Druckversion
www.deutschegeschichten.de/zeitraum/themaplus.asp?KategorieID=1006&InhaltID=1631&Seite=3

Deutsche Geschichten


Opposition in der DDR
"Wir sind das Volk"

Nach 40 Jahren steht das Ende der deutschen demokratischen Republik kurz bevor...


Opposition in der DDR

Innenpolitische Probleme ergaben sich für die DDR vor allem aus den Folgewirkungen der Fülle von Vereinbarungen, die in den Jahren 1971 bis 1973 zwischen den beiden deutschen Staaten geschlossen wurden. So willkommen die internationale Anerkennung war, die sich damit für die DDR verband - innerhalb eines Jah-
res nach Abschluss des Grund-
lagenvertrages nahmen 68 Länder diplomatische Bezieh-
ungen mit Ostberlin auf, außer-
dem wurden beide deutschen Staaten Mitglieder der UNO -, so problematisch erschienen aus der Sicht der DDR-Führung deren innenpolitische Konse-
quenzen: Während beispiels-
weise 1970 nur etwa zwei Millionen Menschen aus der Bundesrepublik und Westberlin die DDR und Ostberlin besucht hatten, stieg diese Zahl bereits 1973 auf über acht Millionen an. Und die Zahl der Telefon-
gespräche zwischen Ost und West, die 1970 lediglich 700000 betragen hatte, explo-
dierte bis 1980 förmlich auf über 23 Millionen jährlich. Angesichts der Tatsache, dass die DDR bereits durch die westlichen Medien - vor allem durch das westdeutsche Fern-

sehen, das abgesehen vom Raum Dresden und dem nordöstlichen Teil von Mecklenburg-Vorpommern überall in der DDR empfangen werden konnte - starker Beeinflussung ausgesetzt war, wuchs daher die Sorge der DDR-Führung, dass die Zunahme der persönlichen Kontakte sich negativ auf den inneren Zusammenhalt der DDR auswirken könnte.
"Abgrenzung" zwischen den beiden deutschen Staaten hieß daher die Devise, mit der das SED-Regime der neuen Herausforderung zu begegnen suchte. Schon am 13. Septem-
ber 1970, kurz nach den ersten zwei Begegnungen zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph in Kassel und Erfurt, erklärte in diesem Zusammen-
hang das für die Außenpolitik zuständige Mitglied des SED-Politbüros, Hermann Axen, die DDR habe "die Pflicht, sich weiterhin in allen Bereichen von der imperialistischen Bundesrepublik abzugrenzen".
Wenige Tage später, am 6. Oktober, wies Stoph selbst die "Fiktion der sogenannten Einheit der Nation" zurück und behauptete, "angesichts des Gegensatzes der Systeme, des Staates und der Gesellschaft"

Video
Videobeitrag
Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen

Chronologie
Chronologie 1989-1996

Literatur
Wolf Biermann und andere Autoren -
"Die Ausbürgerung - Anfang vom Ende der DDR"

Opposition in der DDR
Opposition in der DDR
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 

sei "ein objektiver Prozess der Abgrenzung, nicht dagegen der Annäherung, unausweich-
lich". Schlüsselgruppen, wie etwa Partei- und Staatsfunktionären sowie Wehrpflichtigen, war es künftig untersagt, Kontakte zu Ausländern, zu denen auch die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik gerechnet wurden, zu unter-
halten. In einem "Besucherbuch" waren die Namen derjenigen zu notieren, die nicht aus der DDR stammten und DDR-Bürger in ihren Wohnungen aufsuchten. Auf einem Parteitag der SED 1971 vertrat Honecker zudem die Auffassung, dass sich in Deutschland zwei getrennte Nationen entwickelten: die "sozialistische Nation" in der DDR und die "kapitalistische Nation" in der Bundesrepublik.

Video
Videobeitrag
Erich Honecker als SED-Chef: "Alle erreichen, jeden gewinnen, keinen zurücklassen!"

Historiker und Parteiideologen wurden beauftragt, den Standpunkt der Bonner Regierung, wonach die deutsche Nation aufgrund der gemeinsamen Geschichte und des weiter vorhandenen Zusammengehörig-
keitsgefühls fortbestehe, zurückzuweisen. Daher war es auch kein Zufall, dass das SED-Politbüro einen Tag vor der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages als des wichtigsten innerdeutschen Vertragswerks der Nachkriegs-
ära am 8. November 1972 neue Prinzipien für Agitation und Propaganda beschloss. Knapp zehn Tage später fand zudem eine "Agitations-
konferenz" statt, auf der das Politbüromitglied Werner Lambertz erklärte, dass es "an der ideologischen Front keinen Waffenstillstand, sondern verschärften Kampf" gebe und dass "friedliche Koexistenz nicht ideologische Koexistenz" bedeute.

Schließlich unternahm die DDR-Führung auch Schritte, um die Verwendung des offensichtlich als problematisch empfundenen Wortes "deutsch" einzuschränken. So wurde die DDR in ihrer neuen Verfassung aus dem Jahre 1974 nur mehr als "sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern" und nicht mehr, wie in der Ver-
fassung von 1968, als "sozialistischer Staat deutscher Nation" bezeichnet. Der von Johannes R. Becher 1943 geschriebene Text der späteren DDR-Nationalhymne "Auferstan-
den aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland" durfte nicht mehr gesungen werden.

