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Deutsche Geschichten


Wege zur Einheit
Die Mauer verschwand, wie sie gut achtundzwanzig Jahre vorher entstanden war: über Nacht und unerwartet.

Grenzöffnung durch Ungarn

Wesentlichen Anteil an der Zuspitzung der Situation in der DDR hatte Ungarn, das im Ostblock schon mit seinen Wirtschaftsreformen seit den sechziger Jahren stets eine Sonderrolle gespielt hatte und sich seit Mitte der achtziger Jahre immer mehr nach Westen öffnete. Anfang 1989 erreichten die ungarischen Reformen schließlich ein Stadium, in dem offen eine enge Zusammenarbeit mit den westlichen Ländern angestrebt wurde. Dazu gehörte auch, dass die Regierung in Budapest versprach, internationale Vereinbarungen wie die UN-Menschenrechtskonvention nach Geist und Buchstaben einzuhalten und sie nicht länger auf einseitig östliche Weise zu interpretieren.
Als ungarische Soldaten am 2. Mai 1989 nahe der Ortschaft Köszeg an der Grenze zu Österreich mit dem Abbau der elektronischen Sicherungsanlagen und des Stacheldrahtverhaus begannen, war dies ein revolutionärer Vorgang: Ungarn kündigte damit die Solidarität der Ostblockstaaten bei der Abriegelung des kommunistischen Herrschaftsbereichs gegenüber dem Westen auf. Zum ersten Mal seit 1945 wurde das Prinzip des "Eisernen Vorhangs" grundsätzlich in Frage gestellt. Die Versicherung von DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler gegenüber dem SED-Politbüro am 4. Mai, dass es sich dabei nach Mitteilung aus Budapest lediglich um "technische Maßnahmen" handele, von denen die eigentlichen Grenzkontrollen nicht betroffen seien, wurde daher der wahren Bedeutung des Ereignisses nicht gerecht. Obwohl man, wie Politbüromitglied Günter Schabowski berichtet, im Politbüro durchaus ahnte, welche Sprengkraft in dem Vorgang lag, zog man es vor, sich selbst zu beschwichtigen. Und Keßler lieferte dabei das Alibi mit seiner aufmunternden Behauptung, dass Bürger der DDR, die über Ungarn in den Westen zu fliehen versuchten, auch künftig von ungarischen Grenzern daran gehindert würden.
Sorgen bereitete in Ostberlin jedoch die Tatsache, dass es sich bei der Grenzöffnung gegenüber Österreich um eine alleinige ungarische Entscheidung gehandelt hatte. Die DDR-Führung war nicht konsultiert worden und wurde auch über mögliche weitere Schritte im unklaren gelassen. "Erschrocken und hilflos", so Schabowski, habe man

beobachtet, "wie der sozialistische Block in die Brüche ging". Die Flüchtlingszahlen stiegen. Aus Einzelfällen wurde langsam ein Rinnsal und bald ein Strom. Beim Verfall der SED-Macht wirkte Ungarn als Katalysator.

Zusammenbruch des SED-Regimes

Der Zusammenbruch des SED-Regimes bereitete sich somit langfristig vor. Die mangelnde Legitimität des politischen Systems, die bereits von Anfang an ein Problem gewesen war, die wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten, die vor allem im Vergleich zur Bundesrepublik immer deutlicher hervortraten, und schließlich das Reformdefizit der DDR innerhalb des Ostblocks seit Gorbatschows Machtantritt 1985 waren die maßgeblichen Ursachen für die Krise, aus der es seit dem Frühjahr 1989 kaum noch einen Ausweg gab. Eine steigende Zahl von Ausreiseanträgen, aber auch die zunehmende Fluchtbewegung aus der DDR dokumentierten am Ende der achtziger Jahre den inneren Zustand eines Regimes, das seit 1945 primär von außen - durch die Sowjetunion - stabilisiert bzw. überhaupt erst am Leben erhalten worden war und sich nun in einer veränderten Umwelt plötzlich alleine behaupten sollte. Auch wenn nur wenige dies am Beginn des Wendejahres erkannten oder wahrhaben wollten: Die DDR stand kurz vor ihrem Kollaps.
Noch als Krenz am 1. November in Moskau mit Michail Gorbatschow zusammentraf, war von einer Krise der DDR kaum die Rede. In Moskau hielt man den SED-Staat offenbar wieder für stabil, nachdem Honecker gestürzt und der Weg für Perestroika und das von Gorbatschow proklamierte neue Denken in der DDR frei geworden war. Doch das Gegenteil war der Fall. Als in der Nacht zum 1. November die Anfang Oktober von den DDR-Behörden verhängten Beschränkungen im Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei wieder aufgehoben wurden, überquerten binnen weniger Stunden mehr als 8000 DDR-Bürger die Grenze zur CSSR. Ehe der Tag zu Ende war, hatten bereits wieder 1200 Ostdeutsche in der Bonner Botschaft in Prag Zuflucht gesucht, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. In der ersten Novemberwoche erreichte auch die Demonstrations-

bewegung ihren Höhepunkt, als sich am 4. November mehr als eine halbe Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz versammelten und am 6. November ebenfalls wieder eine halbe Million in Leipzig, 60000 in Halle, 50000 in Karl-Marx-Stadt, 10000 in Cottbus und 25000 in Schwerin. Daraufhin traten am 7. November zunächst die Regierung der DDR (der Ministerrat) und am 8. November auch das Politbüro geschlossen zurück, um einer neuen Führung zu weichen, die im wesentlichen aus Anti-Honecker-Leuten bestand - unter ihnen Krenz, Modrow, Schabowski und Herger.
Hans Modrow wurde zum neuen Ministerpräsidenten der DDR bestimmt.

