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Deutsche Geschichten


Die Mauer und ihre Folgen
Der Bau der Berliner Mauer, am 13. August 1961, markiert den tiefsten Einschnitt in der Geschichte der DDR.

Der Bau der Mauer

Am 13. August 1961 errichte-
ten Bautrupps, unterstützt von bewaffneten Kräften, Stachel-
drahtverhaue und Straßen-
sperren an der Sektorengren-
ze. Zugleich unterbrachen die Machthaber den durchgehen-
den Verkehr von S-Bahn und U-Bahn. Wenige Tage später begannen sie mit der Errich-
tung der Mauer aus Beton und Ziegelsteinen.

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Mauerbau in Berlin 1961: Legitimationsversuche der DDR!

Hauseingänge, Fenster und Friedhofspforten, die unmittel-
bar an der Grenze lagen, wurden zugemauert. Die Bau-
trupps machten außerdem die äußere Stadtgrenze West-Berlins sowie die innerdeutsche Grenze undurchlässig. Die Bewohner Ost-Berlins und der DDR durften und konnten den Westen fortan nicht mehr erreichen. Vom 23. August ab

ließ die DDR-Regierung die West-Berliner (im Gegensatz zu den Westdeutschen) nicht mehr nach Ost-Berlin. Familien, Verwandte, Freunde und Kollegen waren voneinan-
der getrennt. All dies wirkte wie ein Schock; die Menschen reagierten mit heller Empörung und mit Zorn. Am 16. August hatten die drei Westmächte gegen die „flagrante und besonders ernste Verletzung des Vier-Mächte-Status" protestiert. Freilich sahen sie, wie schon 1948 und 1953, keinen Weg, die östliche Seite zu einer Abkehr zu bewegen. Ein Versuch, die anfangs noch provisorischen Sperren zu räumen, hätte, so rechneten die Alliierten, den Weltfrieden gefährdet. Gerade eine solche Eskalation wollten die West-
mächte mit ihrer defensiven, auf den Schutz West-Berlins ausgerichteten Politik vermei-
den. Die Abriegelung war zudem genau so angelegt, dass sie keines der „Three Essentials" berührte. Den Deutschen und vor allem den Berlinern kam nach den Jahren der Hoffnungen schlagartig zu Bewusstsein, wie sehr sich ihre Wünsche dem „atomaren Patt" der Großmächte unterzuordnen hatten. Nach einer kurzen

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Die Mauer und ihre Folgen

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Zeitzeugenbericht:
Die Grenze zwischen
Ost und West

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Mauerbau

Chronologie
Chronologie 1961-1972

Vertrauenskrise im Verhältnis

Die Mauer und ihre Folgen
Die Mauer und ihre Folgen
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zu den Alliierten wurde Präsident Kennedy am 26. Juni 1963 begeistert von der Berliner Bevölkerung empfangen. In seiner Rede vor der Freien Universität forderte er dazu auf, „mit den Gegebenheiten fertig zu werden, so wie sie wirklich sind, nicht so, wie sie hätten sein können und wir sie uns gewünscht hätten". In den Jahren nach 1961 baute die SED das Sperrsystem mit rücksichtsloser Konsequenz zur unüberwindbaren Grenze aus. Die Mauer bzw. ein Metallgitterzaun trennten auf einer Länge von 43,1 Kilometern Ost- und West-Berlin und auf einer Länge von 111,9 Kilometern die DDR und West-Berlin. Den Beginn bildete auf der östlichen Seite ein Kontaktzaun, der bei Berühren Ton- und Lichtsignale auslöste. Dahinter lagen ein Kolonnenweg für die Grenzsoldaten, Beobachtungstürme (zuletzt 300), Bunker (zuletzt 22) und Hundelaufanlagen (zuletzt 255). Es folgte ein beleuchteter Kontrollstreifen, begrenzt von einem Graben oder in den Boden gerammten Eisenträgern. Dies sollte den Durchbruch von Fluchtfahrzeugen verhindern. Den Abschluss nach West-Berlin bildeten die Betonplattenwand (ca. vier Meter hoch) oder ein Metallgitterzaun (drei bis vier Meter hoch). Die ungemein harten Strafen für „Republikflucht" und selbst das tödliche Risiko an der Mauer konnten Fluchtversuche nicht verhindern.

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Fluchttunnel

Nach Polizeiangaben gelang es insgesamt 5043 Personen, die Sperranlagen um West-Berlin zu überwinden. Es kamen dabei 80 Personen bei Fluchtversuchen ums Leben, davon 60 Personen durch Schüsse der Grenztruppen. Durch Schusswaffen verletzt wurden 118 Personen. Die Polizei beobachtete überdies 3221 Festnahmen an den Grenzanlagen. Die genauen Zahlen sind nicht bekannt, erst recht nicht die der gescheiterten Fluchtversuche. Das letzte bekanntgewordene Maueropfer war am 8. März 1989 ein Mann, der mit einem Fluchtballon tödlich abstürzte.
Der Aufbau der Sperranlagen veranschaulich-
te, dass sie gegen die eigene Bevölkerung gerichtet waren. Die ursprüngliche regie-
rungsamtliche Begründung vom 12. August 1961, die Sperre wende sich gegen „syste-
matische Abwerbung von Bürgern" und „Menschenhandel", sollte die Tatsache der politisch und wirtschaftlich motivierten Massenflucht nach Westen verschleiern. Ebenso konnte das propagandistische Bemü-
hen der SED, die Mauer als Schutzmaßnahme gegen eine angebliche „imperialistische Aggression" auszugeben, niemand überzeu-
gen. Obwohl von der Partei als Erfolg gefeiert, war sie die ganze folgende Zeit über ein Zeugnis der Schwäche und des fortwährenden Unvermögens, die Menschen wirklich für sich zu gewinnen.