Die neue Sicherheit

Die bedenklichste Form der Abgrenzung voll-
zog sich jedoch auf dem Gebiet des Staats-
sicherheitsapparates, der seit der neuen Ostpolitik immer weiter ausgebaut wurde und sich bald zu einem Instrument der flächen-
deckenden Kontrolle der DDR-Bevölkerung entwickelte. Der Etat des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der 1968 eine Summe von 5,8 Milliarden DDR-Mark aufgewiesen hatte, wuchs bis 1989 um etwa 400 Prozent auf 22,4 Milliarden. Die Zahl der hauptamt-
lichen Mitarbeiter, die beim Amtsantritt Erich Mielkes 1957 erst 17400 betragen hatte, stieg bis 1989 auf 91000. Noch bemerkenswerter ist, dass sich deren Zahl allein in den Jahren

der Entspannung von 1972 bis 1989 verdop-
pelte, wobei die größten Zuwachsraten in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu verzeich-
nen waren. Nicht eingerechnet sind dabei die zuletzt 173000 "Inoffiziellen Mitarbeiter", die ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zur Bespitzelung der DDR-Bevölkerung leisteten.
Alle Anstrengungen der Staatssicherheit (Stasi) konnten indessen nicht verhindern, dass die Bürgerinnen und Bürger der DDR das Klima der Entspannung zum Anlass nahmen, auch im eigenen Lande eine Lockerung der strengen Zensur und Überwachung zu fordern. In den ersten zwei Jahrzehnten der DDR, von 1949 bis in die frühen siebziger Jahre, hatte es für Schriftsteller, Künstler und Oppositions-
gruppen kaum Entfaltungsmöglichkeiten gegeben. Mochten auch der Philosoph und Journalist Wolfgang Harich in den fünfziger Jahren und so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie Stefan Heym, Stephan Hermlin und Christa Wolf in den sechziger Jahren gelegentlich gegen die DDR-Kulturpolitik protestieren, boten sich doch wenig Möglich-
keiten der Veränderung. Staatliche Repres-
sionen unterschiedlichen Grades gegen Kritiker wie Wolf Biermann, Stefan Heym und den zeitweise unter Hausarrest gestellten Professor Robert Havemann trugen zusätzlich dazu bei, das Ausmaß kontroverser öffentlicher Dis-
kussionen einzudämmen.
Nach Beginn der Entspannungspolitik gestand SED-Parteichef Erich Honecker zwar im Mai 1973 den Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern "ein weites Feld für künstlerische Kreativität" zu. Doch die Grenzen der Auto-
nomie wurden erneut sichtbar, als Wolf Biermann 1976 nach einer Konzerttournee in der Bundesrepublik nicht wieder in die DDR zurückkehren durfte, sondern ausgewiesen wurde. Freunde und Bekannte, die gegen diese Maßnahme der DDR-Führung protestierten, wurden ebenfalls verfolgt. Gleiches galt für zahlreiche andere prominente DDR-Schrift-
steller, Musiker und Künstler, die entweder ausgebürgert wurden oder langfristige Aus-
reisegenehmigungen erhielten. Der Exodus prominenter DDR-Intellektueller bedeutete nicht nur einen großen geistigen Verlust für
die DDR, sondern war auch ein bezeichnender Ausdruck für die Problematik der DDR-Kultur-
politik, die sich angesichts der Entspannungs-
folgen nicht anders zu helfen wusste, als unliebsame Geister abzuschieben, um die Stabilität des Regimes zu sichern.

Wachsende Unruhe

Unruhe und Opposition gab es in den siebziger Jahren in der DDR aber auch in anderen Bereichen. So begannen Pastoren damit, sich gegen die Diskriminierung ihrer Kirchen aufzu-
lehnen und jungen Menschen unter dem Dach der Gotteshäuser ein Forum zu bieten. Von den Kirchen veranstaltete Diskussionen über Sexualität, Alkoholismus, Rock-Musik, das Leben in der DDR und sogar über die Militari-
sierung der Gesellschaft waren nun keine Seltenheit mehr. Sie führten dazu, dass die Gottesdienste oft überfüllt waren und dass sich vor allem die evangelischen Kirchen zu einem Sammelbecken der Opposition entwickelten. Die Selbstverbrennungen der Pastoren Oskar Brüsewitz aus Zeitz 1976, Rolf Günther aus Falkenstein und Gerhard Fischer aus Schwane-
witz 1978 trugen zusätzlich dazu bei, dass viele das bisherige Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR sowie die Rolle der Kirchen als Teil der Oppositionsbewegung überdachten. Mit der Ruhe, die zwei Jahrzehnte lang geherrscht hatte, war es nun vorbei. Daran

Opposition in der DDR
Opposition in der DDR
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 

änderte auch der am 6. März 1978 auf einem Treffen zwischen Honecker und den Kirchen-
führern der DDR unter Bischof Albrecht Schönherr geschlossene informelle Pakt nichts, welcher der Kirche bescheinigte, "eine auto-
nome Organisation von sozialer Bedeutung" zu sein.
Die Beruhigung, die sich die SED-Führung von diesem Treffen erhofft hatte, trat jedenfalls nicht ein. Die Kirchen blieben vielmehr ein wichtiger Angelpunkt der Opposition in der DDR. Beispiele dafür waren die 1979/80 öffentlich geübte Kritik am Einmarsch sowje-
tischer Truppen in Afghanistan und im Januar 1982 die Übersendung des von mehreren hundert Ostdeutschen unterzeichneten soge-
nannten "Berliner Appells" an Honecker durch den Ostberliner Pastor Rainer Eppelmann, in dem die Militarisierung der Kindererziehung in der DDR angeprangert wurde. Etwa zur selben Zeit gewann die Friedensbewegung, die in Westeuropa bereits seit 1980 sehr aktiv war, auch in der DDR an Bedeutung. Zehntausende von zumeist jungen Ostdeutschen nahmen unter dem Slogan "Schwerter zu Pflugscharen" an einer Vielzahl von Veranstaltungen teil, ehe die SED-Führung nach dem Scheitern der Kampagne gegen die NATO-Nachrüstung 1983 offen gegen die Friedensbewegung in der DDR vorging und Ausweisungen sowie Verhaftungen vornehmen ließ.