Biographie
Hans Modrow

Anders als Krenz, der keinen Ruf als Reformer besaß, schien er für manche eine glaubwürdige Alternative zur alten Garde der Partei zu verkörpern, auch wenn er kaum als Dissident oder gar als Oppositioneller zu bezeichnen war. Immerhin war es in seinem Parteibezirk Dresden zu den schwersten Übergriffen der Staatsmacht gegen Demonstranten gekommen. Der 61jährige Modrow hatte außerdem schon früh in der SED Karriere gemacht. Im Alter von 39 Jahren war er in das Zentralkomitee der Partei gewählt worden und hatte von 1971 bis 1973 die Abteilung für Agitation und Propaganda geleitet, ehe Honecker ihn nach Dresden abgeschoben hatte - offenbar um ihn von mächtigeren Positionen in der Hauptstadt fernzuhalten. In Dresden hatte Modrow sich jedoch durch seinen unideologischen Pragmatismus eine gewisse Popularität verschafft. Nun glaubten manche in der SED gar - auch wenn es dafür kaum Belege gab -, er habe das Zeug, der "Gorbatschow der DDR" zu werden. Im übrigen war es ein offenes Geheimnis, dass Modrow das Vertrauen Moskaus besaß.

Der 9. November

Ehe Modrow am 13. November von der Volkskammer offiziell zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, überschlugen sich die Ereignisse an den Grenzen der DDR. Nach Auf-

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hebung der Reisebeschränkungen gegenüber der Tschechoslowakei am 1. November und der Erklärung der DDR-Regierung, dass ihre Bürger direkt von der CSSR in die Bundesrepublik fahren könnten - ein Schritt, der die Mauer praktisch irrelevant werden ließ-, machten innerhalb einer Woche nicht weniger als 48177 DDR-Bürger von dieser Möglichkeit Gebrauch. Der Massenexodus, der nach der ungarischen Grenzöffnung am 2. Mai 1989 begonnen hatte, setzte sich nun mit immer neuen Rekordzahlen über die Tschechoslowakei fort.
Das Ausmaß der Ausreisen war inzwischen so groß, dass selbst die wohlhabende Bundesrepublik in Schwierigkeiten geriet. Bis zum Ende der ersten Novemberwoche hatten allein 1989 über 225000 Ostdeutsche ihren Weg nach Westdeutschland gefunden, zu denen noch etwa 300000 deutschstämmige Immigranten aus Osteuropa hinzukamen. Innenminister Wolfgang Schäuble warnte daher, die Bundesrepublik werde zwar weiterhin alle Übersiedler aufnehmen, doch müssten diese damit rechnen, für längere Zeit in relativ bescheidenen Verhältnissen zu leben. Bundeskanzler Kohl erklärte in seinem "Bericht zur Lage der Nation" am 8. November vor dem Bundestag, Bonn sei bereit, der neuen DDR-Führung bei der Umsetzung ihrer Reformen zu helfen. Wenn es einen wirklichen Reformprozess gebe, werde man sogar "eine neue Dimension wirtschaftlicher Unterstützung" für die DDR erwägen. Auch der Kanzler plädierte also für Hilfen vor Ort statt für eine Übersiedlung in die Bundesrepublik. Aber er verknüpfte sein Hilfsversprechen für die DDR mit klaren Bedingungen und sprach von einer "nationalen Verpflichtung" seiner Regierung, das "Recht auf Selbstbestimmung für alle Deutschen" zu fordern. Doch während Kohl im Bundestag sprach, war die Zahl der Flüchtlinge aus der DDR auf nicht weniger als 500 pro Stunde angeschwollen. Innerhalb eines Tages, vom 8. zum 9. November, flohen mehr als 11000 Ostdeutsche über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik. Es musste daher dringend etwas geschehen.

Reisegesetz

Krenz und die neue SED-Führung waren sich von Anfang an darüber im klaren gewesen, dass die Frage der Reisefreiheit von größter Bedeutung, ja entscheidend, sein werde, wenn die Erneuerung des Regimes auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg haben sollte. Ministerpräsident Stoph hatte daher Innenminister Friedrich Dickel bereits am 19. Oktober - nur zwei Tage nach Honeckers Sturz - beauftragt, ein neues Reisegesetz zu erarbeiten. Weitere fünf Tage später hatte das Politbüro verlauten lassen, dass es "in der Zukunft allen DDR-Bürgern erlaubt sein wird, ohne Behinderungen zu reisen". Der erste Entwurf eines neuen Reisegesetzes lag am 31. Oktober vor und zirkulierte zunächst in der Spitze von Partei und Regierung. Der Entwurf sah vor, dass alle Bürger der DDR das Recht haben sollten, ohne harte Währung für einen Monat im Jahr ins Ausland zu reisen, vorausgesetzt dass sie einen gültigen Reisepass und ein Visum besaßen, das von der Polizei innerhalb von dreißig Tagen nach Antragstellung zu erteilen sei.
Obwohl der Entwurf noch einige Ungereimtheiten enthielt - vor allem hinsichtlich der Notwendigkeit einer Visumserteilung -, wurde er am 6. November veröffentlicht. Die Regierung erwartete, dass die Diskussion darüber bis Ende November abgeschlossen sein werde, so dass die neuen Verfahren irgendwann im Dezember in Kraft treten könnten. Doch die vorgesehenen Bestimmungen stießen auf massive Kritik. Noch am Tage der Veröffentlichung forderten mehrere Hunderttausend Menschen auf einer Massendemonstration in Leipzig "ein Reisegesetz ohne Einschränkungen". Vertretern der SED wurde es nicht mehr erlaubt, auf der Versammlung zu sprechen. "Zu spät, zu spät", erscholl es aus der Menge. Und zum ersten Mal: "Wir brauchen keine

