chronologie 1933-1945

"autoritären Einbruchstellen der Weimarer Verfassung"
(Bracher). Diese waren schon zuvor unter Ausnutzung des Notverordnungsartikels 48 von den Präsidialregierungen geöffnet worden. Zu den Illusionen gehörte schließlich

Machtergreifung
Machtergreifung
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das Konzept der Zähmung, das von konservativen Machtgruppen seit 1930 vertreten wurde. Danach sollten die vorgeblich "positiven" Elemente der NSDAP an das konservative Establishment gebunden werden. Das war auch der Grundgedanke, der hinter der Machtübertragung an Hitler stand und der weiterhin für die politischen Verbündeten Hitlers galt.

Formierung der Diktatur

Kaum etwas deutete am Morgen des 30. Januar 1933 darauf hin, daß mit der Er-
nennung Hitlers zum Kanzler des Deutsch-
en Reiches und der Vereidigung der neuen Regierung tatsächlich ein neues Kapitel in der deutschen Geschichte aufgeschlagen wurde.

Vizekanzler Franz von Papen war zufrieden mit seinem politischen Geschick und vertraute auf die Macht des Reichspräsidenten.

Biographie
Franz von Papen

"Was wollen Sie denn? Ich habe das Vertrauen Hindenburgs", antwortete er auf die skeptische Frage eines konservativen Kritikers. Auch Reichspräsident Hindenburg war zufrieden, sah er doch im neuen Kabinett vor allem vertraute Gesichter, den Reichsaußenminister Konstantin von Neurath, Reichsfinanzminister Lutz von Schwerin von Krosigk und Reichsjustizminister Franz Gürtner. Als der eigentliche starke Mann im neuen Kabinett galt fast allen Beobachtern der neue "Wirtschaftsdiktator", der Partei-
führer der DNVP Alfred Hugenberg, der Wirtschafts- und Landwirtschaftsministerium gleichzeitig übernahm und kommissarisch auch für die entsprechenden preußischen Ministerien verantwortlich war. Um das Konzept der Ein-
rahmung zu vervollständigen, wurde der Führer des "Stahlhelms" Franz Seldte zum Reichsarbeitsminister ernannt. Zudem war vor dem übrigen Kabinett bereits der künftige Reichswehrminister Generalleutnant Werner von Blomberg vereidigt worden, um die Sonderstellung der Reichswehr zu unter-
streichen. Als weitere Bastion gegen die Nationalsozialisten wurde Vizekanzler von Papen zum kommissarischen preußischen Ministerpräsidenten ernannt.

Politische Bildung
Das Ende von Zentrum und DNVP
Der Untergang des katholischen Zentrums und der bayerischen Schwesterpartei BVP vollzog sich nach demselben Mechanismus von Anpassung und Resignation, von organisatorischen Selbstbehauptungsversuchen und Auflösungstendenzen, von staatlichem Zwang und politischen Verlockungen.

Unterschätzung der NSDAP

Die wenigen Nationalsozialisten schienen tatsächlich von Repräsentanten der alten Machtgruppen eingerahmt zu sein: Neben
dem neuen Reichskanzler Adolf Hitler saßen lediglich Wilhelm Frick als Reichsinnenmini-
ster und Hermann Göring als Minister ohne Geschäftsbereich und kommissarischer preußischer Innenminister im Kabinett. Hinzu kam, dass keines der Kabinettsmitglieder der NSDAP über eine größere Regierungs- und Verwaltungserfahrung oder über eine längere parlamentarische Erfahrung verfügte, wenn man von der kurzen Amtszeit Görings als

Reichstagspräsident (seit den Juliwahlen 1932) einmal absah. Hitler hatte zuvor den Reichstag nie betreten, und seine Unterführer hatten die Parlamente in Reich und Ländern nur als Bühne für ihr agitatorisches Auftreten benutzt. Waren sich die Mehrheit der politischen Verbündeten und auch der Gegner darum einig, dass die Nationalsozialisten im für sie ungewohnten Regierungsgeschäft bald politisch abwirtschaften würden, so sollte sich bald das Gegenteil herausstellen.

Politische Bildung
Bücherverbrennungen
Ab April wurden schwarze Listen der Autoren veröffentlicht, die aus dem Geistesleben des neuen Deutschland ausgeschlossen werden sollten...

Politische Bildung
Mittelständische Organisationen
Entscheidend war, dass der neue Staat sich mit seinen wirtschaftspolitischen Ordnungsmodellen scheinbar in Übereinstimmung mit den antigewerkschaftlichen Interessen der Unternehmer befand.

Im April 1933 berichtete der französische Botschafter André François-Ponçet nach Paris: "Als am 30. Januar das Kabinett Hitler/Papen an die Macht kam, versicherte man, dass in der Regierung die Deutschnationalen [...] Hitler und seinen Mitkämpfern Paroli bieten würden, dass die Nationalsozialisten mit der Feindschaft der Arbeiterklasse zu rechnen haben und dass schließlich die Katholiken der Zentrumspartei die Legalität verteidigen würden. Sechs Wochen später muss man feststellen, dass all diese Dämme, die die Flut der Hitler-Bewegung zurückhalten sollten, von der ersten Welle hinweggespült wurden."

Politische Bildung
Die Zerschlagung der Arbeiterparteien
Die Schläge gegen die politische Linke kamen besonders schnell und mit der Wucht des nationalsozialistischen Machtwillens. Der Vernichtungsfeldzug gegen die Kommunisten war von Anfang an Bestandteil und Rechtfertigung der Machtergreifungspolitik.

Dass die Dämme nicht hielten, hatte viele Gründe: Sicherlich war einer davon die Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung, die nun endlich ihre Chance zur Abrechnung mit dem politischen Gegner, zu Aufstieg und Macht gekommen sah. Auch die propagandistischen Verführungskünste der Nationalsozialisten zusammen mit den nationalen Erlösungs- und Veränderungs-
erwartungen des Publikums spielten eine Rolle. Ebenso entscheidend war auch die Schwäche der Dämme in Politik, Verwaltung und Gesellschaft selbst, die äußerlich zwar nach wie vor mächtig wirkten, innerlich schon längst unterminiert waren und an Selbstvertrauen verloren hatten. Die Fackelzüge und Demonstrationsmärsche, die in Berlin von den Braunhemden der NSDAP und kleineren Stahlhelm-Gruppen zur Reichskanzlei und zum Reichspräsidentenpalais geführt und in vielen Städten und Dörfern imitiert wurden, sollten im Selbstverständnis der Nationalsozialisten Ausdruck der "nationalen Erhebung" sein.

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Skeptischen Intellektuellen wie Harry Graf Kessler galten sie noch als "ein wahrer Karneval". Andere, wie der Journalist Jochen Klepper, sahen mit Blick auf die ersten Entlassungen beim Berliner Rundfunk voller Sorge in die eigene Zukunft. Die Angst vor Entlassung und Ausgrenzung erfasste beispielsweise auch den jüdischen Literaturwissenschaftler Viktor Klemperer in Dresden, der in seinen Tagebüchern das Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft detailliert schildert. Doch auch er hoffte wie viele andere, dass es mit dem nationalsozial-
istischen "Spuk" bald ein Ende haben werde. Zu unbedarft erschien die nationalsozialistische Protestbewegung. Die intellektuelle Dürftigkeit ihres Parteiprogramms und ihrer Führungs-
clique, deren geringe politische Erfahrung, die Flucht in den nationalen Mythos und den Kitsch der Parteisymbolik - all das konnte man belächeln und als Beleg für politische Unreife nehmen. Heute wissen wir, dass vom Mythos des "Retters" und "Führers" Massenwirksamkeit ausging und dass die dumpfe Gewalt der SA, die der Publizist
und Pazifist Carl von Ossietzky anfangs
noch mit dem Treiben von "wildgeworden-
en Skatbrüdern" verglichen hatte, Instru-
ment einer Masseneroberungspolitik war.