Aber mit der Ausweisung einzelner Oppositio-
neller war es jetzt nicht mehr getan. Anfang 1984 beschloss die DDR-Regierung daher, 31000 Bürgerinnen und Bürgern die Ausreise zu erlauben. Verglichen mit den 7729 Perso-
nen, die 1983 die DDR verlassen hatten, war dies nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht bemerkenswert. Dass sich die Stimmungslage in der DDR grundsätzlich zu ändern begann, zeigte sich auch, als es im Juli 1984 zur ersten "Botschaftsbesetzung" kam, bei der 50 Ostdeutsche in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin Zuflucht suchten, um die Genehmigung zur Ausreise aus der DDR zu erhalten. Nachdem die ökonomischen Rahmenbedingungen aufgrund der Ölkrisen von 1973 und 1979 ungünstiger geworden waren und die DDR im direkten, auch optisch sichtbaren Vergleich mit der Bundesrepublik entgegen der staatlichen Propaganda immer schlechter abschnitt, schien die Unzufriedenheit der Menschen mit den Verhältnissen in der DDR zuzunehmen. Die Zuversicht, die zu Beginn der Honecker-Ära 1971 noch geherrscht hatte, war verflogen. Eine Besserung war nicht in Sicht.

Gesellschaftliche Krisen

Als sich Ende der siebziger Jahre die ökono-
mische Lage der DDR rasant verschlechterte, zeigten sich parallel dazu auch in der Gesell-
schaft vermehrt Krisensymptome. In diesem Zeitraum kamen allmählich kleine Zirkel und Gruppen auf, die im Umkreis und unter dem Schutz der Kirchen als einzige nichtsoziali-

stische und staatsfreie Großorganisationen zu wirken begannen. Ihr Zustandekommen entsprang unterschiedlichsten Motiven. Die Tatsache, dass öffentliche Diskussionen über Probleme in Staat und Gesellschaft nicht möglich waren, stellte eine wichtige, vielleicht die wichtigste Ursache dar. Auch die sich wieder verschärfende internationale Lage trug zu ihrer Entstehung bei: Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan im Jahr 1979, die sowjetische Stationierung von Mittelstrecken-
raketen in Osteuropa und der DDR, die Andro-
hung der Stationierung analoger Waffensyste-
me in Westeuropa und der Bundesrepublik infolge des NATO-Doppelbeschlusses, sowie schließlich das Aufbrechen der langangestau-
ten Krise in Polen 1981 – dies alles ließ den Wunsch nach Frieden durch Abrüstung laut werden. Indirekte Unterstützung erfuhr die Entstehung solcher Gruppen in der DDR auch durch die Friedensbewegung in der Bundes-
republik.
Vornehmlich stellte die Bildung solcher Gruppen indes eine Reaktion auf bestehende Probleme und Unstimmigkeiten des SED-Staates dar. Sie drückten sich in der permanenten Selbststilisierung der DDR als Friedensstaat aus, die im krassen Widerspruch zur ständig forcierten Militarisierung von Staat und Gesellschaft stand. Das wachsende Engagement für eine sauberere Umwelt ergab sich wiederum aus den zunehmenden, täglich erfahrbaren Belastungen von Erde, Luft und Wasser, hervorgerufen durch die extensive Wirtschaftspolitik seit Mitte der siebziger Jahre. Das Eintreten für Menschen- und Bürgerrechte schließlich resultierte aus der im SED-Staat in diesem Bereich tatsächlich defizitären Situation. Es war bestärkt worden durch die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte und die von tschechischen Oppositionellen formulierte Charta '77.

Verhältnis Kirche und Staat

Trotz eines umfassenden Meinungsaustausches zwischen Staat und Kirchen am 6. März 1978 blieb das beiderseitige Verhältnis problema-
tisch.

Schlaglicht
Opposition unter dem Dach der evangelischen Kirche
Nach dem gewaltsamen Vorgehen der Staatsorgane gegen die Zionsgemeinde in Ost-Berlin im November 1987 und gegen oppositionelle Gruppen während der Rosa-Luxemburg-Gedenkfeiern im Januar 1988 setzten sich diejenigen durch, die eine offensive Kirchenpolitik vertraten.