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Grenzkontrollpunkt Marienborn-Helmstedt

Die DDR in den sechziger Jahren

Die Mauer zementierte die Verhältnisse in Deutschland im wahrsten Sinne des Wortes: die Spaltung der Nation in zwei Staaten. Sie symbolisierte und besiegelte die Unfreiheit in der DDR. Die Mauer verhinderte die weitere Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte nach

West-Berlin und in die Bundesrepublik. Sie war daher auch eine wesentliche Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung und die Steigerung des Lebensstandards, die nun ebenfalls in der DDR einsetzten. Die DDR wurde im Laufe der sechziger Jahre zur zweitstärksten Industriemacht im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)

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Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe RGW: Abhängigkeit vom Ostblock!

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RGW-Vorhaben: Lösung der Energiefrage!

und zur wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Partnerin der Sowjetunion. Der RGW war 1949 in Moskau als Organisation zur wirtschaftlichen Integration Ost- und Ostmitteleuropas gegründet worden. Die DDR begann, mit der Bundesrepublik Deutschland um Anerkennung in der Dritten Welt zu wetteifern, und wurde auch von Politikern und Teilen der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik nicht länger als "die Zone" geringgeschätzt, sondern als zweiter deutscher Staat ernst genommen.

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Deutsche Demokratische Republik:
ein Staat wie jeder andere!



Diese Entwicklung steigerte nicht nur das Selbstbewusstsein der DDR-Führung, die sich in wirtschaftspolitischer und ideologischer Hinsicht eine zeitlang vom sowjetischen Vorbild zu emanzipieren suchte, sie förderte auch ein gewisses Eigenbewusstsein der DDR-Bevölkerung. Darin mischte sich der Stolz auf die - im Vergleich zur Bundesrepublik unter viel schwierigeren Bedingungen - vollbrachte Aufbauleistung mit der Einsicht, dass eine Wiedervereinigung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten sei und dass man sich daher im System des "realen Sozialismus" so gut wie möglich einrichten müsse.

Das Neue Ökonomische System

Bis zum Bau der Mauer hatte die DDR-Führung alle wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit der offenen Grenze nach Westen begründet.

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DDR-Schuldoktrin: Bedrohung
aus dem Westen!

Doch im Laufe des Jahres 1962 zeigte sich, dass die Wachstums- und Versorgungs-
schwierigkeiten der DDR-Wirtschaft mit der Schließung der Grenze keineswegs beendet waren. Der Zuwachs der Industrieproduktion beispielsweise lag 1962 auch nicht höher als im Krisenjahr 1961, und das National-
einkommen wuchs 1962 um nur einen Prozentpunkt gegenüber 1961.

Die Mauer und ihre Folgen
Die Mauer und ihre Folgen
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Im Kreis der Wirtschaftsfunktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), die den VI. Parteitag vorbereiten sollten, wuchs die Einsicht, dass das bisherige System der Planung und Lenkung der Volkswirtschaft reformiert werden musste, wollte die DDR wirtschaftliches Wachstum mit einer besseren Versorgung der Bevölkerung verbinden. Auf dem VI. Parteitag der SED (15. bis 21. Januar 1963) kündigte Walter Ulbricht eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik nach dem "Grundsatz des höchsten ökonomischen Nutzeffekts" und der "materiellen Interessiertheit" an.

Biographie
Walter Ulbricht

Wie wichtig diese Neuorientierung genommen wurde, zeigte sich auch in den personalpolitischen Entscheidungen des Parteitages: Eine Reihe von Wirtschafts-
spezialisten rückte ins Politbüro der SED ein. Am 24./25. Juni 1963 verabschiedete eine gemeinsam vom Zentralkomitee (ZK) der SED und dem Ministerrat einberufene Wirtschafts-
konferenz die "Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖS). Sie wurde am 15. Juli vom Staatsrat der DDR als Richtlinie der künftigen Wirtschaftspolitik beschlossen.
Die DDR-Führung hielt damit an den Grund-
prinzipien der sozialistischen Wirtschaftspolitik - dem staatlichen Eigentum an Produktionsmit-
teln und der zentralen Planung - fest, versuch-
te aber, ihre Zentralverwaltungswirtschaft leistungsfähiger und flexibler zu machen, indem sie in verstärktem Maße die technisch-wissenschaftliche Intelligenz in die Planung und Leitung einbezog und "materielle Hebel" zur Steigerung der individuellen und betrieblichen Leistungen ausnutzte. Die Betriebe sollten in begrenztem Maße selbst über die Verwendung erzielter Gewinne entscheiden können. An die Stelle des bisherigen primär auf Mengenpla-
nung und zentrale direkte Steuerung ausge-
richteten Systems trat eine Planfestsetzung, die mehr auf indirekte Steuerung durch Zinsen, Prämien, Abgaben und Preise setzte. Durch Festlegung neuer Arbeitsnormen und Leistungskennziffern und durch ein System von Geld- und Urlaubsprämien sollten Werktätige und Betriebsleitungen zu größeren Leistungen angespornt und damit Rentabilität und Produktivität der DDR-Wirtschaft insgesamt gesteigert werden.

Schlaglicht
Das »Neue Ökonomische System« der DDR
Zur Reformierung des Wirtschaftssystems verordneten das Zentralkomitee der SED und der Ministerrat der DDR im Juni 1963 die Einführung des »Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft«. Danach sollte die Staatliche Plankommission jeweils für fünf bis sieben Jahre einen Perspektivplan aufstellen und mit den unteren Organen entsprechende Jahrespläne ausarbeiten.

Bei der Umsetzung des NÖS in die Praxis traten alsbald Schwierigkeiten auf. Ein wirklicher Kosten-Nutzen-Vergleich war nicht möglich, da auch die bis 1967 in drei Etappen durchgeführte Industriepreisreform nicht die geforderten "kostengerechten Preise" fest-
setzen konnte. Das komplizierte System der Löhne, Prämien und Urlaubsvergünstigungen führte nicht nur zu Leistungssteigerungen, sondern auch zu Unzufriedenheit bei den Betroffenen. Die Leistung und damit die Ent-
lohnung waren oft abhängig von Faktoren, die nicht der einzelne Arbeiter, sondern die Betriebsleitung oder die zentrale Planung zu verantworten hatten: fehlendes Material, veraltete Maschinen, mangelnde Ersatzteile. Als grundsätzliches Problem erwies sich

letztendlich, dass die Stärkung der Eigenver-
antwortlichkeit und Eigeninitiative der Betriebe das Prinzip der zentralen Planung und einheitlichen Strukturpolitik durchlöcherte und damit auch den Führungsanspruch der SED gefährdete.