Gesetze - die Mauer muss weg!" Auch in anderen Städten der DDR gab es Protestaktionen gegen den Entwurf. Sogar das zensierte Fernsehen brachte kritische Stimmen von DDR-Bürgern. Und in Fabriken im ganzen Land kam es zu spontanen Warnstreiks von Arbeitern, die sich durch das geplante Gesetz diskriminiert fühlten, weil es für sie keine Devisen vorsah, die für Reisen ins Ausland unabdingbar waren. Der Entwurf wurde daraufhin am folgenden Tag vom Rechtsausschuss der Volkskammer als "unzureichend" verworfen. Schlechte Nachrichten kamen ebenfalls aus der Tschechoslowakei, von wo Parteichef Milos Jakes SED-Generalsekretär Krenz mitteilte, dass seine Regierung nicht länger bereit sei, DDR-Bürgern zu gestatten, die westdeutsche Botschaft in Prag zu betreten oder ohne Verzug über die Grenze nach Bayern in die Bundesrepublik einzureisen, weil dies Wasser auf die Mühlen der eigenen tschechoslowakischen Opposition sei. Wenn die Regierung in Ostberlin nicht umgehend Maßnahmen ergreife, um das Problem zu lösen, werde die CSSR ihre Grenze zur DDR schließen.
Das SED-Politbüro war daher unter großem Druck von innen und außen, als es am 7. November die Beratungen über die Gewährung der Reisefreiheit fortsetzte. Düster malte man sich aus, dass Tausende von DDR-Familien entlang der geschlossenen tschechoslowakischen Grenze kampierten oder gewaltsam versuchen würden, die andere Seite zu erreichen. Niemand würde einer solchen Situation standhalten können. Deshalb schien es notwendig, die ersehnte Reisefreiheit in einem Schritt vorab zu gewähren und das erforderliche Reisegesetz später vom Parlament nachträglich beschließen zu lassen. Ministerpräsident Stoph, der an diesem Tage zurücktrat, aber noch im Amt blieb, bis das neue Kabinett unter Hans Modrow am 17. November gebildet war, wurde beauftragt, eine entsprechende Entscheidung der Regierung herbeizuführen.
Am Nachmittag des 9. November informierte Krenz das Zentralkomitee der SED - nach der späteren Erinnerung von Sitzungsteilnehmern eher beiläufig - von der soeben getroffenen Entscheidung der Regierung über die neuen Reisebestimmungen. Gegen 18 Uhr übergab Krenz dem neuen ZK-Sekretär für Information, Günter Schabowski, der gerade auf dem Wege war, die im Internationalen Pressezentrum versammelten Journalisten über die Ergebnisse der ZK-Tagung zu unterrichten, ein zweiseitiges Papier, das die neuen Bestimmungen enthielt. Dieses Papier war lediglich eine Vorlage der Regierung, kein gültiger Beschluss, der immer noch ausstand (was Schabowski aber, wie er heute erklärt, damals nicht wusste). Bei der Aushändigung des Textes bemerkte Krenz nur knapp: "Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns." Natürlich hoffte er, dass das Einlenken der neuen DDR-Führung in dieser wichtigen Frage die Lage entspannen werde.

Öffnung der Mauer

Entsprechend groß war die Aufregung, als Schabowski wenig später mit bemühter Routinemäßigkeit die Nachricht bekanntgab, dass die DDR ihre Grenzen geöffnet habe. "Bedeutet dies", fragte ein Reporter, "dass jeder DDR-Bürger jetzt frei in den Westen reisen kann?" Schabowski zitierte daraufhin aus dem Text, dass Anträge auf Reisen ins Ausland ohne Vorbedingungen gestellt werden könnten, dass jeder DDR-Bürger ab dem kommenden Morgen um 8 Uhr ein Visum erhalten könne und dass die Behörden angewiesen seien, Pässe und Visa "schnell und unbürokratisch" auszustellen. Die Regelung trete "sofort" in Kraft.
Damit waren die Grenzen praktisch offen - auch wenn Schabowskis "sofort" eine aus dem Augenblick heraus entstandene unzulässige Erklärung war, die außeracht ließ, dass die von ihm verkündete Reiseregelung bisher nur im Entwurf vorlag und im übrigen