Dies zeigte sich, nur ein halbes Jahr später,

Opposition in der DDR
Opposition in der DDR
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 

bei der Einführung des Wehrkundeunterrichts als Pflichtschulfach der Polytechnischen Oberschulen zum 1. September 1978. Der Erlass hierzu war bereits fünf Wochen vor dem Gespräch mit den Kirchen durch das Ministeri-
um für Volksbildung am 1. Februar 1978 ergangen und sah zudem eine verstärkte vormilitärische Erziehung vor. Wenngleich erfolglos, so kam es dennoch in zahlreichen Schulen zu Unterschriftenlisten gegen die „Sozialistische Wehrkunde“.
Die Kirchenleitungen ihrerseits beschlossen ein Studien- und Aktionsprogramm „Erziehung zum Frieden“ mit einem jährlichen Veranstal-
tungskalender. Schon im November 1981 konnten 100000 der vom sächsischen Jugend-
pfarrer Harald Brettschneider entworfenen Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ verteilt werden. Massive Versuche, die meist jugend-
lichen Träger des Abzeichens von staatlicher Seite zu drangsalieren und zu gängeln, setzten deren Engagement genauso wenig ein Ende wie die von der FDJ organisierte Gegenbewe-
gung unter dem Motto „Der Frieden muss verteidigt werden – der Frieden muss bewaff-
net sein!“
Dennoch führten die vornehmlich, aber nicht ausschließlich im kirchlichen Umkreis entste-
henden Gruppen nach wie vor ein Randdasein in der Gesellschaft. Denn „die Opposition“ hat es auch angesichts der sich verschärfenden politischen und ökonomischen Dauerkrise in den achtziger Jahren in der DDR nicht gege-
ben. Die Masse der Bevölkerung blieb, wie dies Friedrich Schorlemmer charakterisiert hat, „stimmlos-stumm“ (vgl. Gisela Helwig, Rück-
blicke auf die DDR). Das war die millionen-
fache, durchaus „natürliche“ Abwehrreaktion auf ein totalitäres Herrschaftssystem, das beanspruchte, bis in das Privatleben seiner Bürgerinnen und Bürger hineinzuwirken und bei dissidentem oder oppositionellem Verhalten nicht vor Repression und Gewalt zurückschreckte.

Zunahme der Ausreiseanträge

Sehr wohl nahm die Bevölkerung allerdings die so genannten „Antragsteller“ wahr, deren Zahl sich zwischen 1980 (21500) und 1989 (125000) versechsfachte, zumal sie häufig nicht nur Arbeits- und Berufskollegen, sondern auch Nachbarn und Freunde waren. Die ihnen gegenüber sehr oft praktizierte Isolierung und Diskriminierung, hatten sie einmal den Antrag auf Ausreise gestellt, erlebte man oft aus nächster Nähe mit und wurde Zeuge ihres Leidensweges, der sich manchmal über Jahre hinzog. Die angestrebte Übersiedelung in die Bundesrepublik, die zugleich ja auch das Ver-
lassen der Heimat bedeutete, war indes kei-
neswegs nur politisch motiviert. Eine Befra-
gung unmittelbar nach der „Wende“ ergab, dass die Unzufriedenheit mit den politischen Bedingungen in der DDR zwar den Hauptgrund darstellte, der niedrige Lebensstandard jedoch gleich an nächster Stelle rangierte. Hierzu gehörte auch der Unmut über die desolate Wirtschaftslage, die wachsende Umweltpro-
blematik, die unbefriedigenden Wohnbedin-
gungen und nicht zuletzt über die Beschrän-
kung der Reisefreiheit. Auch das indoktrinäre Erziehungs- und Bildungssystem sowie man-
gelnde Freizeitmöglichkeiten, ungenügende Verkehrs- und Kommunikationsverhältnisse und eine unzureichende Gesundheitsversor-
gung wurden als Gründe für den Ausreise-
wunsch genannt. Ein weiteres Motiv für die Ausreise stellten die schlechten und zum Teil

gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen dar (vgl. Dieter Voigt/Hannelore Belitz-Demiriz/Sabine Meck).
Im Unterschied zu den oppositionellen Gruppen wuchs die Gruppe der Antragsteller im Verlauf der achtziger Jahre allmählich zu einer Massenbewegung an, auch wenn bis 1983 jedes Übersiedlungsersuchen als rechtswidrig eingestuft wurde und bis 1989 keine rechtlich wirksame Anerkennung dieses Grundrechts erfolgte. Aufgrund des rapiden Ansteigens der Zahlen entschlossen sich die Behörden, 1984 erstmals circa 30000 Antrag-
stellern die Übersiedelung zu gestatten, 1988 folgte eine zweite Welle mit 25300 Genehmi-
gungen. Während solche Maßnahmen extern gleichzeitig Bestandteil deutsch-deutscher Verhandlungen – etwa über Kreditwünsche der DDR – waren, verfolgten sie intern vor allem den Zweck, ein Unruhepotenzial zu beseitigen. Doch dieses Ziel wurde letztlich nur vorder-
gründig erreicht, da die erteilten Ausreisege-
nehmigungen viele weitere DDR-Bürgerinnen und -Bürger ermutigten, jetzt ihrerseits einen Antrag zu stellen. Das Problem ließ sich jeden-
falls nicht grundlegend lösen. Zudem sorgten Ausreisewillige immer wieder spektakulär für Aufsehen.

Schlaglicht
Rosa-Luxemburg-Gedenkfeiern in Ost-Berlin - Verhaftungen und Abschiebungen
Im Verlauf dieser Demonstration am 17. Januar 1988 kam es zu einer Gegendemonstration von Menschen- und Bürgerrechtsgruppen der DDR, die sich auf das demokratische Erbe von Rosa Luxemburg beriefen (»Freiheit ist immer die Freiheit des anders Denkenden«). Auch ausreisewillige DDR-Bürger nahmen an der Gegendemonstration teil.