Zweite Phase

Das ZK der SED zog daraus auf seiner 11. Tagung (Dezember 1965) die Konsequenzen und leitete die sogenannte zweite Phase des Neuen Ökonomischen Systems ein, die bis 1967 dauerte. Wenige Tage vor Beginn des 11. Plenums erschoss sich Erich Apel, der Leiter der staatlichen Planungskommission, mit dessen Namen und Tätigkeit das NÖS von Anfang an eng verbunden war. Apels Selbstmord wurde in Zusammenhang mit der Wirtschaftsreform gebracht. Dass diese aber fortgeführt werden sollte, dokumentierte die Ernennung seines Nachfolgers: Günter Mittag, Sekretär für Wirtschaft im ZK der SED, galt ebenfalls als Reformer und war der zweite Mann hinter Apel gewesen. Grundsätzlich hielt die SED an der Wirtschaftsreform fest.

1966 und 1967 wurde die Zahl der zentral vorgegebenen Kennziffern erheblich reduziert. Im Januar 1966 wurden acht Industriemini-
sterien gebildet (wie beispielsweise die Ministerien für Chemische Industrie, für Elektrotechnik, für Leichtindustrie), die die zum jeweiligen Industriezweig gehörenden Vereini-
gungen Volkseigener Betriebe (VVB, die Konzernspitzen der angegliederten volkseige-
nen Betriebe) leiten, koordinieren und kontrollieren sollten.

Vor allem änderten sich das ideologische und das politische Umfeld nach der Tagung: Das Plenum fasste nämlich auch weitreichende Beschlüsse, die einem Kahlschlag der bisheri-
gen Kultur- und Jugendpolitik gleichkamen.

Politische Bildung
Jugendpolitik
In der Rhetorik und Politik der SED spielte die Jugend eine große Rolle: Der Jugend gehörte die Zukunft, sie war nicht belastet von der Vergangenheit, sie würde den Sozialismus verwirklichen. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) - die einzige Massenorganisation für Jugendliche ab 14 Jahren - war ständig bemüht, die Jugendlichen für den Aufbau des Sozialismus zu begeistern und zu staatstreuen Bürgerinnen und Bürgern der DDR zu erziehen.

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Gründung der FDJ 1946: Jugendverband nach sowjetischem Vorbild!

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Ostsektor

Repressive Maßnahmen gegen kritische Künstler und Wissenschaftler wurden eingeleitet und der Staatssicherheitsdienst drastisch ausgebaut.

Politische Bildung
Oppositionelle Kritik
Die Liberalisierung fand allerdings dort ihre Grenzen, wo das Herrschaftssystem direkt kritisiert wurde.

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Politische Bildung
Harter Kurs
Am 11. Oktober 1965 berieten in Abwesenheit Walter Ulbrichts das ZK-Sekretariat und weitere Spitzenfunktionäre unter Leitung des damaligen Sekretärs für Sicherheitsfragen des ZK der SED Erich Honecker über aktuelle Probleme der Jugendarbeit. Die Versammelten kamen zu dem Schluss, dass "Entstellungen der Jugendpolitik der Partei" korrigiert werden müssten.

Mit den kulturpolitischen Beschlüssen des 11. Plenums unterstrich die SED-Spitze ihren Anspruch auf das Machtmonopol in der DDR. Zugleich sorgte sie dafür, dass die Wirtschafts-
reform von einer "Reform des ganzen Volkes" - so der Anspruch 1963 - zu einer Reform wurde, an der nur noch die Führungskader der Wirtschaft und des zentralen Partei- und Regierungsapparats beteiligt waren.

Politische Bildung
Bildungspolitik
Am 25. Februar 1965 folgte das Gesetz über das "einheitliche sozialistische Bildungssystem". In seinen Auswirkungen für den Alltag und den Lebensweg der DDR-Jugendlichen war dieses Gesetz von großer Bedeutung, denn es legte Inhalt und Organisation des DDR-Bildungswesens bis zum Ende der DDR fest.

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Anfangszeit der FDJ: Grundrechte der Jugend?

Der VII. Parteitag der SED (17. bis 22. April 1967) verkündete schließlich den Übergang vom Neuen Ökonomischen System der Pla-
nung und Leitung zum Ökonomischen System des Sozialismus (ÖSS) und das Konzept der "strukturbestimmenden Aufgaben". Das ÖSS brachte weitere Fortschritte in der Entwicklung eines flexiblen Preissystems. Die Betriebe erhielten größere Entscheidungsbefugnisse.

Auch im ÖSS wurde der Abbau der Planaufla-
gen fortgesetzt. Im Widerspruch dazu aber stand die Einführung der "strukturbestimmen-
den Aufgaben". Investitionen und der Bau neuer Anlagen sollten sich nunmehr auf einige "Fortschrittsindustrien" konzentrieren, wie die