Reaktionen der Arbeiterbewegung

Auch die politische Linke, der Hitler im Wahlkampf den Kampf angesagt hatte,
sah den "Trommler" in der Abhängigkeit
von Großgrundbesitzern und Schwer-
industriellen und war überzeugt, dass sich
Hitler und die Seinen in dieser Umklam-
merung bald verbrauchen würden. SPD
und KPD waren vom 30. Januar gleicher-
maßen überrascht und reagierten mit überkommenen Rezepten und Erklärung-
en. Politisch waren sie schon längst zu
sehr in der Defensive, um sich noch zu ein-
er starken Gegenwehr formieren zu können.

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Terror im Wahlkampf
Mit den Erlassen wurde nicht nur eine ungleiche Behandlung der Wahlkampfparteien bewirkt, sondern auch der SA-Terror gedeckt. Die Polizei sah tatenlos zu, wie Teilnehmer republikanischer Wahlversammlungen von SA-Truppen angegriffen und wie beispielsweise in einer Versammlung des Zentrums in Krefeld am 22. Februar der ehemalige Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald niedergeschlagen wurde.

Die KPD hielt an ihrer starren dogmatischen "Sozialfaschismus-Theorie" fest. Nach dieser Theorie galt die reformistische SPD-Führung als der eigentliche politische Gegner, da sie
als Hauptstütze der wirtschaftlichen und politischen Eliten in deren Kampf gegen die "revolutionäre Arbeiterbewegung" fungiere und darum gefährlicher sei als der vermeintlich kurzlebige Nationalsozialismus. Der ganze Widersinn einer solchen Propagandathese musste sich in dem Moment erweisen, als nun in Gestalt der nationalsozialistisch geführten Reichsregierung eine wirklich faschistische Gefahr drohte, von der auch die SPD betroffen war. Wirkungslos blieben aber auch Aufrufe von sozialdemokratischen Gewerkschaften und der "Eisernen Front" (ein 1931 geschlossenes Bündnis des sozialdemokratischen Wehrver-
bandes "Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold" mit

Gewerkschaften und Arbeitersportvereinen zum Schutz der Republik).

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Gewerkschaften
Trotz mancher Meinungsverschiedenheiten hatte sich der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) bis zum Januar 1933 bei seinen Entscheidungen im Einklang mit der Sozialdemokratie befunden. Nach den Wahlen vom 5. März suchten aber auch die Gewerkschaftsführer "der Zeit Rechnung zu tragen". In einem Schreiben an Hitler distanzierte sich der ADGB-Vorsitzende Theodor Leipart offen von der SPD.

SPD und Freie Gewerkschaften waren durch den "Preußenschlag" Papens vom 20. Juli 1932 offenbar schon in ihrem Nerv getroffen. Sie hielten weiterhin an ihrem strikten Legalitäts-
kurs fest, um keinen Vorwand für ein Parteiverbot zu liefern. Im übrigen tröstete sich die SPD damit, dass man schließlich auch schon das Sozialistengesetz von Bismarck überstanden habe, und dass die Regierung
Hitler sehr viel eher abwirtschaften werde.

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Verfügung über Polizei und Verwaltung
Vor allem in Preußen verfolgte Göring gnadenlos die politischen Gegner. Entscheidend dafür war die Verfügung über Polizei und Verwaltung und die Tatsache, dass bereits mit dem "Preußenschlag" von Papen im Juli 1932 die demokratischen Bastionen in der preußischen Verwaltung durch Entlassung der republiktreuen Beamtenschaft geschleift worden waren.

Dass die einstmals mächtigste Arbeiter-
bewegung der Welt auch durch die Massen-
arbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise zutiefst verunsichert war und kaum zu einem Generalstreik zu bewegen sein würde, war den Gewerkschaftsführern nach dem 30. Januar 1933 ebenso bewusst wie zuvor am 20. Juli 1932 ("Preußenschlag"). Es fehle, stellte der Herausgeber der Zeitschrift "Weltbühne" Carl von Ossietzky resigniert fest, den "Anhängern der Republik an dem notwendigen Lebens-
willen".

Entscheidung für Neuwahlen

Schon in den ersten Tagen wurden Ent-
scheidungen getroffen, die kaum noch legal
zu nennen waren. Sie griffen auf Planungen
für einen Staatsnotstand durch die Regierung Papen zurück. Die Aushöhlung liberal-demokratischer Verfassungsprinzipien war schon so weit vorangeschritten, dass sich nur noch wenige daran störten und noch weniger bereit und entschlossen zum entschiedenen Widerstand waren. So war sowohl die Ver-
sicherung Hitlers gegenüber Hugenberg, auch nach den Neuwahlen werde sich an der Zu-
sammensetzung der Regierung nichts än-
dern, kaum mit dem Geist der Verfassung in Übereinstimmung zu bringen. Genauso wenig war es Papens Vorschlag in der zweiten Kabinettssitzung vom 1. Februar, es sei "am besten, schon jetzt festzulegen, dass die

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kommende Wahl zum Reichstag die letzte" sein solle und "eine Rückkehr zum parla-
mentarischen System für immer zu ver-
meiden" sei.
In diesem Sinne setzte die Regierung Hitler zunächst die Praxis der Präsidialkabinette
fort. Der Reichskanzler erwirkte vom Reichspräsidenten am 1. Februar die Auf-
lösung des Reichstages. Die Begründung der präsidialen Notverordnung, dass "sich die Bildung einer arbeitsfähigen Mehrheit als nicht möglich herausgestellt" habe, war unrichtig, denn die Gespräche mit dem Zentrum über eine "nationale Regierung" auf breiter Grundlage wurden bloß zum Schein geführt. Und Hitler tat alles, um sie scheitern zu lassen.
Die Neuwahlen zum Reichstag wurden für den 5. März angesetzt. Damit war der zeitliche und politische Rahmen für die erste Phase der Machtergreifung abgesteckt, die ganz
im Zeichen von Aufbruchstimmung und Massenmobilisierung einerseits, von Terror und Entrechtung andererseits standen. Der Wahlkampf war auf den kommenden charismatischen Staatslenker ausgerichtet, auf den "Retter" und "Erlöser", der die Ängste und Sehnsüchte der Wähler mobilisieren konnte und die eigenen Absichten hinter einem Schwall von Mythen und traumatischen
Bildern verbarg.

Hitlers Wahlkampf wurde unter der Parole "Kampf dem Marxismus" primär gegen die beiden Linksparteien geführt. Das entsprach nicht nur dem eigenen Selbstverständnis, sondern konnte sich der breiten Zustimmung des bürgerlichen Deutschlands und der traditionellen Machtapparate sicher sein. Der gleich nach der Machtübertragung an Hitler von den Kommunisten erfolgte Aufruf zu einem Generalstreik (der kaum befolgt wurde) bot den Vorwand für die Notverordnung des Reichspräsidenten "Zum Schutze des deutschen Volkes" vom 4. Februar.
Sie sah massive Einschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit für den Fall vor, dass eine "unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit" drohe oder dass "Organe, Einrichtungen, Behörden oder leitende Beamte des Staates beschimpft oder lächerlich gemacht werden". Das war so dehnbar formuliert, dass man damit gegnerische Parteien nach Belieben mundtot machen konnte. Bis der immerhin noch vorgesehene Beschwerdeweg beim Reichsgericht ausgeschöpft war, hatte die Verordnung ihren politischen Zweck schon längst erfüllt. Das galt vor allem in Preußen, wo Göring die gnadenlose Verfolgung der politischen Gegner im linken Spektrum eröffnete. Goebbels notierte voller Bewunderung: "Göring räumt in Preußen auf mit einer herzerfrischenden Forschheit. Er hat das Zeug dazu, ganz radikale Sachen zu machen, und auch die Nerven, um einen harten Kampf durchzustehen."