So kam es 1983 in Jena und 1988 in Leipzig, Dresden und Berlin zu Demonstrationen von Selbsthilfegruppen, und 1984 gelang einigen von ihnen über die amerikanische Botschaft und die Ständige Vertretung der Bundesre-
publik Deutschland in Ost-Berlin die Übersie-
delung in die Bundesrepublik. Der Konflikt zwischen den oppositionellen Gruppen und Antragstellern ergab sich gleichsam zwangs-
läufig aus den gegensätzlichen politischen und individuellen Lebensvorstellungen. Denn während die Gruppenmitglieder fast durchweg eine Reform des „real existierenden Sozia-
lismus“ anstrebten, zumindest mehrheitlich einen besseren, tatsächlich „demokratischen“ Sozialismus verwirklichen wollten, hatten die Antragsteller jegliche Hoffnung auf einen solchen aufgegeben. Sie zogen es trotz der massiven Hindernisse und Widrigkeiten vor, dem SED-Staat den Rücken zu kehren, um in der Bundesrepublik endlich die erhofften Lebens- und Arbeitsbedingungen zu finden. Von Seiten der Gruppen traf sie daher zumeist ein doppelter Vorwurf: Sie waren nicht nur nach dem Verlassen der DDR für die Opposi-
tion unwiderruflich verloren und schwächten dadurch das Widerstandspotenzial, sondern verfolgten nach Meinung der Zurückbleibenden rein egoistische, „unpolitische“ Ziele. Entsprechend kam es selten zu engerer Zusammenarbeit.

Opposition in der DDR
Opposition in der DDR
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 

Oppositionelle Gruppen

Gleichwohl haben die Antragsteller zum Zusammenbruch des SED-Staates mindestens so viel beigetragen wie die oppositionellen Gruppen; denn letztlich konnte die DDR-Führung dieses Dauerproblem nicht lösen. Das enorme Anschwellen der Ausreiseanträge im Jahr 1989, zusammen mit der Massenflucht über Ungarn bzw. die Botschaften der Bundes-
republik in Prag und Warschau, ihre Sogwir-
kung auf weitere Menschen in der DDR, und nicht zuletzt die weltweite Übertragung dieser Bilder in den Medien sollten zur völligen internationalen Diskreditierung des SED-Regimes führen und seinen Kollaps einleiten.
Doch ein so rasches Ende der DDR schien in den achtziger Jahren noch völlig irreal und wurde von niemandem erwartet. Stattdessen demonstrierte die „Staatsmacht“ immer wieder ihre Stärke, indem es ihr wiederholt gelang, die meist im Umkreis der Kirchen angesiedel-
ten Gruppen zu zerschlagen oder in ihrer Wirkungstätigkeit stark einzuschränken. Mundtot machen konnte sie diese Opposition jedoch nicht. Die Gruppen fuhren fort, Alternativen zu politisch wie ideologisch vorgegebenen Auffassungen zu artikulieren. Darin lag ihre eigentliche Attraktivität besonders für die junge Generation. Vor diesem Hintergrund hatten der Reformkom-
munist Robert Havemann (1910–1982) und der systemkritische Pfarrer und Bürgerrechtler Rainer Eppelmann am 25. Januar 1982 gemeinsam ihren „Berliner Appell“ verfasst.

Biographie
Robert Havemann

Im selben Jahr bildete sich in Reaktion auf das Gesetz über den Wehrdienst vom März 1982 und die darin enthaltene Bestimmung, dass bei Mobilmachung sowie im Verteidigungsfall künftig auch Frauen der Wehrpflicht unter-
worfen sein sollten, die von Bärbel Bohley und Ulrike Poppe gegründete Gruppe „Frauen für den Frieden“. Der „Friedensgemeinschaft Jena“ wiederum gelang es, bis zu ihrer späteren, brutalen Zerschlagung, mit gewaltlosem Widerstand, öffentlichen Demonstrationen und bewusster Aufnahme von Kontakten zu westlichen Medien, neue Methoden in der Auseinandersetzung mit SED, MfS und den Sicherheitsorganen zu entwickeln.

Konfliktsituationen

Schon Ende der siebziger, vermehrt aber Anfang der achtziger Jahre, waren, ebenfalls im Schutze der Kirchen, „sozialethische Gruppen“ entstanden; so zum Beispiel in Berlin, Leipzig und Schwerin, die sich vornehmlich mit Umweltfragen, aber auch

mit Problemen der Entwicklungsländer befassten. Besonders der 1983 in Berlin-Lichtenberg gegründete „Friedens- und Umweltkreis“ gewann an Bedeutung. Durch ihn entstand 1986 die Umweltbibliothek in der Zionskirche, welche die Untergrundzeitschrift „Umweltblätter“ herausgab und dadurch zu einem Kristallisationspunkt vor allem der Berliner Gruppen wurde, der Ausstrahlung auf die gesamte DDR hatte. Insbesondere die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl im April 1986 und die nach-
folgende Desinformationskampagne der DDR-Behörden verschafften der Bewegung weiteren Zulauf. Einen bewussten politischen Schritt, der für die nach wie vor im Schutz der Kirchen agierenden Gruppen ein völlig neues Vorgehen bedeutete, leitete die im Januar 1986 gegrün-
dete „Initiative Frieden und Menschen-
rechte“ (IFM) ein, welche erstmals öffentlich auftrat und dabei namentlich unterzeichnete Appelle herausgab, unter anderem mit der Forderung nach umfassenden demokratischen Reformen.