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an die Voraussetzung gebunden war, dass die Bürger vor dem überschreiten der Grenzen noch den Gang zu den Passdienststellen antreten mussten. Tatsächlich gab es noch gar keinen amtlichen Beschluss, sondern nur eine Regierungsvorlage über die vorgezogene Grenzregelung, die Krenz von Innenminister Dickel während der ZK-Tagung erhalten hatte, um sie zu begutachten und abzusegnen. Nach der Zustimmung des Politbüros sollte sie dann im Umlaufverfahren von den Mitgliedern der noch amtierenden Regierung verabschiedet werden. Erst nach dieser Runde im Ministerrat, so das Verfahren, würden auch die entsprechenden Ausführungsbestimmungen erlassen. Dies brauchte jedoch Zeit, die nun nicht mehr zur Verfügung stand, weil die auf Öffentlichkeitswirkung angelegte Aktion von Krenz den Terminplan durchkreuzt hatte.
Noch in der Nacht machten sich Tausende von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern auf den Weg zur Grenze, um sich an Ort und Stelle einen Eindruck von der neuen Lage zu verschaffen. Schabowskis missverständliche Äußerungen hatte bei ihnen die spontane Eingebung geweckt, dass sie "sofort" den Westen besuchen könnten. An den Grenzübergängen - vor allem in Berlin - war die Verwirrung allerdings groß, denn die Grenzposten hatten von der angeblichen Grenzöffnung ebenfalls erst aus den Medien erfahren. Die Grenzposten konnten deshalb am Abend des 9. November noch gar keine neuen Weisungen erhalten haben und mussten improvisieren. Als der Druck immer mehr anschwoll, entschieden sie nach längerem Zögern und verschiedentlichem Taktieren sowie nach einer ebenso eiligen wie provisorischen Konsultation ihrer Zentrale, die Grenzen aufzumachen. Auch Krenz, der gegen 21 Uhr von Mielke telefonisch unterrichtet wurde, dass "mehrere Hundert" Menschen an der Grenze die sofortige Ausreise verlangten, plädierte dafür, sie "durchzulassen", da die Öffnung ohnehin beabsichtigt und jetzt nicht mehr zu vermeiden sei. Damit war die Mauer, 28 Jahre nach ihrer Errichtung, gefallen.
Der Jubel und das Chaos, die in den folgenden Tagen herrschten, ließen eine nüchterne politische Bestandsaufnahme der Entwicklung nur schwer zu. Vor allem war unklar, ob die Verwirklichung der so lange geforderten Reisefreiheit nur den Druck beseitigen würde, unter dem die DDR-Führung so lange gestanden hatte, so dass sogar eine Stabilisierung des SED-Regimes wieder möglich schien, oder ob die Beseitigung der Mauer die Schleusen für den Massenexodus noch weiter öffnete und die DDR damit ökonomisch auszubluten drohte. Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt, der zur Zeit des Mauerbaus 1961 Regierender Bürgermeister von Berlin gewesen war und später durch seine neue Ostpolitik entscheidend dazu beigetragen hatte, die Spannungen zwischen Ost und West zu mindern und den Weg für Reformen in Osteuropa zu bereiten, erklärte in einer kurzfristig anberaumten Versammlung am Abend des 10. November vor dem Rathaus Schöneberg, nun sei eine neue Beziehung zwischen den beiden deutschen Staaten entstanden - eine Beziehung in Freiheit. Und damit sei die Zusammenführung der Deutschen in Ost und West auf Dauer nicht mehr aufzuhalten. "Jetzt", so Brandt wörtlich, " wächst zusammen, was zusammengehört."

Biographie
Willy Brandt

Beginn der deutschen Einigung

Mit der Maueröffnung war die deutsche Einigung allerdings noch keine beschlossene Sache. Die Entwicklung seit Mitte der achtziger Jahre deutete vielmehr in die entgegengesetzte Richtung. Die Welt hatte sich an die deutsche Teilung gewöhnt. Die DDR war auf der Bühne der internationalen Politik inzwischen anerkannt. Und da weder im Ausland noch in Deutschland selbst die

Existenz zweier deutscher Staaten, auf der die europäische Ordnung seit 1945 basierte, in absehbarer Zeit für revidierbar gehalten wurde, ohne den Frieden in Europa zu gefährden, zog man es allgemein vor, den Status quo der Teilung bereits für den "Normalzustand" zu halten.
Die Wende vom Herbst 1989 traf daher Ost und West unvorbereitet. Obwohl es bei näherer Betrachtung zahlreiche Hinweise und Vorboten für den Wandel im kommunistischen Lager gegeben hatte, wurde man davon im Westen ebenso überrascht wie in der Sowjetunion. Dementsprechend unsicher waren anfangs die Reaktionen: Einerseits bestand die Hoffnung auf größere Freiheit bzw. - aus sowjetischer Sicht - den endgültigen Sieg der Perestroika; andererseits gab es Furcht vor einem möglichen Wiederaufleben der Deutschen Frage und des Rückfalls in die Probleme der Zeit vor 1945.
Zwar bemühten sich Gorbatschow und seine Mitarbeiter bereits unmittelbar nach der Maueröffnung am 10. November 1989 in Kontakten mit der amerikanischen Administration und der Bundesregierung sowie mit der SED-Führung, eine unkontrollierte Eskalation der Entwicklung - etwa eine spontane Wiedervereinigung durch die Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland - zu verhindern und einen friedlichen Wandel in der DDR zu ermöglichen. Aber andere Kräfte in Moskau - vor allem im Parteiapparat und beim Militär - plädierten mehr oder minder offen für die Anwendung von Gewalt, um die Situation unter Kontrolle zu bringen: Eine "chinesische Lösung" nach dem Muster der Niederschlagung der Reformbewegung in China war daher keineswegs auszuschließen.
So drohte der ehemalige sowjetische Botschafter in Bonn, Valentin Falin, der inzwischen Leiter der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU war, bei einem Empfang in Ostberlin in kleinem Kreis, man werde "eine Million Truppen schicken, um die Grenzen wieder zu schließen". In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" erklärte er darüber hinaus, falls Gorbatschow beabsichtige, seinen Willen "in eiserner Manier" durchzusetzen, brauche er - oder sein Nachfolger - dafür "nur einige Stunden". Falin fand mit dieser Position, die er später stets empört in Abrede stellte, Unterstützung bei der Generalität und beim orthodoxen Flügel der KPdSU unter Führung von Jegor Ligatschow, die zu Recht befürchteten, dass die DDR als unentbehrliche westliche Bastion des sozialistischen Lagers verloren gehen könne. Gorbatschow und vor allem Außenminister Eduard Schewardnadse wiesen jedoch auf die möglichen Konsequenzen einer Militäraktion in der Mitte Europas hin. Später behauptete Schewardnadse in einem Interview sogar, in diesen Stunden habe man sich "am Rande eines Dritten Weltkrieges" bewegt. Glücklicherweise habe er in der Auseinandersetzung mit den Befürwortern einer Militäraktion Rückendeckung von Gorbatschow erhalten, so dass ein militärischer Konflikt habe vermieden werden können.