Biographie
Hermann Göring

Propaganda und Versprechungen

Der Wahlkampf, den die Nationalsozialisten mit Rundfunk, Film und Flugzeug bis in die Provinz trugen, war ganz auf Hitler abgestellt. Goebbels machte sich zum ersten Reporter seines "Führers", indem er zentrale Hitler-Kundgebungen einleitete und anschließend im Rundfunk, über den die Nationalsozialisten als Regierungspartei nun verfügen konnten, die Stimmung und Botschaft in jede Wohnstube zu übertragen versuchte. "Welch eine Wendung durch Gottes Fügung", jubelte er, als Hitler am 10. Februar im Berliner Sportpalast auftrat, dessen Tribünen mit den Parolen "Kampf dem Marxismus" versehen waren. Hitlers Rede war voller Drohungen an die politischen Gegner und voller Werbungen an die Wähler, die
er pathetisch und ganz im Widerspruch zur Entschlossenheit, die einmal gewonnene Macht nicht aufzugeben, beschwor: "Deutsches Volk! gib uns vier Jahre Zeit - dann richte und urteile über uns. Deutsches Volk, gib uns vier Jahre,

und ich schwöre dir, so wie ich dieses Amt antrat, tat ich es nicht um Gehalt und Lohn,
ich tat es um deiner selbst willen." Um diese verführerische Behauptung einer Identität von Führer und Volk zu bekräftigen, schloss er mit quasi-religiösen Verheißungen auf ein "Deutsches Reich der Größe und der Ehre und der Kraft und der Gerechtigkeit" und einem anschließenden "Amen".

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Hitler Rede im Sportpalast
Erste große Kundgebung der Partei Hitlers im Sportpalast zu Berlin. 8 Tage nach der Regierungserklärung.

Die nicht-nationalsozialistische Presse suchte die Phrasenhaftigkeit und Verlogenheit solcher Hitler-Auftritte zu enthüllen, wenn sie daran nicht mit scheinlegaler Gewalt gehindert wurde. "Wieder die gleichen Anklagen und Versprechungen" überschrieb die Bayerische Volkszeitung einen Bericht. "Der kritische Zuschauer aber verlässt den Saal enttäuscht über die Rede des ,Volkskanzlers'." Doch was zählte in einer solchen emotionalen Situation ein Programm? Werbung und Einschüchterung prägten bereits im Februar 1933 die national-
sozialistische Politik der Machteroberung, aber noch gab es einige rechtsstaatliche Dämme.

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Strategie der Machteroberung
Unsicherheit und ein unbestimmtes Bedürfnis nach Veränderung, prägte die Stimmung der Bevölkerung. Man war von der erdrückenden Last des Alltags zu sehr beladen, um sich für politische Visionen zu begeistern.

Der terroristische Druck auf die Parteien der politischen Linken und das Zentrum mussten
bis zum Wahltag genügen. Die endgültige Abrechnung mit dem politischen Gegner und der Demokratie war in Hitlers Kalkül auf später zu verschieben. "Wir müssen erst die ganzen Machtmittel in die Hand bekommen", hatte Hitler in seiner Rede vor den Industriellen am 20. Februar angekündigt, "wenn wir die andere Seite gar zu Boden werfen wollen."

Reichstagsbrand

Ein unvorhersehbarer Zufall kam zu Hilfe, um dieses Vorgehen noch vor dem Wahltag zu ermöglichen und den scheinbaren Beweis für den kommunistischen Umsturzversuch zu liefern, den die Nationalsozialisten für die Rechtfertigung einer verschärften Repressionspolitik gebrauchen konnten.

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Reichstagsbrandverordnung
Mit der Begründung, dass man "staatsgefährdende kommunistische Gewaltakte" abwehren müsse, setzte die "Reichstagsbrandverordnung" unter Berufung auf den Artikel 48 Absatz 2 der Weimarer Verfassung die verfassungsmäßigen Grundrechte wie die Freiheit der Person, die Meinungs-, Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, das Post-, Brief-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis sowie die Unverletzlichkeit von Eigentum und Wohnung" bis auf weiteres außer Kraft.

In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 brannte der Berliner Reichstag. Gegen 21 Uhr war der Brand bemerkt worden, um 21.27 Uhr wurde der holländische Anarchist Marinus van der Lubbe im Bismarcksaal des brennenden Gebäudes festgenommen.

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Die nationalsozialistische Führung wurde vom Reichstagsbrand offensichtlich überrascht und reagierte zunächst hysterisch. Nach den ersten Informationen über den Täter und von einem Augenzeugen, der kurz vor dem Brand noch kommunistische Abgeordnete im Reichstag gesehen haben wollte, stand für Göring fest: "Das ist der Beginn des kommunistischen Aufstandsversuches, sie werden jetzt losschlagen. Es darf keine Minute versäumt werden." Hitler überbot ihn in der Androhung radikaler Verfolgungsmaßnahmen. "Es gibt kein Erbarmen; wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht. Das deutsche Volk wird für Milde kein Verständnis haben. Jeder kommunistische Funktionär wird erschossen, wo er angetroffen wird. Die kommunistischen Abgeordneten müssen noch in dieser Nacht aufgehängt werden. Alles ist festzusetzen, was mit den Kommunisten im Bunde steht. Auch gegen Sozialdemokraten und Reichsbanner gibt es jetzt keine Schonung mehr."

Ausnahmezustand

Auf diesen Ausbruch einer wilden Bürger-
kriegsmentalität überstürzten sich die Anordnungen an die Polizeibehörden: Alle kommunistischen Abgeordneten und Funk-
tionäre sollten verhaftet werden, auch die SPD und ihre Presse wurden in die Verfolgung einbezogen. Zur Legalisierung der Aktionen schlug der Staatssekretär im preußischen Innenministerium Ludwig Grauert noch in
der Nacht eine "Notverordnung gegen Brand-
stiftung und Terrorakte" vor. Am nächsten Morgen wurde dann unter Verwendung entsprechender Pläne der Regierung Papen für den militärischen Ausnahmezustand der Entwurf einer "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" (Reichstagsbrandverordnung) vorgelegt, dessen Inhalt weit über die nächt-
lichen Vorschläge hinausging und im Laufe des Tages noch verschärft wurde. Nun enthielt der Text einen ganzen Katalog von zum Teil vorhandenen Straftatbeständen, die jetzt nachträglich mit der Todesstrafe bedroht wurden (so insbesondere Hochverrat und Brandstiftung). Hinzu kam die Sanktionierung des zivilen Ausnahmezustand.
Nicht die Reichswehr oder der Reichspräsident, sondern die Reichsregierung und der Innen-
minister konnten über die Ausführung des Ausnahmezustandes entscheiden, der alle verfassungsmäßigen Grundrechte außer Kraft setzte. Die Hysterie der Brandnacht ermöglich-
te es, alle Grundrechte der Weimarer Verfas-
sung bis auf weiteres - und das hieß tatsäch-
lich bis 1945 - außer Kraft zu setzen. Sie beschleunigte zugleich die Selbstlähmung der konservativen Bündnispartner, als sie die Entscheidung über den Ausnahmezustand in die Hände Hitlers und des nationalsozial-
istischen Reichsinnenministers Wilhelm Frick fallen ließen.