Die Gruppen existierten trotz gelegentlicher Unterstützung durch prominente Politiker der „Grünen“ aus der Bundesrepublik am Rande der DDR-Gesellschaft und wurden von dieser auch nur marginal wahrgenommen. Sie rückten jedoch insbesondere in Berlin ab der zweiten Jahreshälfte 1987 nicht zuletzt durch die Berichterstattung westdeutscher Medien stärker in den Blickpunkt einer größeren Öffentlichkeit. Im zeitlichen Kontext mit dem gemeinsam von der SPD und SED erstellten Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ im August 1987, besonders aber mit dem Honecker-Besuch in Bonn einen Monat später, konnten diese Gruppen von einer vorübergehenden deutschlandpolitisch motivierten Zurückhaltung der „staatlichen Organe“ profitieren. Wenig später jedoch legte das Regime wieder eine härtere Gangart ein und spitzte damit die latent weiter bestehende Konfliktsituation zu. Mit der Stürmung der Berliner Umwelt-
bibliothek durch das MfS in der Nacht vom 24./25. November 1987 und der Verhaftung ihrer Mitarbeitenden wurde eine neue Eskalationsstufe auf beiden Seiten erreicht; denn die Mitglieder und Sympathisanten der Gruppen begegneten diesem Vorgehen im Schutze der kirchlichen Bannmeile mit öffentlichen Mahnwachen und Protestkund-
gebungen, um die Freilassung der Verhafteten zu erzwingen. Als diese tatsächlich drei Tage später erfolgte, um einen internationalen Imageverlust zu vermeiden, bedeutete dies eine Niederlage der „Staatsmacht“.

Als sich Mitglieder der 1987 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft Staatsbürgerschaft“, ein Zusammenschluss von Oppositionellen und Ausreisewilligen, mit eigenen Transparenten und Plakaten an der offiziellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17. Januar 1988 beteiligten, nahmen sie bewusst den Konflikt mit dem Regime in Kauf. Trotz Behinderungen durch die Stasi gelang es

Opposition in der DDR
Opposition in der DDR
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 

westdeutschen Fernsehteams, entscheidende Szenen festzuhalten und die Nachricht darüber zu einer erstrangigen Meldung zu machen. Besonders das große Medieninteresse, das die unterschiedlichen Protestveranstaltungen in vielen Kirchen Berlins, aber auch anderswo fanden, ließ die Gruppen erstmals stärker aus ihrem gesellschaftlichen Randdasein herauswachsen und machte sie einer breiteren Öffentlichkeit in Ost und West bekannt. Die Existenz oppositioneller Gruppen in der DDR ließ sich damit nicht mehr länger leugnen. Gleichzeitig kam unter ihnen allmählich eine engere Vernetzung zustande.

Auswirkungen von Gorbatschows Politik

In die ab Mitte der achtziger Jahre um sich greifende Frustration über die spürbare Erstarrung des „Systems“, die auch in Teilen der SED virulent wurde, fiel der überraschende Machtwechsel in der Sowjetunion im Frühjahr 1985. Der neue Parteivorsitzende der KPdSU, Michail Gorbatschow, verkündete ein Reformprogramm mit den Schlagworten „Glasnost“ und „Perestroika“ (Offenheit und Umgestaltung), mit dem eine tief greifende Modernisierung des „real existierenden Sozialismus“ in der Sowjetunion durchgeführt werden sollte. Diese Initiative wurde von vielen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern wie ein unerwarteter Lichtschein in tiefer Dunkelheit empfunden. Besondere Überraschung rief hervor, dass nach der unübersehbaren Stagnation, die das Breschnew-Regime und seine Epigonen hinterlassen hatten, ausgerechnet aus den Reihen der KPdSU selbst ein Reformansatz kam. Das breite, zum Teil euphorische Interesse an Gorbatschows Politik und Persönlichkeit wurde verstärkt durch die Reaktionen der SED-Führung selbst. Diese sah instinktiv und zugleich durchaus realistisch die fundamentalen Konsequenzen einer sozialistischen Reformpolitik für die eigene Machtposition voraus. Entsprechend distanzierte sie sich vorsichtig, geriet aber dadurch in eine nach jahrzehntelanger Verkündung unverbrüchlicher Freundschaft mit der Sowjetunion („Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“) unglaubwürdige Verteidigungsposition. Die defensive, ablehnende Haltung der Parteispitze kam symptomatisch in der berühmt gewordenen Formulierung Kurt Hagers vom April 1987 zum Ausdruck, der in einem „Stern“-Interview sagte: „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Diese Äußerung verstärkte auch bei einigen SED-Mitgliedern eine bisweilen schon früher eingetretene innerliche Distanzierung von der Partei und ihrer Führung. Tatsächlich hatte sich auch in der SED infolge der immer spürbarer werdenden Mängel des Systems seit Mitte der achtziger Jahre ein Teil von Funktionären und Mitgliedern in eine Art innerer Opposition begeben, ohne allerdings selbst konkrete Reformvorstellungen zu entwickeln bzw. diese offen zu äußern. Häufig mit den Problemen und Frustrationen der Menschen in Alltag und Betrieb persönlich konfrontiert, hatten sie Positionen zu vertreten, die angesichts der Realität unhaltbar waren. Allenfalls waren sie nach Aussage eines Parteimitglieds Ausdruck „der systemisch bedingten Verknöcherung, Innovationsfeindlichkeit, Reformverweigerung und damit fehlenden Überlebensfähigkeit des Realsozialismus“ (Rainer Land/Ralf Possekel). Damit schwand, von der Bevölkerung sensibel registriert, die Geschlossenheit der Partei. Die Reformwilligen vermissten jedoch einen „DDR-Gorbatschow“, der – und das war die vorherrschende Auffassung – den erforder-

lichen, umfassenden Reformprozess durch eine „Revolution von oben“ hätte herbeiführen können, zumal eine grundlegende, gar revolutionäre Transformation des „real existierenden Sozialismus“ von unten ohnehin undenkbar erschien. Der politische Dissens zwischen der SED-Führung und dem Reformkurs Gorbatschows kam offen zum Ausbruch, als die Parteiführung die sowjetische Monatszeitschrift „Sputnik“ im November 1988 von der Bezugsliste strich. In ihr waren erstmals bisherige Tabuthemen sowjetischer Politik und Geschichte, wie zum Beispiel der deutsch-sowjetische Nicht-Angriffspakt von 1939, der „Hitler-Stalin-Pakt“, aufgegriffen und breit diskutiert worden.