Elektrotechnik und den Werkzeugmaschinen-
bau. Für diese Schwerpunktprogramme galten wieder umfassende Plankennziffern. Die forcierte Förderung dieser Sektoren sollte die Leistungen der DDR-Industrie auf Weltniveau bringen und den Stand der Bundesrepublik erreichen. Vor allem im Bereich der Automati-
sierung hatte die DDR-Industrie einen großen Nachholbedarf. Unter dem Motto "Überholen ohne einzuholen" sollte dieser Rückstand so schnell wie möglich beseitigt werden.
In seinen ersten Jahren hatte das NÖS positive Auswirkungen auf die Entwicklung der DDR-Wirtschaft, vor allem auf die Industrieproduk-
tion. Das Fernziel, den Westen einzuholen, oder gar zu überholen, hat es - auch in seinen Abwandlungen - jedoch nie auch nur annähernd erreicht. Das gesamtwirtschaftliche Wachstum verlief recht stetig: Zwischen 1960 und 1969 stieg das Bruttosozialprodukt in der DDR jährlich um durchschnittlich knapp fünf Prozent. Angesichts der forcierten Förderung der industriellen Schwerpunktbereiche sagen diese Zahlen allerdings noch nichts über den Lebensstandard der Bevölkerung aus. Dass sich auch dieser verbesserte, lässt sich aus der Versorgung mit langlebigen Konsumgütern erkennen.
Die Löhne stiegen zwischen 1960 und 1970 langsam an: Lag der durchschnittliche Bruttolohn je Arbeitnehmer 1960 bei 501 Mark monatlich, so war er 1965 auf 552 Mark und 1970 auf 647 Mark gestiegen. Höhe und Kauf-
kraft der Einkommen blieben zwar hinter denen in der Bundesrepublik zurück, doch die staatliche Subventionierung der Grundnah-
rungsmittel und der Mieten garantierte eine auskömmliche Sicherheit. Das Auftreten von Versorgungsengpässen vor allem bei hochwer-
tigen Lebensmitteln und Konsumgütern konnte jedoch nie beseitigt werden. Vernachlässigt wurde in den sechziger Jahren der Wohnungs-
bau. Die niedrigen Mieten trugen mit dazu bei, dass der vorhandene Bestand an Wohnungen wenig gepflegt wurde. Im Vergleich zu den fünfziger Jahren war die DDR-Bevölkerung wirtschaftlich und sozial besser versorgt. Im Vergleich zum Lebensstandard der Bundesrepublik blieb freilich ein Rückstand, der sich im Lauf der sechziger Jahre vergrößerte und von den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern auch so wahrgenommen wurde. Das galt vor allem für die Qualität der Konsumgüter, die nie "Westniveau" erreichte. Verglichen mit den übrigen Ländern des RGW verlief die Entwicklung der DDR-Wirtschaft in den sechziger Jahren eindeutig positiv. Die DDR stieg zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht des RGW nach der Sowjetunion auf. Der Abschluss eines langfristigen Handelsabkom-
mens am 3. Dezember 1965 festigte die Stellung der DDR als größter Außenhandels-
partnerin der Sowjetunion, was allerdings auch eine gewisse Abhängigkeit einschloss. Im Hin-
blick auf Pro-Kopf-Einkommen und Lebens-
standard stand sie in diesen Jahren vor oder neben der »SSR an der Spitze der RGW-Länder, gefolgt von Ungarn, während Polen, Rumänien, Bulgarien und auch die UdSSR dieser Spitzengruppe erheblich hinterher-
hinkten.

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Abgrenzung nach Westen

Die mit dem Mauerbau zementierte Absper-
rung der DDR nach Westen stand im Wider-
spruch zur gesamtdeutschen Rhetorik der DDR-Verfassung und der SED-Propaganda.

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1961 - Jähe Trennung zwischen Ost
und West durch den Mauerbau!

Diesen Widerspruch aufzulösen, war Aufgabe des "nationalen Dokuments", das der Nationalrat der Nationalen Front (Zusam-
menschluss aller politischen Parteien und Massenorganisationen der DDR unter Führung der SED) am 25. März 1962 unter dem Titel "Die geschichtliche Aufgabe der DDR und die Zukunft Deutschlands" veröffentlichte. Walter Ulbricht erklärte dazu, dass die "deutsche Nation heute in zwei Staaten gespalten ist, die sich auf dem Boden Deutschlands feindlich gegenüberstehen".

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Grenzwächter

Der Sieg des Sozialismus sei eine historische Gesetzmäßigkeit, die sich auch in West-
deutschland vollziehen werde. Erst dann sei die Einheit Deutschlands wiederzuerlangen. Bis dahin sei die Stärkung der DDR der entschei-
dende Beitrag zur nationalen Einheit.
Der VI. Parteitag der SED bestätigte im Januar 1963 das "Nationale Dokument" noch einmal förmlich. Danach traf die DDR-Führung aber eine Reihe von Entscheidungen, die das Ziel verfolgten, die DDR weiter von der Bundesre-
publik Deutschland abzugrenzen.
Am 2. Januar 1964 wurden neue Personalaus-
weise eingeführt, in denen erstmals als Staats-
angehörigkeit "Bürger der Deutschen Demo-
kratischen Republik" eingetragen war. Hier zeichnete sich bereits die Aufgabe der gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit ab, die das Staatsangehörigkeitsgesetz vom 20. Februar 1967 dann gesetzlich fixierte.
In der Präambel zum "Gesetz über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demo-
kratischen Republik" hieß es: "Mit der Grün-

dung der DDR entstand in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht die Staatsbürgerschaft der DDR. Sie ist Ausdruck der Souveränität der DDR und trägt zur weiteren allseitigen Stärkung des sozialistischen Staates bei."
In seinen Schlussbestimmungen setzte das Staatsbürgergesetz die bisherige gesetzliche Grundlage für die gemeinsame Staatsange-
hörigkeit der Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR, das Reichs- und Staatsange-
hörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913, außer Kraft. Diese Entscheidung widersprach der DDR-Verfassung, die noch von einer - gemeinsamen - deutschen Staatsangehörig-
keit ausging. Die Bundesregierung kommen-
tierte am 20. Februar 1967 das Staatsbürger-
gesetz der DDR mit den Worten: "Es gibt nicht zwei Völker, es gibt nur ein deutsches Volk. [...] Die Bewohner im anderen Teil Deutsch-
lands bleiben deutsche Staatsangehörige nach Maßgabe des Deutschen Reichs- und Staats-
angehörigkeitsgesetzes vom 22. Juli 1913 und haben Anspruch darauf, von allen deutschen Behörden im Inland und Ausland als solche behandelt zu werden".