Auf westlicher Seite war die Reaktion ebenfalls uneinheitlich. Während man sich in London und Paris besorgt zeigte, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands, die jetzt nicht mehr auszuschließen war, neue Risiken für die europäische Ordnung heraufbeschwören könnte, betrachtete man die Entwicklung in Washington mit Gelassenheit und sogar mit Genugtuung, da das erklärte westliche Ziel im Ost-West-Konflikt - die Befreiung Osteuropas vom Kommunismus - der Verwirklichung nahe schien. In Bonn neigte man dagegen eher zur Zurückhaltung, um die komplizierte Situation nicht durch unbedachte eigene Schritte zusätzlich zu verwirren. Allerdings ließ Bundeskanzler Kohl es sich bei aller gebotenen politischen Vorsicht nicht nehmen, am 10. November vor dem Rathaus Schöneberg in Berlin den Ostdeutschen zuzurufen, sie seien "in dieser großen und historischen Stunde" nicht allein und sollten ihren Kampf um die Freiheit fortsetzen. Denn, so Kohl wörtlich, "wir sind an eurer Seite. Wir sind eine Nation."

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Ringen um die Erhaltung der DDR

Am 13. November 1989 wurde Hans Modrow zum neuen Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Damit begann, nach einer kurzen Phase überschwänglicher Euphorie und grenzenloser Hoffnungen, das Alltagsgeschäft der Wende.
Seit Beginn der Krise im Sommer hatte Modrow wiederholt erklärt, dass er hoffe, während der unsicheren Zeit des übergangs der DDR zu einer "sozialistischen Demokratie" ein stabilisierender Faktor zu sein. Seine eigentlichen Ziele blieben jedoch zunächst im Dunkeln. Manches spricht dafür, dass er - in enger Zusammenarbeit mit Markus Wolf, der 1987 als Chef der DDR-Auslandsspionage ausgeschieden und ein zuverlässiger Freund der Sowjetunion war - das SED-Regime grundlegend reformieren wollte, um es nicht nur als Eckpfeiler des sowjetischen Imperiums in Osteuropa zu erhalten, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit der DDR gegenüber dem Westen zu erhöhen. In jedem Falle galt es, die DDR wirtschaftlich und finanziell zu sanieren - notfalls sogar im Rahmen einer Konföderation mit der Bundesrepublik -, um überhaupt erst einmal ihre Existenz zu sichern. Einerseits stand Modrow damit fest auf dem Boden des ostdeutschen Systems, das er - mit der Hoffnung auf Stabilisierung und ökonomischen Erfolg - den aktuellen Erfordernissen anzupassen gedachte, wobei er sich selbstverständlich auch zum Bündnis mit der Sowjetunion bekannte, ohne deren Unterstützung die DDR kaum überlebensfähig war. Andererseits war er pragmatisch und nüchtern genug, die ökonomischen Grenzen der DDR zu erkennen und daraus die notwendigen Schlüsse im Sinne gesamtdeutscher Initiativen zu ziehen.
Unter günstigeren innen- und außenpolitischen Umständen hätte Modrow mit dieser Politik vielleicht sogar Erfolg haben können. Aber dazu war es Ende 1989 längst zu spät. Nicht nur die große Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung hatte inzwischen jegliches Zutrauen zu ihrer Regierung verloren. Auch die ostdeutsche Wirtschaft war bankrott, wie der scheidende Finanzminister Ernst Höfner am Tage der Amtsübernahme Modrows enthüllte. Neben einem Haushaltsdefizit von 120 Milliarden Mark der DDR und einer Auslandsverschuldung von 20 Milliarden Dollar war vor allem die Tatsache besorgniserregend, dass die Produktivität der ostdeutschen Betriebe seit 1980 um etwa 50 Prozent gesunken und ein Ende der Talfahrt nicht in Sicht war. Einem Vergleich mit westlichen Betrieben, der bei offenen Grenzen nicht zu vermeiden war, hielt die ostdeutsche Wirtschaft daher in keiner Weise stand.

Vertraglich gesicherte Gemeinschaft

Modrow schlug deshalb in seiner Regierungserklärung am 17. November 1989 eine "Vertragsgemeinschaft" zwischen den beiden deutschen Staaten vor und sprach in einem Interview mit dem Wochenmagazin "Der Spiegel" am 4. Dezember sogar von der Möglichkeit einer "deutschen Konföderation". Die DDR, so führte Modrow zur Begründung an, könne ihre wirtschaftliche Entwicklung nicht ohne "Blick auf den europäischen Markt" betrachten, wenn Ungarn, Polen und die anderen osteuropäischen Staaten auf dem Weg nach Straßburg und Brüssel seien - oder sich bereits dort befänden. Offenbar versuchte Modrow, massive wirtschaftliche Unterstützung von der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaft zu erhalten, ohne sich vom Westen politisch absorbieren zu lassen. Die DDR sollte zu einer "sozialistischen Marktwirtschaft" umgestaltet werden, in der es nicht nur gemischte Besitzverhältnisse, sondern auch ein "sozialistisches Unternehmertum" geben werde. Doch Modrow fehlte nicht zuletzt die Zeit, derart weitreichende Reformen in die Tat umzusetzen. Die Situation verschlechterte sich von Tag zu Tag: Der Massenexodus von DDR-Bürgern mit über 2000 Flüchtlingen