Diese über eine Zensur weit hinausgehende Maßnahme stieß in der Bevölkerung, aber auch unter vielen Parteimitgliedern auf Unverständnis und Entrüstung und verstärkte die Kritik an der Parteiführung, insbesondere an den als vergreist empfundenen Politbüro-Mitgliedern. Einer wachsenden Mehrheit von Menschen in der DDR wurde zunehmend bewusst, dass die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse langfristig so nicht bleiben konnten und der SED-Staat auf eine Krise zusteuerte.

Politische Bildung
Kommunalwahlen
Die SED-Führung hielt weiter an ihrem starren Kurs der Reformverweigerung fest, wie sowohl ihre Manipulation der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 als auch die demonstrative Unterstützung der chinesischen Regierung nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen-Platz) in Peking am 4. Juni 1989 zeigten.

Schließlich waren es die gefälschten Ergeb-
nisse der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989, die eine Protestlawine auslösten.

Literatur
Manfred Görtemaker-
"Wahlmanipulationen"; In: "Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland"

Die beim Besuch Honeckers in der Bundesrepublik erneut bekräftigte Hoffnung der DDR-Spitze, dass ihr Bemühen um internationale Anerkennung letztlich auch zu einer Stabilisierung der politischen Verhältnisse in Mitteleuropa führen werde, erwies sich bald als Illusion.

Wahlmanipulationen hatte es in der DDR zwar schon vorher gegeben, aber 1989 hatte sich das innen- und außenpolitische Umfeld grundlegend verändert: Die wichtigsten ehemaligen Verbündeten der DDR befanden sich jetzt auf Reformkurs, und viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger hielten ihre Regierung inzwischen nicht mehr nur für reformunwillig, sondern auch für reformunfähig. Die SED-Spitze um Honecker hatte den Rückhalt verloren, den sie früher in der UdSSR und bei den anderen "Bruderländern" besessen hatte, und verfügte

Opposition in der DDR
Opposition in der DDR
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 

daher kaum noch über Autorität. Sie war weithin isoliert. Ihr Verhalten stieß nahezu überall auf Kritik, ja Verständnislosigkeit.
Auch die zustimmende Reaktion Ostberlins auf die brutale Niederschlagung der Studenten-
rebellion in Peking am 4. Juni 1989 rief weithin Empörung hervor. Während in der ganzen Welt heftig gegen das Massaker auf dem Tiananmen-Platz protestiert wurde, entschied das SED-Politbüro, dass man dem "hartgeprüften chinesischen Volk" zu Hilfe kommen müsse: Die Volkskammer verabschiedete eine Resolution, in der die DDR ihre Unterstützung für die Niederschlagung der "konterrevolutionären Unruhen" in der chinesischen Hauptstadt bekundete. DDR-Außenminister Oskar Fischer rühmte bei einem Besuch seines chinesischen Amtskollegen Qian Qichen in Ostberlin eine Woche nach den Ereignissen in Peking, die engen Bindungen zwischen der DDR und China. Und prominente DDR-Politiker starteten zu Solidaritäts-missionen in die chinesische Hauptstadt: Hans Modrow machte, noch im Juni, den Anfang, Egon Krenz folgte im September. Die damit signalisierte politische Hilfestellung für ein undemokratisches, totalitäres Regime war zwar ebenfalls kaum etwas Neues in der Geschichte der DDR. Aber in der sensiblen Situation des Sommers 1989 war es gewiss ein falsches Signal, das die SED-Führung der Situation unangemessener nicht hätte setzen können.

Massenflucht und Proteste

Vor diesem Hintergrund fassten immer mehr DDR-Bewohner den Entschluss, ihrem Land so schnell wie möglich den Rücken zu kehren.

Schlaglicht
Massenflucht der DDR-Bevölkerung über Ungarn
Damit gab die ungarische Regierung den Weg frei für alle ausreisewilligen DDR-Bürger. Bis zum 1. Oktober verließen 24 500 Menschen über Ungarn die DDR.

Allein 120000 stellten im Sommer 1989 einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Im Juli und August versuchten darüber hinaus Hunderte, die mit ihrer Geduld am Ende waren, ihre Ausreise durch die Besetzung westlicher - vor allem westdeutscher - diplo-
matischer Vertretungen in Budapest, Warschau, Ostberlin und Prag zu erzwingen. Die Prager Botschaft der Bundesrepublik musste sogar binnen zwei Wochen wegen Überfüllung geschlossen werden. Am Rande einer UNO-Vollversammlung erreichte Bundes-
außenminister Hans-Dietrich Genscher in Verhandlungen mit seinem DDR-Amtskollegen Oskar Fischer, dem es um eine Entschärfung der instabilen Lage im Vorfeld der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung ging, die Ausreise aller Prager und Warschauer Flüchtlinge. Sie gelangten in Sonderzügen Anfang Oktober in die Bundesrepublik.