Wahlen vom 5. März 1933

Um so erstaunlicher war es, dass in diesem Klima von Rechtsunsicherheit und Gewalt bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 die NSDAP mit 43,9 Prozent und die Deutschnatio-
nalen mit acht Prozent zusammen nur knapp die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhielten; dass umgekehrt das katholische Zentrum und die SPD ihren Stimmenanteil halten und sich damit zum letzten Mal auf die große Geschlossenheit ihres jeweiligen Wählerpotentials stützen konnten. Auch die KPD erreichte trotz der massiven Behinderung und Verfolgung mit 12,3 Prozent ein bemer-

kenswertes Ergebnis. Die Parteien der bürger-
lichen Mitte wurden hingegen endgültig zerrieben. Der Stimmenzuwachs der NSDAP mit 10,8 Prozent gegenüber den Wahlen im November 1932 und 6,5 Prozent gegenüber den Juliwahlen von 1932 enttäuschte die Erwartungen der Parteiführung. Beobachter waren sich einig, dass dieser Zuwachs vor allem auf das Konto Hitlers bzw. des Hitler-Mythos ging, der im Mittelpunkt des Wahl-
kampfes gestanden hatte. Ihre Gewinne schöpfte die NSDAP vor allem aus dem Reservoir der Nicht- und Neuwähler, teilweise auch aus dem Potential der Protestwähler, die bislang KPD gewählt hatten und jetzt im Massensog ihr Heil im anderen Extrem suchten. Der hohe Grad der politischen Mobilisierung spiegelte sich in der Wahlbe-
teiligung, die auf die Rekordmarke von 88,8 Prozent gestiegen war.

Gleichschaltung der Länder

Mit dem Wahltag begann der Prozess der Gleichschaltung in Ländern und Kommunen, aber auch der Verbände und Vereine. Damit brach ein Erdrutsch über Deutschlands Städte und Dörfer herein, der die überlieferte politische Ordnung zerstörte und soziale Netzwerke weitgehend zerstörte. Es war ein Vorgang einer teilweise gewaltsamen, teilweise freiwilligen Gleichschaltung, in dem sich der Macht- und Ausgrenzungswille der nationalso-
zialistischen Führung mit den sozialen Ressentiments der Zukurzgekommenen und in dem sich Aufbruchs- und Erneuerungspathos mit Anpassungsdrang und Opportunismus verbanden.
Die Gleichschaltung der Länder vollzog sich zwischen dem 5. und 9. März 1933 in der bereits bewährten Taktik nationalsozialistischer Machteroberung durch das Ineinandergreifen zweier Strategien: durch revolutionäre Aktionen auf der Straße von unten und durch scheinlegale, administrative Maßnahmen der Reichsregierung von oben. Begründet wurden die Aktionen mit dem Wahlsieg der NSDAP, den man nun in Ländern und Kommunen nachvollziehen müsse. Das entsprach weder den Wahlergebnissen noch den Verfassungs-
grundsätzen des Föderalismus, aber das zählte nicht mehr. Überall forderten die National-
sozialisten die Einsetzung von Reichskommis-
saren oder die Beteiligung an der Landesregie-
rung bzw. die Posten von Bürgermeistern und Polizeipräsidenten. Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, kam es zusätzlich zu organisierten Kundgebungen des sogenannten "Volkszornes". Nationalsozialistische Demonstranten, meistens SA-Männer oder Parteiaktivisten rückten vor die Rathäuser und Regierungsgebäude, verlangten das Hissen einer Hakenkreuzfahne und drohten mit der Blockade bzw. Erstürmung der Gebäude. Dies wiederum nutzte der Reichsinnenminister dann als Vorwand, um unter Berufung auf Artikel 2 der "Reichstagsbrandverordnung" einzugreifen. Er setzte die Landesregierung ab und setzte einen Kommissar, in der Regel den zuständigen Gauleiter der NSDAP oder einen anderen führenden Nationalsozialisten, ein und ernannte auch kommissarische Polizei-
präsidenten. Dass dies in der Regel reibungslos verlief, hatte mit der allgemeinen politischen Resignation der republikanischen Kräfte zu tun. Die eigentliche Schwäche der meisten Länderregierungen lag darin, dass sie wie in Bayern, Württemberg, Hessen, Sachsen und Hamburg keine parlamentarischen Mehrheiten mehr besaßen und nur noch geschäftsführend im Amt waren.

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Tag von Potsdam

Zur gleichen Zeit zeigte das Regime unter der Regie des neuen Propagandaministers Goebbels sein anderes Gesicht, das allemal angenehmer wahrzunehmen war. Gelegenheit dazu bot die feierliche Eröffnung des neuen Reichstages.

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Goebbels Kundgebung
Goebbels proklamiert das "Wiederwachen der deutschen Nation" und spricht vom "einig Volk von Brüdern", was in "keiner Not und keiner Gefahr mehr zu trennen" sei.

Mit dem "Tag von Potsdam" zum Frühlings-
anfang am 21. März inszenierte Hitler und der neuernannte Propagandaminister Joseph Goebbels am Traditionsort preußischer Geschichte die "Versöhnung des alten mit dem jungen Deutschland". Alle waren zum Fest der nationalen Versöhnung aus Anlass der feierlichen Eröffnung des Reichstages geladen: Parteigenossen und Bündnispartner, SA-Führer und Reichswehroffiziere, Männer der Wirtschaft und der Verwaltung, ehemals gekrönte Häupter und Generäle des kaiserlichen Deutschland. Nur Sozialdemokraten und Kommunisten waren nicht geladen. Sie waren, wie Innenminister Frick höhnisch bemerkte, "durch dringende und nützliche Arbeiten [...] in den Konzentrationslagern" am Erscheinen gehindert worden.

Der Tag in Potsdam begann mit Festgottes-
diensten, denn auch Vertreter der Kirchen wollten bei der propagierten nationalen Versöhnung nicht abseits stehen. Danach kam es auf den Stufen der Garnisonskirche zu der millionenfach reproduzierten Begegnung zwischen Hindenburg und Hitler. Der "unbekannte Gefreite des Weltkrieges", im schwarzen Cut, verbeugte sich tief vor dem Reichspräsidenten, der die Uniform eines kaiserlichen Generalfeldmarschalls trug. Im Altarraum der Kirche verharrte Hindenburg vor dem leeren Stuhl des Kaisers und hob grüßend den Marschallstab.

Biographie
Paul von Hindenburg

Hinter dem Stuhl saß der Kronprinz, auch er in preußischer Generals-
uniform. Hitler folgte respektvoll und befangen. Auch das folgende minutiös einstudierte Programm mit Orgelmusik und Choral, einer kurzen Ansprache Hindenburgs und einer betont feierlichen und in den Aussagen allgemein gehaltenen Rede Hitlers war ganz darauf ausgerichtet, den schönen Schein einer "nationalen Vermählung vollzogen zwischen den Symbolen der alten Größe und der jungen Kraft" so Hitler, zu erzeugen. Nach dieser feierlichen Eröffnung begann dann die Arbeit des Reichstages, die in der Konzeption Hitlers nur dessen Selbstabdankung bringen sollte. In der Tat, die "Potsdamer Rührkomö-
die" (Friedrich Meinecke) verfehlte ihre Wirkung im In- und Ausland nicht. Das "Dritte Reich" hatte sich als legitimer Erbe des "Zweiten Reichs" Bismarcks präsentieren und den Eindruck erwecken können, als sei die Zähmung der dynamischen nationalsozial-
istischen Bewegung durch den preußisch-deutschen Konservativismus gelungen.