bzw. übersiedlern täglich hielt an, und die neuen politischen Kräfte in der DDR, wie das Neue Forum und die SPD-Ost, versammelten sich mit anderen Befürwortern von Reformen nach polnischem Vorbild zu Gesprächen mit der Regierung und den Kräften des alten Regimes am "Runden Tisch", wo sie eine Art Nebenregierung zum Kabinett Modrow und zugleich ein Ersatzparlament bildeten, nachdem die Volkskammer ihre Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung inzwischen gänzlich eingebüßt hatte. Der Machtverlust der alten Ordnung zeigte sich auch darin, dass die SED innerhalb von zwei Monaten nach dem Sturz Honeckers mehr als die Hälfte ihrer zuvor drei Millionen Mitglieder verlor. Dieser Schwund wurde nicht zuletzt durch die Enthüllung von Korruptionsskandalen gefördert, bei deren Aufdeckung sich Modrow allerdings ebenso auffällig zurückhielt wie bei der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit, das für die DDR-Bevölkerung inzwischen zu einem der zentralen Kritikpunkte am SED-Regime geworden war. Für Modrow schienen die Staatsräson und der Schutz der eigenen Genossen wichtiger als die Glaubwürdigkeit seiner Reformpolitik.

Am 3. Dezember 1989 war der Machtwechsel in der DDR schließlich endgültig vollzogen, als das gesamte Politbüro und das Zentralkomitee der SED zurücktraten. Egon Krenz verlor nicht nur seinen Posten als Generalsekretär der SED, sondern trat am 6. Dezember auch als Vorsitzender des Staatsrates und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates zurück. Alle Schlüsselpositionen wurden mit Anhängern Modrows besetzt. Neuer Vorsitzender der SED, die sich nun "Sozialistische Einheitspartei - Partei des Demokratischen Sozialismus" (SED-PDS) nannte, wurde der Rechtsanwalt Gregor Gysi, der sich als Verteidiger von Regimegegnern - darunter auch Bärbel Bohley - einen Namen gemacht hatte, sich nun aber ebenfalls rasch als loyaler Parteigänger Modrows erwies.

Kohls Zehn-Punkte-Plan

In der Bundesrepublik wurden die Entwicklungen in der DDR mit großer Aufmerksamkeit registriert. So war es den politischen Beobachtern hier auch nicht entgangen, dass bei der Montagsdemonstration in Leipzig am 6. November erstmals Sprechchöre mit dem Ruf "Deutschland, einig Vaterland" zu hören gewesen waren und dass dieser Slogan bei der Demonstration eine Woche später bereits ein bestimmendes Element auf den mitgeführten Transparenten dargestellt hatte. Außenminister Hans-Dietrich Genscher beruhigte deshalb am selben Tag seine Amtskollegen der Westeuropäischen Union (WEU) in Brüssel mit dem Hinweis, dass die Bundesrepublik keinen "nationalen Alleingang in der Außenpolitik" unternehmen werde. Mit anderen Worten: Die Wiedervereinigung sei kein Thema.
Auch Bundeskanzler Kohl bekräftigte bei seinem Besuch in Polen am 14. November "die Buchstaben und den Geist" des Warschauer Vertrages von 1970 und unterzeichnete eine gemeinsame Erklärung mit Ministerpräsident Tadeusz Masowiecki, in der Bonn nochmals seine Garantie der polnischen Westgrenze erneuerte. Die Polen hätten vor dem Hintergrund der unsicheren Entwicklung in der DDR gerne eine weitergehende Zusicherung für die Oder-Neiße-Linie erhalten. Doch Kohl befand sich zu diesem Zeitpunkt unter einem doppelten innenpolitischen Druck: Einerseits wurde ihm von der SPD vorgeworfen, angesichts der dramatischen Veränderungen in Osteuropa und Ostdeutschland zu passiv zu sein; andererseits hatte sich die rechtsgerichtete Partei Die Republikaner bei Kommunalwahlen als bemerkenswert erfolgreich erwiesen, so dass bei den im Jahre 1990 bevorstehenden Landtags- und Bundestagswahlen ein Teil des konservativen Wählerpotenzials für die Regierungskoalition in Bonn an die Republikaner verloren zu gehen drohte. Überdies wusste der Kanzler um die

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Sensibilität des Auslandes bei allen Fragen, die die deutsche Position in Europa betrafen.
Kohl war deshalb zu größter Vorsicht gezwungen, als er am 16. November vor dem Deutschen Bundestag den Bericht über seine Reise nach Polen abzugeben hatte und dabei auch auf die Entwicklungen in der DDR zu sprechen kam. Anstatt über die Möglichkeiten einer deutschen Wiedervereinigung in Euphorie zu schwelgen, beschränkte sich der Kanzler daher auf eine nüchterne Bestandsaufnahme, bei der er unterstrich, dass die Bundesrepublik selbstverständlich jede Entscheidung respektieren werde, die das Volk der DDR in freier Selbstbestimmung treffe.
Als am nächsten Tag in Bonn bekannt wurde, dass Generalsekretär Gorbatschow bei einer Rede vor Studenten in Moskau am 15. November ausdrücklich von einer "Wiedervereinigung" Deutschlands gesprochen hatte - wenn auch nur mit dem beiläufigen Hinweis, dass sie eine "interne Angelegenheit" der Bundesrepublik und der DDR sei -, wurde man jedoch hellhörig. Und als vier Tage später einer der besten sowjetischen Deutschlandexperten, Nikolai Portugalow, Berater des Zentralkomitees der KPdSU, im Kanzleramt erschien, um die Haltung der Bundesregierung zur Entwicklung in der DDR zu erkunden, und dabei auch die Möglichkeit andeutete, dass die Sowjetunion mittelfristig einer deutschen Konföderation "grünes Licht" geben könne, kam man nicht länger umhin, sich eingehender mit der Wiedervereinigungsfrage zu befassen. Denn offenbar war man in dieser Hinsicht in Moskau bereits weiter als in Bonn. In einer nächtlichen Runde im Kanzleramt am 23. November und einer weiteren Sitzung am folgenden Morgen wurden deshalb in aller Eile Antworten auf einen Fragenkatalog erarbeitet, den Portugalow hinterlassen hatte: bezüglich der Kooperation zwischen den beiden deutschen Staaten und besonders zur Wiedervereinigung, zur Aufnahme der DDR in die Europäische Gemeinschaft, zur Mitgliedschaft in NATO und Warschauer Pakt sowie zur Möglichkeit des Abschlusses eines Friedensvertrages.