Verfassung von 1968

Im Februar 1968 wurde der Entwurf einer neuen "sozialistischen" Verfassung der DDR veröffentlicht. Es folgte eine "Volksausspra-
che", an der sich in über 750000 Veranstal-
tungen die Partei-, Massen- und Betriebsor-
ganisationen beteiligten, die aber - vermutlich wegen der Vorboten des "Prager Frühlings" - recht bald von der Staatsführung beendet wurde. Sie erbrachte nur Textänderungen und diente in erster Linie der Bekanntmachung des neuen Verfassungstextes. Immerhin wurde gegenüber dem Entwurf die Gewissensfreiheit in die Verfassung aufgenommen. Die Volks-
kammer nahm die neue Verfassung am 26. März 1968 an und ließ sie am 6. April 1968 durch einen "Volksentscheid" bestätigen. Bereits am 9. April 1968 wurde die neue DDR-Verfassung verkündet.

Hatte sich die erste DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949 formal noch stark am Vorbild der Weimarer Reichsverfassung orientiert und den Gedanken der deutschen Einheit vielfach berücksichtigt, so war die neue Verfassung nach dem Vorbild der Volksdemokratien gearbeitet. Sie betonte die führende Rolle der SED und drängte die Idee der deutschen Einheit in den Hintergrund. Artikel 1 erklärte: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus

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verwirklichen."

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Sprengung der Uni-Kirche Leipzig

Die neue Verfassung gab den gesamtdeutschen Geltungsanspruch der alten auf, formulierte in Artikel 8 aber eine Art Wiedervereinigungswunsch: "Die Deutsche Demokratische Republik und ihre Bürger erstreben darüber hinaus die Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschlands, die schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus". Wie im "Nationalen Dokument" von 1962 war eine Wiedervereinigung in den Augen der DDR-Führung also nur unter kommunistischen Vorzeichen möglich. Indem sie ihren Klassencharakter und die führende Rolle der SED betonte, entsprach die neue Verfassung den realen Machtverhältnissen in der DDR eher als die alte. Allerdings legte auch sie nicht die wahren Machtverhältnisse - die Entscheidungsgewalt des Politbüros und die allgegenwärtige Kontrolle des Staatssicherheitsdienstes - offen, sondern suggerierte im Abschnitt über die Staatsorganisation einen Staatsapparat, der auf Gewaltenteilung und Volkssouveränität beruhte, was der Realität keineswegs entsprach. Auch die DDR-Verfassung von 1968 garantierte die traditionellen bürgerlichen Grundrechte wie Freiheit der Persönlichkeit, der Medien, des Glaubens, des Gewissens und das Recht der Versammlungsfreiheit. Im Gegensatz zur Verfassung von 1949 fehlten aber das Widerstandsrecht, das Verbot einer Pressezensur, das Auswanderungsrecht und das Streikrecht. Anders als nach bürgerlich-liberalem Verständnis dienten die Grundrechte jedoch nicht dazu, den Bürgerinnen und Bürgern einen Freiraum gegenüber dem Staat zu sichern.
Die Verfassung ging vielmehr von einer grundsätzlichen Interessenidentität zwischen Bürgern und Staat aus, und so waren auch die Grundrechte an die sozialistischen Grundsätze und Ziele der Verfassung gebunden.

Politische Bildung
Neues Strafrecht
Am 12. Januar 1968 billigte die Volkskammer ein neues Strafgesetzbuch und eine neue Strafprozessordnung der DDR. Das Strafgesetzbuch trat ab 1. Juli 1968 an die Stelle des alten deutschen Strafgesetzbuches von 1871, das zu Teilen bis dahin auch für die DDR noch Gültigkeit besessen hatte.

Diese bildeten eine Art von höherem Recht, das die Grundrechte einschränkte. Im übrigen setzte das Strafrecht der Verwirklichung der Grundrechte enge Grenzen.

Die DDR zwischen Moskau und Bonn

Ziel der DDR-Außenpolitik war es, die interna-
tionale Isolierung zu durchbrechen und die völkerrechtliche Anerkennung als souveräner Staat zu erreichen.

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Weltjugendfestspiele in Ost-Berlin

Die Errichtung der Mauer schien die DDR diesem Ziel ein Stück näher gebracht zu haben. Dennoch wurde die DDR-Führung die Sorge nicht los, dass die Sowjet-
union den USA und der Bundesrepublik Zugeständnisse auf Kosten der DDR machen könnte. Die Einleitung der Entspannungspolitik zwischen den Supermächten und die seit 1963 von der SPD propagierte "Politik der kleinen Schritte", die zu einem Wandel des DDR-Systems durch Annäherung führen sollte, erregte in Ost-Berlin großes Misstrauen. Um sich des Rückhalts der Sowjetunion zu versichern, forderte die DDR-Führung nach dem Bau der Mauer immer wieder nachdrück-
lich den Abschluss eines Friedensvertrages zwischen der Sowjetunion und der DDR, der West-Berlin zur freien entmilitarisierten Stadt und zur "selbständigen politischen Einheit" machen sollte. Die sowjetische Führung unter Chruschtschow unternahm aber nichts, um einen solchen Separatfriedensvertrag abzu-
schließen. Vielmehr belehrte Chruschtschow Ulbricht im Januar 1963: "Sie (die sozialisti-
schen Länder) haben die Grenze mit West-Berlin ihrer Kontrolle unterstellt.