Ermächtigung

Drei Tage später, bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz in der Kroll-Oper, wo der Reichstag nun in Zukunft tagen sollte, hatte sich die Kulisse völlig verändert. Statt des schönen Scheins der Tradition nun die Drohgebärde der vor und in dem Gebäude aufmarschierten SA-Verbände. Auch Hitler kam nun in Parteiuniform. Reichstagspräsident Göring hatte zuvor schon alle Vorkehrungen getroffen, damit die Zweidrittelmehrheit der Anwesenden und der Stimmen erreicht würde. Denn nach Artikel 76 der Weimarer Reichsver-
fassung benötigten "Beschlüsse des Reichs-
tages auf Abänderung der Verfassung" eine Zweidrittelmehrheit, sofern mindestens auch "zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind." Die 81 KPD-Abgeordneten waren rechtswidrig erst gar nicht eingeladen worden und 26 SPD-Abgeordnete waren bereits verhaftet oder geflohen. Durch einen Geschäftsordnungstrick wurden nun die unentschuldigt fehlenden oder ausgeschlossen-
en Abgeordneten als anwesend gerechnet. Damit war eine Verhinderung oder Verzögerung des Abstimmungsverfahrens durch die parlamentarischen Möglichkeiten der Geschäftsordnung von vorneherein unmöglich. Nun hing alles vom Verhalten des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei (BVP) ab. In mehrtägigen Gesprächen mit den Vertretern des politischen Katholizismus waren Zusagen gemacht worden, auf die Hitler in seiner Rede werbend einging, indem er vor allem die Rechte der Kirchen einzuhalten versprach.

Auseinandersetzungen im Zentrum

Die Verhandlungen mit den Nationalsozialisten im Vorfeld der Reichstagssitzung hatten die Zentrumsfraktion vor eine schwere innere Zerreißprobe gestellt. Gegen den Willen einer Minderheit um Heinrich Brüning und Adam Stegerwald setzte sich der Parteivorsitzende Prälat Ludwig Kaas, ohnehin ein Verfechter einer autoritären nationalen Sammlungspolitik, schließlich durch. Seine Argumente waren durchaus einleuchtend, aber gleichwohl verhängnisvoll. Das Ermächtigungsgesetz ändere in der politischen Wirklichkeit nichts an der Herrschaft Hitlers. Weite Teile der Basis der Partei verlangten nach einem besseren Verhältnis zur NSDAP und seien kaum noch daran zu hindern, in das Lager Hitlers zu wechseln. Schließlich belastete das Zentrum das Trauma des Kulturkampfes unter Bismarck, der mit der Einführung der Alleingültigkeit der Zivilehen und der staatlichen Schulaufsicht zu wesentlichen Einbußen der kirchlichen Disziplinargewalt im öffentlichen Leben beigetragen hatte. Man wollte nicht noch einmal in die Rolle eines Reichsfeindes geraten. Die Zentrumsführung verließ sich auf die Zusagen Hitlers, dass man die bestehenden Länderkonkordate zwischen dem Vatikan und Baden, Bayern und Preußen anerkenne, den christlichen Einfluss auf die Schule respektiere und zusammen mit dem Zentrum ein Gremium zur fortlaufenden Information über die Maßnahmen der Reichs-
regierung bilden werde. Umstritten und nicht belegbar ist die Vermutung, bei der Entschei-
dung des Zentrums für das Ermächtigungsge-
setz hätten auch konkrete Absichtserklärungen über ein Reichskonkordat eine Rolle gespielt, das in der Tat einige Wochen später verhandelt und abgeschlossen wurde. Auch war die Vorstellung, den organisatorischen Kern des katholischen Lagers, nämlich das Verbandsleben, durch diese Entscheidung zu retten, durchaus plausibel. Dass sie bei ihrem Bemühen, "Schlimmeres" zu verhindern, die Wortbrüchigkeit der Nationalsozialisten unterschätzten, wurde erst später erkennbar.

All das aber belegte noch einmal, wie entscheidend für die Erfolge Hitlers neben
dem skrupellosen nationalsozialistischen

Machtergreifung
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Machtwillen die innere Schwäche bzw. Zerstrittenheit der politischen Gegner war. Das gilt auch für die Deutsche Staatspartei, die sich in der politischen Situation des Frühjahrs 1933 nicht anders verhielt und trotz warnender Stimmen dem Gesetz schließlich zustimmte.
Verstärkt haben dürfte die Zustimmung zum Gesetz, die mit 444 Ja-Stimmen gegen 94 Nein-Stimmen endete, auch die Rede Hitlers, die rhetorisch geschickt Werbung und Versprechungen mit Drohungen verband. Die Regierung, so Hitler, biete den Parteien die "Möglichkeit einer ruhigen Entwicklung und einer sich daraus in Zukunft anbahnenden Verständigung" an. Auch die Rechte des Reichstages, des Reichsrates oder des Reichspräsidenten werde man nicht antasten. Zugleich aber drohte Hitler, er sei "ebenso entschlossen und bereit, die Bekundung der Ablehnung und damit die Ansage des Widerstandes entgegenzunehmen." Die Entscheidung über "Frieden und Krieg" läge bei den Abgeordneten selbst. Aber was sollten alle Beschwichtigungen, wenn mit jedem Artikel des "Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich" (Ermächtigungsgesetz) ein Eckstein aus der Verfassung herausgebrochen wurde. Reichsgesetze konnten hinfort auch von der Reichsregierung beschlossen werden; diese Gesetze durften von der Verfassung abweichen; der Reichskanzler konnte anstelle des Reichspräsidenten die Gesetze ausfertigen und verkünden. Artikel 4 des Ermächtigungs-
gesetzes übertrug auch das Recht zum Abschluss von Verträgen mit fremden Staaten allein auf die Reichsregierung. Der fünfte und letzte Artikel war dazu angetan, trügerische Hoffnungen zu nähren. Die Gültigkeit des Gesetzes war auf vier Jahre beschränkt und an die Existenz der gegenwärtigen Regierung gebunden. Doch es sollte noch zweimal verlängert werden und blieb wie die Reichs-
tagsbrandverordnung bis zum Ende des "Dritten Reiches" in Kraft.

Ablehnung durch die SPD

Nur ein Abgeordneter, der sozialdemokratische Parteivorsitzende Otto Wels, wagte es, in maßvoller und würdiger Form unter den drohenden Blicken der SA-Truppen die Ablehnung seiner Partei zu erläutern.

Es war ein Zeugnis von Unerschrockenheit und ein letztes öffentliches Bekenntnis zur Demokratie. Wels begründete die Ablehnung mit den Verfolgungen, die die SPD in der letzten Zeit erfahren habe und mahnte, dass auf Gewalt und Unrecht keine Volksgemeinschaft begründet werden könne. "Ihre erste Voraussetzung ist gleiches Recht." Eine Regierung könne nur Strenge walten lassen, "wenn es nach allen Seiten gleichmäßig und unparteiisch geschieht und wenn man es unterlässt, besiegte Gegner zu behandeln, als seien sie vogelfrei. Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht." Wels schloss sein Bekenntnis zu Rechtsstaat und Demokratie mit einem Gruß an die "Verfolgten und Bedrängten". Hitler stürzte darauf mit äußerster Erregung an das Rednerpult: "Die schönen Theorien, die Sie, Herr Abgeordneter, soeben hier verkündeten, sind der Weltgeschichte etwas zu spät mitgeteilt worden. Vielleicht hätten diese Erkenntnisse, praktisch angewendet vor Jahren, die heutigen Klagen von Ihnen erspart." Es war eine zynische und rhetorisch gekonnte Replik, die sich in das Gewand der radikalen Kritik am sozialdemokratischen Reformismus hüllte und der SPD jeden Anspruch auf die Vertretung nationaler und sozialer Interessen bestritt. Schließlich enthüllte Hitler das revolutionäre, gewalttätige Verständnis der Nationalsozial-
isten von Politik und Recht: "Auch Ihre Stunde hat geschlagen, und nur weil wir Deutschland sehen und seine Not und die Notwendigkeit des nationalen Lebens, appellieren wir in dieser Stunde an den Deutschen Reichstag, uns zu genehmigen, was wir ohnedem hätten nehmen können. Des Rechts wegen tun wir es - nicht weil wir die Macht überschätzen, sondern weil wir uns am Ende mit denen, die vielleicht heute von uns getrennt sind, aber doch an

Deutschland glauben, einst vielleicht leichter finden können. Denn ich möchte nicht in den Fehler verfallen, Gegner bloß zu reizen, statt sie entweder zu vernichten oder zu versöhnen." Zur Täuschung und wegen der plebiszitären Werbung wählte Hitler den scheinlegalen Weg des Ermächtigungs-
gesetzes, um eine politische Ordnung mit möglichst breitem Konsens zu errichten, in der es entweder nur Zustimmung oder Vernichtung geben könne. Tatsächlich beschloss das Ermächtigungsgesetz eine weitere Etappe der nationalsozialistischen Machtergreifung. Der "Völkische Beobachter", das politisch-
propagandistische Massenblatt der NSDAP, bilanzierte zufrieden: "Für vier Jahre kann Hitler alles tun, was notwendig ist für die Rettung Deutschlands. Negativ in der Ausrottung der volkszerstörenden marxistischen Gewalten, positiv im Aufbau einer neuen Volksgemeinschaft."