Konföderation

Am Ende der Beratungen waren zehn Punkte zusammengekommen, die der Kanzler in der Haushaltsdebatte am 28. November vortragen sollte. Nur die amerikanische Regierung wurde vorab über die Ausführungen Kohls informiert, deren Kern der Plan für eine deutsch-deutsche Konföderation darstellte. Der sowjetische Botschafter in Bonn, Julij Kwizinskij, erhielt den Text der Rede, während Kohl im Bundestag sprach.
Pläne einer Konföderation zwischen den beiden deutschen Staaten waren nicht neu. Bereits in den fünfziger Jahren war gelegentlich darüber diskutiert worden. Und 1989 hatten zunächst Egon Krenz und dann auch Hans Modrow entsprechende Ideen ins Spiel gebracht. Aber sie waren stets vage geblieben, allenfalls als ferne Utopie erschienen, und verfehlten deshalb ihre Wirkung. Überdies litten ihre Urheber unter dem Problem mangelnder deutschlandpolitischer Glaubwürdigkeit, die nicht über Nacht zu gewinnen war. Die Ausführungen Kohls, die in der Öffentlichkeit rasch als "Zehn-Punkte-Plan" der Bundesregierung zur Wiedervereinigung Deutschlands hochstilisiert wurden, fanden jedoch sofort ein großes Echo: Sie waren konkret, mit präzisen Vorschlägen und einer Stufenfolge, kamen direkt vom Kanzler und stellten eine mutige Richtungsentscheidung der sonst so vorsichtigen Bundesregierung dar, auf die viele lange gewartet hatten. "Wiedervereinigung, die Wiedererlangung der deutschen staatlichen Einheit", so Kohl, bleibe "das politische Ziel der Bundesregierung".
Im einzelnen sah der Zehn-Punkte-Plan eine Reihe von Maßnahmen vor, die von "sofortiger konkreter Hilfe" für die DDR über die Errichtung der von Modrow vorgeschlagenen Vertragsgemeinschaft bis zur Einführung "konföderativer Strukturen zwischen den zwei Staaten in Deutschland mit dem Ziel der Schaffung einer Föderation, einer föderativen staatlichen Ordnung in Deutschland" reichten.

Niemand wisse, so Kohl, wie ein wiedervereinigtes Deutschland aussehen werde. Er sei jedoch sicher, dass die Einheit kommen werde, wenn die deutsche Nation dies wünsche. Eine unabdingbare Voraussetzung dafür sei eine "legitime demokratische Regierung" in der DDR. Nach freien Wahlen könnten dann verschiedene gesamtdeutsche Institutionen gebildet werden - einschließlich eines gemeinsamen Regierungsausschusses zur ständigen Konsultation und politischen Harmonisierung, gemeinsamer technischer Komitees und einer gemeinsamen parlamentarischen Körperschaft. Wenn diese Politik erfolgreich sei, könne das deutsche Volk schließlich in einem freien Europa in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen.
Die Reaktion auf diese Vorschläge war bei allen Parteien des Bundestages mit Ausnahme der Grünen grundsätzlich positiv. Die Sozialdemokraten glaubten in Kohls Zehn-Punkte-Plan sogar viele eigene Ideen wieder zu entdecken, die sie über die Jahre hinweg zur Deutschlandpolitik geäußert hatten. Allerdings zögerten einige sozialdemokratische Spitzenpolitiker, allen voran der Parteivorsitzende Hans-Jochen Vogel, sich den Vorschlägen des Kanzlers vorbehaltlos anzuschließen, weil sie der Meinung waren, dass die DDR-Bürgerinnen und -Bürger nicht nur das Recht, sondern auch den Freiraum haben müssten, über ihre Zukunft selber zu entscheiden. Eine Wiedervereinigung Deutschlands, so die SPD-Spitze, stünde ohnehin noch nicht auf der Tagesordnung. Sogar das Wort "Wiedervereinigung" wurde deshalb in den Stellungnahmen der SPD sorgfältig vermieden und durch Begriffe wie "Einheit" oder "Einigung" ersetzt.
In den USA, wo man von Kohls Zehn-Punkte-Programm förmlich überrollt wurde, stimmte man den Ausführungen des Kanzlers weithin zu. Zwar wurde die mangelnde vorherige Konsultation kritisiert. Aber sowohl Präsident George Bush als auch Außenminister James Baker erklärten sich mit den von Kohl angeregten Schritten zur Wiedervereinigung Deutschlands prinzipiell einverstanden. Allerdings wurde diese Zustimmung an die Bedingung geknüpft, dass die fortgesetzte Einbindung Deutschlands in die westliche Allianz gesichert bleibe. Bei einem Besuch Bakers in Berlin am 12. Dezember verwies der amerikanische Außenminister daher vorsorglich noch einmal auf die alliierten Vorbehaltsrechte in der Deutschlandpolitik, um Bonn von einem Alleingang abzuhalten. Die Bundesregierung solle, wie Baker intern verlauten ließ, "an den Anker gelegt" werden. In Paris hieß es sogar, man müsse die Deutschen wohl "daran erinnern, wer für Berlin verantwortlich" sei.
In Moskau, von wo aus - vielleicht ungewollt - die Initialzündung für den Zehn-Punkte-Plan erfolgt war, brachte Gorbatschow am 10. Dezember in einem Telefonat mit dem Vorsitzenden der SED-PDS, Gregor Gysi, sein Missfallen über Kohls Vorschläge zum Ausdruck. Jeder Versuch des Westens, die "Souveränität der DDR" einzuschränken, werde von der Sowjetunion zurückgewiesen. Zwischen der Stabilität der DDR und der Stabilität auf dem europäischen Kontinent bestehe ein enger Zusammenhang.