Schlaglicht
40. Jahrestag der DDR - Gewaltsamer Einsatz von Sicherheitskräften
Bilder von der Massenflucht der DDR-Bevölkerung waren von vielen Fernsehstationen in alle Welt gesendet worden und hatten die Krise der DDR, die sich anschickte, den 40. Jahrestag ihres Bestehens zu begehen, weltweit offenkundig gemacht.

Egon Krenz, der SED-Generalsekretär Honecker zu dieser Zeit vertrat, weil der Parteichef sich einer Operation unterziehen musste, die ihn für den Rest des Sommers von seinen Amtsgeschäften fernhielt, wusste um die Motive, die die Ostdeutschen dazu brach-
ten, die DDR zu verlassen. Ein enger Mitar-
beiter, der Abteilungsleiter für Sicherheits-
fragen im ZK der SED, Wolfgang Herger, war der Frage nachgegangen und hatte die Ergebnisse in einem vertraulichen Bericht für Krenz zusammengefasst. Vom "Verlust an Perspektive als Massenprotest" war darin die Rede, von "Resignation als Massenphänomen" sowie von einer alarmierend zunehmenden Rate der Abwendung von der DDR, besonders unter Jugendlichen, einschließlich den Funktio-
nären der Freien Deutschen Jugend (FDJ).
Krenz erhielt den Bericht nur einen Tag vor Antritt eines vierwöchigen Urlaubs an der Ostsee, von wo aus er nichts mehr unterneh-
men konnte. Honecker hatte Krenz offenbar bewusst in den Urlaub entlassen und statt dessen seinen Vertrauten, Politbüromitglied Günter Mittag, mit der Wahrnehmung der Amtsgeschäfte des Generalsekretärs beauftragt. Doch Mittag erwies sich bald als unfähig, der Lage gerecht zu werden.

Schlaglicht
Botschaftsbesetzungen erzwingen Ausreise
Der Wunsch, in der Freiheit und Wohlstand versprechenden Bundesrepublik zu leben, wurde bei vielen immer stärker. Am 11. Januar 1989 gelang es einer Gruppe zur Ausreise entschlossener DDR-Bürger, mit der Besetzung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin durchzusetzen, dass ihnen nicht nur Straffreiheit, sondern zugleich auch die zügige Abfertigung ihrer Ausreiseanträge zugesichert wurden.

Der Flüchtlingsstrom, der sich aus der DDR über Ungarn und Österreich in die Bundes-
republik ergoss, schwoll immer mehr an. Der "Eiserne Vorhang", der schon am 2. Mai durch Ungarn prinzipiell in Frage gestellt worden war, bestand praktisch nicht mehr. Täglich trafen nun zwischen 100 und 200 Ostdeutsche von Ungarn aus in den Aufnahmelagern in der Bundesrepublik ein. Und nachdem die ungari-
sche Regierung es DDR-Bürgern ab dem 11.

Opposition in der DDR
Opposition in der DDR
Seite 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 

September gestattete, die Grenze nach Österreich legal zu überschreiten, flohen nicht nur Hunderte, sondern Tausende täglich. Bis Ende September waren es insgesamt bereits 32500. Im SED-Politbüro beschuldigte Mittag die Ungarn des "Verrats am Sozialismus" und konnte dennoch nur resigniert den Rapport eines Abgesandten entgegennehmen, der nach Budapest geschickt worden war, um "die Dinge zu verlangsamen", und von dort mit leeren Händen zurückkehrte: Die Ungarn hatten die Kontrolle verloren und, für die SED noch schlimmer, beabsichtigten offenbar gar nicht, sie zurückzuerlangen. Außenminister Gyula Horn, so berichtete der Emissär, sei die "treibende Kraft" hinter dieser Entwicklung. Das ungarische Militär stehe den "Erwartungen der DDR" zwar loyal gegenüber, sei jedoch nicht mehr einig. Ähnliches verlautete aus Moskau: Auf die Bitte von DDR-Außenminister Fischer, ein Warschauer-Pakt-Treffen einzu-
berufen, um die Ungarn zur Räson zu bringen, antwortete Gorbatschow, die Zeit sei vorüber, in der eine Abweichung von der allgemeinen Linie durch den Druck der Mehrheit habe korrigiert werden können.

Die DDR stand allein.

Montagsdemos

Währenddessen nahm der Umfang der Pro-
teste und Demonstrationen innerhalb der DDR zu. Seit Juni wurden am 7. jeden Monats Protestaktionen veranstaltet, um an die Manipulation der Kommunalwahl vom 7. Mai zu erinnern. Darüber hinaus begannen am 4. September in Leipzig nach einem Friedensge-
bet in der Nikolaikirche etwa 1200 Menschen mit den "Montagsdemonstrationen", auf denen Forderungen nach Reise- und Versammlungs-
freiheit laut wurden. Bis zum 25. September war die Teilnehmerzahl auf 5000 angewach-
sen. Am 2. Oktober belief sie sich bereits auf etwa 20000. Ermutigt durch den Erfolg dieser Aktionen wurden nun auch politische Organisa-
tionen gegründet, die sich zum Teil als Partei-
en, zum Teil als Bürgerbewegungen verstan-
den: am 10. September das Neue Forum, am 12. September Demokratie Jetzt, am 7. Oktober die Sozialdemokratische Partei in der DDR und am 29. Oktober der Demokratische Aufbruch. Die SED-Führung sah sich damit jetzt nicht nur den Liberalisierungstendenzen in Osteuropa und der Fluchtbewegung aus der DDR, sondern auch einer wachsenden und sich zunehmend organisierenden Opposition in der DDR gegenüber.