Stabilisierung des Regimes

Gerade zwei Monate hatte Hitler gebraucht, um sich von seinen konservativen "Bändigern" frei zu machen. Er war nun unabhängig vom Reichspräsidenten und auch von den deutschnationalen Partnern. Eine organisierte Gegenwehr, möglichst noch auf dem Boden der Verfassung, war nun unmöglich geworden. Hitler konnte nun das Gewicht der nationalsozialistischen Massenbewegung auch gegen die konservativen Regierungspartner ausspielen. In ihrem blinden Eifer gegen Parlamentarismus und linke Parteien hatten Papen und Hugenberg übersehen, dass sie nach deren Ausschaltung kein Gegengewicht gegen die Übermacht der NSDAP hatten und dass der Weg zurück zu einer autoritären Verfassung schon längst nicht mehr möglich war. Auch die weitere Stoßrichtung der politischen Dynamik der NSDAP war nun deutlich erkennbar. Allen Beteuerungen zum Trotz war das Gesetz ganz offenkundig nicht legal zustandegekommen. Alle institutionellen Sicherungen, die gegen den Missbrauch eingebaut worden waren, bestanden ein Jahr später nicht mehr. Der Reichstag war völlig gleichgeschaltet, der Reichsrat aufgelöst und das Amt des Reichspräsidenten existierte nach dem Tode von Hindenburgs (1934) als unabhängige Verfassungsinstitution auch nicht mehr. Verfassungswidrig war schon bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz die Zusammensetzung des Reichsrates, der einem verfassungsändernden Gesetz mit einer qualifizierten Mehrheit ebenfalls zustimmen musste. Dort aber saßen seit Mitte März nicht mehr Vertreter demokratisch gewählter Länderregierungen, sondern Beauftragte von Reichskommissaren. Das Ermächtigungsgesetz hat der Stabilisierung des Regimes große Dienste geleistet, und das war sein eigentlicher Zweck. Denn es bot den im formalen Denken großgewordenen konservativen Sympathi-
santen und Beamten die Möglichkeit, das Gewissen zu beruhigen und ihre Vorstellungen von Staat und Recht scheinbar zu befriedigen.

Ende der Parteien

Mit der Zerstörung des Parlamentarismus und der Ausschaltung des Reichstages hatten die Parteien ihren Sinn verloren, längst bevor sie zwangsweise aufgelöst wurden oder sich selbst auflösten. Dass die Auflösung und Gleichschal-
tung der Parteien sich so rasch vollzog, hatte auch damit zu tun, dass dieser Vorgang einherging mit Gleichschaltung der wichtigsten gesellschaftlichen Organisationen und ihres jeweiligen sozialen Umfeldes. So war die Zerstörung der Gewerkschaften, die am 1./2. Mai in einem Wechselspiel von Propaganda und Gewalt erfolgte, Voraussetzung und letzte Etappe im Prozess der Gleichschaltung der SPD. Auch beim Untergang der Parteien gibt es gemeinsame Verlaufs- und Verhaltens-
muster, die wir bei allen Vorgängen finden, die in einer charakteristischen zeitlichen Staffelung und in einer unterschiedlichen Dosierung von Zwang und Gewalt praktiziert wurden. Immer kamen Selbstanpassung und Resignation, die Sorge um die materielle Existenz und

Machtergreifung
Machtergreifung
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berufliche Karriere sowie die nackte Angst vor Repressalien, Einschüchterungen und Verfolgung zusammen. Sie führten zu einer Abnahme der Mitglieder und oft auch zu einem Streit in der Parteiführung, was den National-
sozialisten den tödlichen Schlag erleichterte. Allerdings darf man die kriminellen Energien der Nationalsozialisten bei der Einschüchterung und Verfolgung der politischen Gegner nicht unterschätzen. Sie waren bislang unbekannt und erreichten vor dem Hintergrund einer Verrohung der politischen Kultur und einer Bürgerkriegsmentalität eine neue Dimension.

Durchdringung der gesamten Gesellschaft

Nicht nur das Tempo und die verwirrende Doppelstrategie der Machteroberung und Gleichschaltung, sondern auch die Reichweite dieses Vorganges lähmten jede Gegenwehr. Die Gleichschaltungswelle reichte bis hinunter in die Gemeinden und ihr Vereinsleben. Überall in Rathäusern und Amtsstuben, in Hörsälen und Gerichtsverhandlungen, in Warenhäusern und Banken erschienen im Frühjahr 1933 SA-Leute; überall zwangen "Kommissare" mit fadenscheiniger Berechtigung, die Organisa-
tionen und Institutionen sich von "Demokraten und Juden" personell zu "säubern" und sich Nationalsozialisten zu unterstellen. Das reichte bis hin zu Kleintierzüchtervereinen und der Deutschen Stenografenschaft, bis zu Jugend-
verbänden und kulturellen Einrichtungen. Meist waren es Aktionen lokaler Aktivisten, die für sich selbst nun einen Platz an der "Futterkrip-
pe" suchten. Ihr Aktivismus wurde von der Parteiführung hingenommen bzw. unterstützt, weil er einerseits in die Machteroberungs- und Einschüchterungsstrategie passte, andererseits Unterführern und Parteiaktivisten die Möglich-
keit politischer Betätigung gab. Das Jahr 1933 bedeutete auch für alle Frauen eine einschnei-
dende Zäsur, da sie von nun an systematisch aus der Berufs- und Arbeitswelt herausge-
drängt und entsprechend dem Frauenbild der Nationalsozialisten auf eine Rolle als Hausfrau und Mutter festgelegt wurden. Bei den zahl-
reichen unmittelbar nach der Machtergreifung erlassenen frauenpolitischen Gesetzen handel-
te es sich keineswegs nur um wirtschafts- und familienpolitische Maßnahmen. Dies wird auch aus einem Brief der Berliner Schriftstellerin und Ministerialrätin Gertrud Bäumer deutlich, die 1933 ihrer Ämter enthoben wurde. Darin schreibt sie: "Dass sich die ganzen Entlassun-
gen in unserer Reihe der höheren Beamtinnen gegen die Frauen als solche richten, ist mir gestern bei uns im Ministerium noch einmal bestätigt worden, Frick hat gegenüber den Ambitionen anderer Frauen mit schöner Offenheit gesagt: ,Was haben die Damen in den Ministerien verloren?' Dabei müssen sie zu meiner Genugtuung für meine Arbeit zwei Männer einberufen, einmal weil keiner alle die Gebiete beherrscht, und dann, weil sie auch keiner arbeitsmäßig bewältigt." Zur erfolgrei-
chen Eroberung der Macht gehörte auch die Durchsetzung des Totalitätsanspruches bzw. der Anpassungsbereitschaft im kulturellen Bereich. Auch hier wirkte die Anziehungskraft des Nationalsozialismus, die sich weniger auf eine ideologisch-kulturelle Attraktivität als auf die Erwartung derer stützte, die zur Mitarbeit im neuen Staat bereit waren. Sie erwarteten, dass ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen auf Statusverbesserung oder auf die Erfüllung bestimmter, bislang nicht realisierter Vorstellungen durch den Nationalsozialismus erfüllt würden. Zusammen mit dem Druck von Parteiaktivisten führte diese Einstellung zu einer raschen Gleichschaltung der kulturellen Organisationen. Wie in der politischen Sphäre, so suchte auch im geistigen Bereich die bürgerliche, nationale Intelligenz die Nähe zur neuen Macht und tat alles zu deren pseudo-
intellektuellen Überhöhung.