Biographie
Nikita S. Chruschtschow

Und das war der wichtigste Schritt zur Festigung der Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik". Statt eines separaten Friedensvertrags wurde am 12. Juni 1964 der "Vertrag über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR" unterzeichnet. Artikel 1 und 4 dieses Vertrages fixierten die Anerkennung der DDR durch die Sowjetunion noch einmal vertraglich. Artikel 5 und 8 unterstrichen die "unverbrüchli-
che Freundschaft" zwischen beiden Staaten. In einigen Punkten unterstützte der Vertrag die Auffassung der DDR-Führung in der Deutschland- und Berlin-Politik, so wenn in Artikel 7 "gleichberechtigte Verhandlungen und eine Verständigung zwischen beiden souverä-
nen deutschen Staaten" als Voraussetzung für "die Schaffung eines friedliebenden, demokra-
tischen, einheitlichen deutschen Staates" genannt wurden oder in Artikel 6 West-Berlin als "selbständige politische Einheit" bezeichnet wurde. Andererseits enthielt der Vertrag auch Passagen, die als Entgegenkommen gegen-
über westlichen Positionen interpretiert werden

Die Mauer und ihre Folgen
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konnten. Das galt wiederum für die Berlin-Problematik. Hier war die vor dem Mauerbau von der DDR und der Sowjetunion gemeinsam erhobene Forderung nach einer entmilitarisier-
ten "freien Stadt" durch die Formel ersetzt worden, dass West-Berlin als "selbständige politische Einheit" zu "betrachten" (und nicht zu "behandeln"!) sei. Da nach Artikel 9 die Rechte und Pflichten der Sowjetunion aus dem Potsdamer Abkommen für Deutschland als Ganzes nicht berührt wurden, stellte der Vertrag auch den Viermächtestatus von Berlin nicht ausdrücklich in Frage. Und wenn in Artikel 2 und 10 vom "Abschluss" eines deutschen Friedensvertrages die Rede war, so konnte das als endgültiger Verzicht auf einen Separatfrieden zwischen der DDR und der Sowjetunion gedeutet werden. Die DDR-Führung zeigte im Herbst 1964 eine gewisse Bereitschaft, der Bundesrepublik in Fragen menschlicher Erleichterungen entgegen-
zukommen, ohne auf der völkerrechtlichen Anerkennung zu bestehen. Am 24. September 1964 wurde ein weiteres Passierscheinabkom-
men mit dem Berliner Senat abgeschlossen, das für die DDR insofern von Interesse war, als es die Drei-Staaten-Theorie und die Behauptung von der "selbständigen politischen Einheit" West-Berlin zu stützen schien. Am 9. September 1964 wurde allen im Rentenalter stehenden Bürgerinnen und Bürgern der DDR erlaubt, jährlich eine Besuchsreise von bis zu vier Wochen zu Verwandten in die Bundesre-
publik und nach West-Berlin zu unternehmen. Ihr erster Ausbruch aus der weltpolitischen Isolierung gelang der DDR-Außenpolitik Anfang 1965: Ägyptens Staatspräsident Gamal Abd el Nasser lud Walter Ulbricht zu einem Staatsbesuch ein. Auch wenn dieser Besuch, der international großes Aufsehen erregte (vgl. auch Seite 8), noch nicht die Anerkennung der DDR durch Ägypten oder andere arabische Staaten zur Folge hatte, so förderte er doch das Ansehen des zweiten deutschen Staates gerade unter den Entwicklungsländern, zumal sich die DDR dort in verstärktem Maße als Vorkämpferin gegen "Neokolonialismus und Imperialismus" zu profilieren verstand. Auf dem Weg zur Anerkennung Im Herbst 1965 gelang der DDR der zweite Durchbruch auf dem Weg zur internationalen Anerkennung. Diesmal erwies sich der Sport als Mittel der Politik. An den Olympischen Spielen in Tokio hatte 1964 noch eine gesamtdeutsche Mann-
schaft teilgenommen. Am 8. Oktober 1965 entschied das Internationale Olympische Komitee (IOC - International Olympic Committee), für die Olympischen Spiele 1968 in Mexiko zwei deutsche Mannschaften - allerdings unter gleicher Flagge (Schwarz-Rot-Gold mit den olympischen Ringen) und gleicher Hymne (Ode "An die Freude" aus Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie) - zuzulassen. Gleichzeitig nahm das IOC das Nationale Olympische Komitee der DDR als Vollmitglied für das "geographische Gebiet Ostdeutsch-
lands" auf. 1968 beschloss das IOC dann, dass ab 1972 die DDR-Mannschaft mit eigener

Flagge und Hymne auftreten dürfe. Als die Bundesrepublik am 31. Januar 1967 diplomatische Beziehungen zu Rumänien aufnahm, verstärkte die DDR-Regierung ihre Bemühungen um Abgrenzung nach Westen einerseits, um Integration im Osten anderer-
seits. Auf der Warschauer Außenminister-Konferenz (8. bis 10. Februar 1967) gelang es der DDR mit Unterstützung der Sowjetunion, die übrigen Mitglieder des Warschauer Paktes auf die "Ulbricht-Doktrin" zu verpflichten. Anders als Rumänien sollten die übrigen Staaten des Pakts erst dann diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik aufnehmen, wenn diese die DDR anerkannt hatte. Auch die Unterzeichnung von Freundschafts- und Beistandspakten mit Polen (10. März), der »SSR (17. März), Ungarn (18. Mai) und Bulgarien (7. September) dienten der Durch-
setzung dieses Prinzips und der weiteren Festigung des östlichen Bündnisses, woran die Sowjetunion angesichts der Entwicklung in der Tschechoslowakei und ihres Konflikts mit China ein ebenso großes Interesse hatte wie die DDR. Die ständige Agitation gegen die angeblich "militaristische und imperialistische Politik" der Bundesrepublik diente gleichzeitig dazu, die Bevölkerung der DDR und die Partner des Warschauer Pakts vor einer Annäherung an den Westen zu warnen. Besonders groß schien diese Gefahr in der CSSR zu sein. Das seit 1963 unter dem Einfluss tschechischer Intellektueller einsetzende ideologische und innenpolitische Tauwetter beunruhigte die DDR-Führung in höchstem Maße, schien die neue tschechoslowakische Führung unter Alexander Dubcek, die im Januar 1968 den Altstalinisten Antonín Novotny abgelöst hatte, doch entschlossen zu sein, sich aus dem sozialistischen Lager zu verabschie-
den. Walter Ulbricht und die sowjetische Partei- und Staatsführung hatten hinsichtlich der CSSR ein gemeinsames Interesse: Die Disziplin im sozialistischen Lager musste gewahrt, das Prager Experiment eines Kommunismus mit menschlichen Zügen beendet werden. Aus Furcht vor einem Übergreifen der Ideen des Prager Reform-
kommunismus auf ihre Bevölkerung drängte die DDR-Führung auf wirksame Maßnahmen gegen Dubcek und seinen Kurs. Sie trug erheblich zu der sowjetischen Entscheidung bei, in der CSSR militärisch zu intervenieren.