Judenverfolgung

Zu einem besonderen Schauplatz revolutio-
närer Gewalt von unten und staatlicher Lenkung bzw. nachvollziehender Legitimation von oben wurde die Politik der Judenverfol-
gung.

Video
Videobeitrag
Zeitzeugenbericht: Antisemitischer Alltag

Mit der schrittweisen Machteroberung kamen auch die ideologischen Affekte der nationalsozialistischen Bewegung voll zum Durchbruch. Sie wurden zu Begründung und Lenkung der Straf- und Unterwerfungsaktionen eingesetzt. Schon Ende Februar 1933 war es zu ersten antisemitischen Ausschreitungen von SA-Trupps gekommen, die sich seitdem ständig gesteigert hatten. Jüdische Geschäfte wurden geplündert, ihre Inhaber gequält, verschleppt und nicht selten zu Tode geprügelt. Bald richtete sich der Terror auch gegen jüdische Angehörige freier Berufe, Anwälte und Ärzte.

Literatur
Raul Hilberg -
"Täter, Opfer, Zuschauer"

Die Vernichtung der europäischen Juden wird aus der Sicht aller Beteiligten - Täter, Opfer und Zuschauer - dargestellt.

Die heftigen Reaktionen, die solche Nachrich-
ten auch im Ausland fanden, steigerten noch die Verfolgungswut und animierten Goebbels zu einer Geiselaktion. Mit einem Boykott jüdischer Geschäfte sollten "sich die ausländi-
schen Juden eines Besseren besinnen, wenn es ihren Rassegenossen in Deutschland an den Kragen geht". Nach diesem propagandistischen Anstoß bildete sich ein "Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykott-
hetze" unter Leitung des fanatischen Antisemiten und fränkischen Gauleiters Julius Streicher. Überall im Reich standen am Sonnabend, dem 1. April, SA-Posten vor jüdischen Geschäften und forderten die Kunden drohend auf, die Geschäftsräume nicht zu betreten. Hitler rechtfertigte im Kabinett in bewusster Umkehrung des Tatbestandes das Vorgehen der SA als "Abwehraktion" und unterstrich, "dass diese Abwehr habe organisiert werden müssen, weil sonst die Abwehr aus dem Volk heraus von selbst gekommen wäre und leicht unerwünschte Formen angenommen hätte". Gleichwohl hatte die Aktion auch im Inland nicht die gewünschte Wirkung. Selbst nationalsozialistischen Zeitungen war zu entnehmen, dass die Bevölkerung meist nur reserviert oder bloß neugierig reagiert hätte. Der Boykott wurde darum nicht weitergeführt. Für ihr weiteres Vorgehen nutzten die Nationalsozialisten die Möglichkeiten, die ihnen das am 23. März verabschiedete "Ermächtigungsgesetz" bot.

Auf der Basis des "Gesetzes zur Wiederher-
stellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April wurden danach sowohl die politischen und antisemitischen "Säuberungen" des öffentlichen Dienstes in Reich, Ländern und Gemeinden durchgeführt als auch zum Teil nachträglich legalisiert.

Machtergreifung
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Zum ersten Mal fand damit der staatlich verordnete Antisemitismus Eingang in ein Gesetz; freilich noch in abgeschwächter Form, da nach Intervention des Reichspräsidenten jüdische Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs ausgenommen blieben. Der schönfärberische Titel des Gesetzes sollte, wie in vielen anderen Fällen auch, über die furchtbaren Konsequen-
zen hinwegtäuschen. Darüber hinaus wollte man mit dem Vorgehen gegen sogenannte Parteibuchbeamte, und damit waren republika-
nische Beamte gemeint, die traditionelle Beamtenschaft in ihrem "überparteilichen" ständischen Selbstverständnis ansprechen und zur Mitarbeit im "nationalen Staat" gewinnen. Mit zahlreichen weiteren Gesetzen versuchten die Nationalsozialisten, Juden aus ihren Berufen zu verdrängen, wo immer es staatliche Einflussmöglichkeiten gab. Bis zum April 1934 hatten einige hundert jüdische Hochschullehrer, etwa 4000 jüdische Rechts-
anwälte, 300 Ärzte, 2000 Beamte und ebenso viele Schauspieler und Musiker ihre Arbeits-
plätze verloren. Nur in der Wirtschaft blieb den deutschen Juden noch für einige Zeit Freiraum. Dort wurden sie gebraucht. Die jüdische Gegenwehr war auf Hilfe für die Verfolgten und auf behutsame Versuche beschränkt, wenigstens eine gewisse Autonomie jüdischen Lebens unter dem Regime zu bewahren. Das war nicht viel und nur auf Zeit möglich. Nach einem Jahr nationalsozialistischer Herrschaft hatten rund 37000 jüdische Flüchtlinge Deutschland verlassen, obwohl die Politik der jüdischen Verbände auf Bleiben und nur im Ernstfall auf Emigration ausgerichtet war.

Literatur
Wolfgang Benz, Claudia Curio, Andrea Hammel (HG)-
"Die Kindertransporte 1938/39 - Rettung und Integration"

Die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien sind nach wie vor ein Desiderat der Forschung. Mit diesem Buch stellt eine deutsch-britische Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen den aktuellen Stand ihrer Forschungen vor. Darüber hinaus enthält der Band autobiographische Texte, u.a. von Fred Jordan, Ilse Aichinger und ihrer Zwillingsschwester Helga Michie.

Die meisten Juden blieben in Deutschland zurück, weil sie von einem allmählichen Abklingen der Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen ausgingen, für die es immerhin einige sehr schwache Anzeichen gab. Die gehörten in den Zusammenhang der allgemeinen Konsolidierungs- und Mäßigungspolitik, die das Regime seit dem Sommer 1933 betrieb, um die in einem atemberaubenden Prozess eroberten Machtpositionen in Staat und Gesellschaft erst einmal zu sichern und die konservativen Eliten, die für die Stabilisierung des Regimes unverzichtbar waren, zu beruhigen. Auch wenn nach einem halben Jahr Hitler und die NSDAP sich auf der ganzen Linie durchgesetzt zu haben schienen und tatsächlich die Fundamen-
te des Verfassungsstaates zerstört waren, so wurden die Grenzen der Macht deutlicher. Sie

lagen einerseits in der nach wie vor bestehen-
den Autonomie einiger gesellschaftlicher Macht- und Funktionsträger in Armee, Wirt-
schaft und Bürokratie, auf die das Regime angewiesen war. Andererseits wurden die Grenzen der Macht in der prekären außenpolit-
ischen Situation deutlich, auf die später eingegangen werden soll. Zum Dritten waren sie gemessen an den Erwartungen und Ansprüchen einiger Parteigliederungen und ihrer Führer offenkundig, wozu vor allem Röhm und die SA, aber auch der verhinderte Außenpolitiker Rosenberg oder antikapitalisti-
sche Propagandisten wie Feder zählten.

Politische Bildung
Die „Säuberungen“ der Universitäten und Akademien
An den Universitäten wurden plötzlich Linien der Kontinuität von Friedrich dem Großen zu Hitler, von der Reformation zum National-sozialismus gefunden. Sicherlich waren Opportunismus und Karriereerwartungen dabei im Spiele. Aber es waren auch ein Hochgefühl nationalen Aufbruchs und der scheinbare Schwung der nationalen Revo-lution, die Erfüllung von Träumen jugendbe-wegten und nationalrevolutionären Aufbruchs, die bei nicht wenigen Schriftstellern, Wissenschaftlern und Künstlern das Bedürfnis weckten, nicht abseits zu stehen und sich einzureihen in den "Strom der neuen Zeit".

Alle diejenigen Unterführer, die die nationalsozialistische Revolution weitertreiben wollten, mussten sich seit dem Juli 1933 von dem politischen Taktiker Hitler sagen lassen, dass nun die Revolution abgeschlossen sei und der "freigewordene Strom der Revolution in das sichere Bett der Evolution" hinübergeleitet werden müsse. Die Revolution dürfe kein Dauerzustand werden, vielmehr stünde man nun "in der langsamen Vollendung des totalen Staates". Das wesentliche Ziel der kommenden Phase soll darum lauten: "Der Erringung der äußeren Macht muss die innere Erziehung der Menschen folgen." Innenminister Frick zog daraus die Konsequenz, dass nun die staatliche Autorität und Zentralgewalt wieder gestärkt werden müsse. "Die Partei ist jetzt der Staat geworden. Alle Macht liegt bei der Reichsregierung." Frick traf damit jedoch nicht das Wesen nationalsozialistischer Herrschafts-
politik. Denn der ging es gerade nicht um eine feste Strukturierung, sondern sie war nur zur Festschreibung des unbestimmten und staatsrechtlich unklaren Verfassungszustandes fähig und willens. Damit aber wurde der Prozess unendlicher Dynamik gefördert, indem verschiedene nationalsozialistische Machtgruppen die Gesellschaft durchdrangen und ihr nationalsozialistische Zielvorstellungen aufzwangen. Dies führte am Ende zu einem System eines "wohlgeordneten Chaos", aber nicht zum Bremsen der Dynamik des nationalsozialistischen Regimes. Gerade das macht den Unterschied zu einer bloß autoritären Diktatur aus, die sich auf die Kontrolle von Staat, politischer Öffentlichkeit, Verwaltung und Polizei konzentriert, den übrigen gesellschaftlichen Bereich aber nicht zu durchdringen versucht.

Machtergreifung
Machtergreifung
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Undeutsches Schrifttum

Joseph Goebbels, seit dem 13. März 1933 Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda im Kabinett Hitlers, war der Initiator der schon im Frühjahr 1933 ein-
setzenden Aktionen gegen missliebige, zum Teil jüdische Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler und Publizisten. Am 10. Mai 1933 wurden in Berlin und anderen deutschen Universitätsstädten unter großem pro-
pagandistischem Aufwand Aktionen zur „Verbrennung undeutschen Schrifttums“ von nationalsozialistischen Studenten durchgeführt.
Mit „Feuersprüchen“ wurden als „entartet“ und „undeutsch“ bezeichnete Bücher vieler namhafter Autoren auf den Scheiterhaufen geworfen. Zu den von den Nazis Verfemten gehörten Heinrich Mann, Sigmund Freud, Heinrich Heine, Karl Marx, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Erich Maria Remarque, Erich Kästner und viele andere.

Viele der Verfemten flohen oder wanderten aus, darunter fast alle deutschen Schriftsteller von Rang, einige begingen Selbstmord. In der deutschen Öffentlichkeit wurden diese Vor-
gänge mehr oder weniger hingenommen; Erschrecken zeigte sich nur dort, wo An-
gehörige oder Freunde betroffen waren. Eine der wenigen, die ihrer Empörung öffentlich Ausdruck gaben, war Ricarda Huch. Sie protestierte in einem Brief an den Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste, als diese begann, ihre jüdischen Mitglieder auszuschließen, und erklärte ostentativ ihren Austritt aus der Akademie.

Literatur
H. Welzer, S. Moller, K. Tschuggnall -
"Opa war kein Nazi" - Auszüge der Zeitzeugin Krug

>> Wie aus Vergangenheit Geschichte wird, zählt zu den zentralen Fragen der Geschichtswissenschaft. Weitgehend unbeachtet ist dabei bislang geblieben, in welcher Weise Geschichte vom sogenannten Laienpublikum in Schule, Beruf und Familien rezipiert, angeeignet und umgedeutet wird. Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat in den letzten Jahren mit seinem Forschungsprojekt >>Tradierung von Geschichtsbewusstsein<< die intergenerationelle Weitergabe der NS-Vergangenheit innerhalb von Familien untersucht. Seine desillusionierende Ergebnisse haben öffentliches Erstaunen, Erschrecken und Skepsis ausgelöst.<< WerkstattGeschichte 30/2001

Literatur
H. Welzer, S. Moller, K. Tschuggnall -
"Opa war kein Nazi" - Auszüge des Zeitzeugen Hofer

Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis

Röhm-Affäre

Exponent der Unzufriedenen in der NSDAP nach dem vorübergehenden Abschluß der Machtergreifung war SA-Führer Ernst Röhm, der im Juni 1933 die bisherigen Erfolge für nur ein Teilstück auf dem Weg zum national-
sozialistischen Staat erklärt hatte.

Biographie
Ernst Röhm

Seine Ungeduld warf ein Licht auf einen Bereich, in dem die NSDAP ihren Einfluß nicht hatte ausdehnen können und der ihrem Allein-
herrschaftsanspruch entgegenstand: die bewaffnete Macht. Zwar war das Verhältnis der Reichswehr zur nationalen Regierung Hitler von Wohlwollen bestimmt, aber das änderte nichts an dem Unabhängigkeitswillen der Armee und ihrer Nähe zu der anderen noch unabhängigen politischen Macht, dem Reichspräsidenten. Die Machtverhältnisse waren am Ende der dritten Machter-
greifungsphase im Sommer 1933 zu dem konfliktreichen Dreiecksverhältnis von NSDAP, Armee und Reichspräsident verschlungen, als der historische Zufall die Entwicklung wieder einmal beschleunigte. Das Regime trieb im Frühsommer 1934 auf eine erste politische und auch ökonomische Krise zu. Sie konnte Hitlers Machtstellung empfindlich treffen und vor allem seine Absicht gefährden, die Nachfolge des todkranken Reichspräsidenten Hindenburg anzutreten. Es war eine Bündelung vieler Konflikte, Probleme und Mißstimmungen, die durch Versorgungsmängel und eine in vielen Bereichen noch hohe Arbeitslosigkeit genährt wurden. Vor allem lagen die Krisenursachen in den internen politischen Machtkonflikten.

Der Diktator war in dieser Situation zunächst mehr der Getriebene als der Treibende. Erst als die Gegensätze eskalierten, nutzte er im Bündnis mit der Reichswehrführung und der SS die "Röhm-Affäre", um am 30. Juni 1934 in einem Doppelschlag innerparteiliche Rivalen, den SA-Führer sowie konservative Opponenten ermorden zu lassen.

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Videobeitrag
Die Röhm-Affäre

Es ging darum, Röhm und seine unruhigen "SA-Revoluzzer" zu bremsen, den Ansprüchen der Reichswehr entgegenzukommen und die Gegenpläne der konservativen Partner zu durchkreuzen. Mit seinem entschlossenen Vorgehen wollte Hitler aber auch die ver-
breitete Mißstimmung in der Bevölkerung besänftigen, die infolge der wirtschaftlichen Engpässe sowie des offenkundigen mora-
lischen Fehlverhaltens und des organisa-
torischen Versagens kleinerer NS-Unterführer entstanden war, die ihren Ämtern nicht gewachsen waren oder sich persönlich bereichert hatten.