An der Besetzung der CSSR durch Truppen des Warschauer Pakts waren Einheiten der Nationalen Volksarmee der DDR nicht direkt beteiligt.

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DDR-Armee: jederzeit gefechtsbereit!

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Die Mauer und ihre Folgen
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Sie sicherten aber die Nachschublinien in der DDR und standen in Alarmbereitschaft. In der offiziellen Begründung für den Einmarsch wurde der Westen für die Entwicklung in der CSSR verantwortlich gemacht: "Mit den Maßnahmen vom 21. August 1968 hatte die imperialistische Politik zur Aufweichung und Auflösung der sozialistischen Gemeinschaft eine strategische Niederlage erlitten. Die Politik des ,Brückenschlags' und die ,neue Ostpolitik', die auf Organisierung der Konter-
revolution gerichtet war, die Versuche, der Forderung der Völker nach Durchsetzung der friedlichen Koexistenz auszuweichen, waren gescheitert. Die Westgrenze der sozialistischen Gemeinschaft war gestärkt worden". Aus dieser ideologischen Konstruktion ergab sich die Breschnew-Doktrin. Danach hatten die sozialistischen Staaten nur eine begrenzte Souveränität. Denn sollte in einem Land der Sozialismus gefährdet sein, dann hatten die "Bruderländer" die "internationalistische Pflicht", mit militärischen Mitteln einzugreifen, um sozialistische Verhältnisse wiederherzu-
stellen. Am 8. Mai 1969 wurde die DDR von dem südostasiatischen Königreich Kambodscha völkerrechtlich anerkannt. Die Bundesregie-
rung der Großen Koalition stand vor der Frage, ob sie die Hallstein-Doktrin anwenden, das heißt die Beziehungen zu Kambodscha abbrechen und so der DDR dort die Allein-
vertretung überlassen, oder ob sie die Hallstein-Doktrin über Bord werfen sollte. Sie entschied sich für eine Kompromisslösung: Die Beziehungen zu Kambodscha wurden nicht abgebrochen, sondern eingefroren. In Zukunft sollte die Anwendung der Hallstein-Doktrin von den jeweiligen Umständen abhängig gemacht werden. Nun folgte der Durchbruch der DDR zur internationalen Anerkennung wenigstens in der Dritten Welt: 1969 nahmen der Sudan, der Irak und Ägypten diplomatische Beziehungen zur DDR auf. 1970 folgten die Zentralafrika-
nische Republik, Somalia, Algerien, Ceylon und Guinea. Die sozialliberale Koalition in Bonn stellte 1969 neue Weichen in der Deutschland- und Ostpolitik; sie tolerierte die völkerrecht-
liche Anerkennung der DDR. Nach Inkrafttre-
ten des Viermächteabkommens über Berlin im Juni 1972 und des Grundlagenvertrages mit der Bundesrepublik Deutschland im Juni 1973 wurde die DDR wie die Bundesrepublik am 18. September 1973 in die Vereinten Nationen aufgenommen.

Schlaglicht
Grundlagenvertrag
Am 16. August 1972 begannen die offiziellen Verhandlungen über den Grundlagenvertrag (häufig auch Grundvertrag genannt), die am 8. November 1972 mit der Paraphierung in Bonn und am 21. Dezember 1972 mit der Unterzeichnung in Ost-Berlin abgeschlossen wurden. Beide Vertragspartner verpflichteten sich, zueinander normale gutnachbarliche Beziehungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung aufzubauen, sich von den Prinzipien der UN-Charta leiten zu lassen und gegenseitig auf Gewaltanwendung und die Drohung mit Gewalt zu verzichten.


Zwischen 1972 und 1974 erkannten die Staaten des Westens, so 1974 auch die USA, die DDR diplomatisch an und errichteten Botschaften in Ost-Berlin. Damit hatte die DDR erreicht, worum sie sich zwanzig Jahre bemüht hatte: die internationale Anerkennung.

Ihre Maximalziele, die volle völkerrechtliche Anerkennung durch die Bundesrepublik - einschließlich einer eigenen DDR-Staatsange-
hörigkeit - und die Trennung West-Berlins von der Bundesrepublik, konnte die DDR-Außen-
politik freilich nie erreichen.
Der Grundlagenvertrag und alle weiteren Abkommen zwischen der DDR und der Bun-
desrepublik Deutschland dokumentierten das Fortwirken der gemeinsamen staatlichen Vergangenheit und stellten die "besonderen Beziehungen", die zwischen den beiden deutschen Staaten bestanden, auf eine "völkerrechtsmäßige", aber nicht völkerrecht-
liche Grundlage. Abgrenzungspolitik Die DDR-Führung versuchte, den innenpolitischen Rückwirkungen der "besonderen Beziehungen" zur Bundesrepublik entgegenzusteuern, indem sie eine verstärkte Integration der DDR in das "sozialistische Lager" betrieb und die Abgren-
zung der "sozialistischen" DDR von der "kapitalistischen" Bundesrepublik durch Absage an die gemeinsame deutsche Nation und Deklarierung einer eigenen "sozialisti-
schen Nation" der DDR verschärfte. Die Änderung der DDR-Verfassung am 7. Oktober 1974 folgte diesem Abgrenzungskonzept in demonstrativer Weise. Die Verfassung vom 6. April 1968 hatte die DDR noch als "sozialisti-
schen Staat deutscher Nation" bezeichnet und in Artikel 8 Absatz 2 bestimmt: "Die Deutsche Demokratische Republik und ihre Bürger erstreben darüber hinaus die Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschlands, die schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf Grundlage der Demokratie und des Sozialismus". In der geänderten Verfassung von 1974 hieß es nur noch: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern". Der Wiedervereinigungsauftrag in Artikel 8 Absatz 2 wurde ebenso gestrichen wie jeder andere Hinweis auf die deutsche Nation. Die 1949 von Johannes R. Becher und Hanns Eisler geschaffene Hymne der DDR wurde nur noch gespielt, aber nicht gesungen, denn der Text "Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lass uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland" passte nicht mehr in die politische Landschaft. Die Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik und der gemeinsamen Vergangenheit wurde in der revidierten Verfassung flankiert durch die Betonung der Bindungen an die Sowjetunion. War in der alten Fassung von "allseitiger Zusammenarbeit und Freundschaft" mit der Sowjetunion die Rede gewesen, so hieß es nun: "Die DDR ist für immer und unwiderruflich mit der UdSSR verbündet. Das enge und brüderliche Bündnis mit ihr garantiert dem Volk der DDR das weitere Voranschreiten auf dem Wege des Sozialismus und des Friedens. Die DDR ist untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft." Diese weltweit einmalige verfassungsmäßige Bindung an einen anderen Staat trug der Tatsache Rechnung, dass die DDR für die Sowjetunion von überragender politisch-strategischer Bedeutung war und auf ihrem Boden zwanzig modern ausgerüstete Divisionen der Roten Armee stationiert waren. Obwohl die alte wie die neue Verfassung in Artikel 65 vorsah, dass "grundlegende Gesetze [...] vor ihrer Verab-
schiedung der Bevölkerung zur Erörterung unterbreitet" werden, geschah dies im Fall der Verfassungsänderung nicht. Die DDR-Führung wollte eine öffentliche Diskussion der "nationalen Frage" vermeiden und ließ die Verfassungsänderungen daher direkt von der Volkskammer verabschieden. Die in der Verfassung der DDR verankerte Bindung an die Sowjetunion wurde bekräftigt durch den

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neuen "Vertrag über Freundschaft, Zusam-
menarbeit und gegenseitigen Beistand", den die Generalsekretäre Honecker und Breschnew am 7. Oktober 1975 - am 26. Jahrestag der Gründung der DDR - in Moskau unterzeichne-
ten. Dies geschah übrigens, ohne dass der Vertrag über die Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion vom 20. September 1955 und der Vertrag über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Zusammenarbeit vom 12. Juni 1964 offiziell für beendet oder abgelöst erklärt worden wären. Die Wiederver-
einigung Deutschlands, die in den Verträgen von 1955 und 1964 noch eine Rolle gespielt hatte, wurde nicht mehr erwähnt. Statt dessen wurde die "Unverletzlichkeit" der Grenzen in Europa "einschließlich der Grenzen zwischen der DDR und der BRD" als Gewährleistung der europäischen Sicherheit betont. Ungeachtet des Viermächteabkommens über Berlin bestanden die Vertragspartner darauf, dass West-Berlin "kein Bestandteil der BRD ist und auch weiterhin nicht von ihr regiert wird".

Trotz der im Freundschaftsvertrag zwischen DDR und Sowjetunion enthaltenen Absichtserklärungen über eine verstärkte Integration der DDR in das "sozialistische Lager" und der von der SED vorgetragenen Abgrenzungsideologie gegenüber der Bundesrepublik entfalteten die deutsch-deutschen Beziehungen seit 1972 eine gewisse Eigendynamik, der sich die DDR-Führung um so weniger entziehen konnte, als sie an den wirtschaftlichen Sonderbeziehungen zur Bundesrepublik interessiert war. Außerdem ergaben sich aus dem Grundlagenvertrag und den Folgeabkommen der Zwang und die Notwendigkeit zu immer neuen Gesprächen, Verhandlungen und Konsultationen auf staatlicher Ebene. Schließlich verstärkten sich die Kontakte zwischen den Menschen in der Bundesrepublik und der DDR durch Besuchs- und Telefonverkehr ganz erheblich. Das durch die internationale Anerkennung gestiegene Selbstbewusstsein der DDR-Führung fand seinen architektonischen Ausdruck im "Palast

der Republik", der in den Jahren 1973 bis 1976 im Zentrum Berlins an der Stelle errichtet wurde, an der sich das Schloss der preußischen Könige und deutschen Kaiser befunden hatte, dessen Ruinen 1950 von der DDR-Führung gesprengt worden waren. Auf dem Richtfest am 18. November 1974 erinnerte Erich Honecker sowohl an die monarchische Vergangenheit als auch an die revolutionäre Tradition des Geländes.

Biographie
Erich Honecker

Während Philipp Scheidemann (SPD) von der Rampe des Deutschen Reichstages am 9. November 1918 die Republik ausrief, hatte der Mitbegründer der KPD, Karl Liebknecht, von hier aus die Gründung einer "sozialistischen Republik" zu proklamieren versucht. Im Lustgarten vor dem Schloss hatten wiederholt sozialistische und kommunistische Massen-
kundgebungen stattgefunden. Der "Palast der Republik" wurde zur Tagungsstätte der DDR-Volkskammer; Zentrum der Macht wurde er nie, denn das lag im "Großen Haus" am Werderschen Markt, dem Sitz des Politbüros der SED.


Für eine tiefergehende Auseinandersetzung
mit der DDR-Diktatur und der deutsch-deutschen Geschichte hat die Bundeszentrale für politische Bildung mehr als 30 Magazin-
beiträge der in der ARD ausgestrahlten Sendung "Kontraste", aus den Jahren 1987-2001 zusammengestellt. Unter dem Titel "Kontraste - Auf den Spuren einer Diktatur" werden zeitgeschichtliche Dokumente gezeigt, die den Prozess der deutschen Einheit begleitet haben.