Wachsender Druck

Über die Zukunft der DDR wurde inzwischen jedoch kaum noch von außen, sondern vor allem in Ostdeutschland selber entschieden. So zogen am 11. Dezember nicht weniger als 300000 Menschen durch die Straßen Leipzigs, viele von ihnen mit schwarz-rot-goldenen Fahnen, darunter einige mit dem Bundesadler, "Deutschland! Deutschland!" skandierend. Nach einer Umfrage der "Leipziger Volkszeitung" vom selben Tag sprachen sich etwa drei Viertel der 547000 Einwohner der Stadt für die Wiedervereinigung aus.
In Dresden hatte der Ministerpräsident Baden-Württembergs, Lothar Späth, bei einem Kurzbesuch am Vortag ebenfalls die Erfahrung gemacht, dass die Dringlichkeit der Wiedervereinigungsforderungen zunahm.

Wege zur Einheit
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Als Späth auf dem Dresdener Flughafen eintraf, wurde seine Delegation mit einem Spruchband empfangen, auf dem ein leicht modifiziertes Zitat aus Friedrich Schillers Wallenstein zu lesen war: "Spät(h) kommt ihr - Doch ihr kommt! Allein der weite Weg entschuldigt euer Säumen". Auf dem traditionellen Striezel-Markt wurde Späth immer wieder von alten und jungen Dresdenern angesprochen, die ihrem Wunsch nach Gemeinsamkeit und Wiedervereinigung auf höchst emotionale Weise mit Tränen in den Augen Ausdruck verliehen. Vor der Kreuzkirche hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, um - wie bei den Montagsdemonstrationen - mit schwarz-rot-goldenen Fahnen und "Deutschland! Deutschland"-Rufen ihre Forderung nach Einheit deutlich zu machen.
Nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik informierte Späth sogleich Bundeskanzler Kohl über seine Eindrücke, da der Kanzler in der folgenden Woche, am 19. Dezember, zu einem Treffen mit Ministerpräsident Modrow nach Dresden reisen wollte. Späths Bericht löste in Bonn einige Irritationen aus, weil man jetzt nicht mehr sicher sein konnte, dass der Besuch Kohls reibungslos verlaufen würde. Dabei hatte man eigens Dresden gewählt, weil es als Treffpunkt vergleichsweise unproblematisch schien. Ostberlin war ausgeschieden, weil die Bundesregierung die "Hauptstadt des SED-Regimes" nicht akzeptieren mochte; die "heroische Stadt" Leipzig war von der DDR-Regierung abgelehnt worden; und die Wartburg hatte als allzu symbolisch gegolten, weil sie nicht nur mit Martin Luther, sondern auch mit der nationalen Einigungsbewegung des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht wurde. Doch nun drohte auch Dresden zu einem Problem zu werden.
Der Besuch Kohls fand trotzdem statt - und wurde, wie Mitarbeiter Kohls immer wieder betont haben, zu einem emotionalen Schlüsselerlebnis des Kanzlers, der von nun an unbeirrbar den Weg zur Wiedervereinigung beschritt.

Verhandlungen

Die Verhandlungen zwischen Kohl und Modrow waren demgegenüber nur von mäßiger Bedeutung, auch wenn einige spektakuläre Entscheidungen getroffen wurden. So wurde eine gemeinsame Erklärung über die von Modrow bei seinem Regierungsantritt angebotene "Vertragsgemeinschaft" zwischen den beiden deutschen Staaten verabschiedet, die "weit über den Grundlagenvertrag und die bislang geschlossenen Verträge hinausgehen" sollte. Außerdem verständigte man sich auf die Einführung des visafreien Verkehrs zwischen den beiden deutschen Staaten nach dem 24. Dezember und die Öffnung des Brandenburger Tores für den Fußgängerverkehr am 22. Dezember. Verhandlungen auf Ministerebene über die Ausgestaltung der Vertragsgemeinschaft sollten nach dem 1. Januar beginnen. Für die finanziellen Verluste, die der DDR durch die neuen Reisebestimmungen entstanden, sollte von der Bundesrepublik eine Kompensation gezahlt werden.
Bei diesen Gesprächen wurde Kohl aber auch erstmals mit der Forderung Modrows konfrontiert, dass die Bundesrepublik die DDR-Wirtschaft im Jahre 1990 mit "einer Art Lastenausgleich" in Höhe von 15 Milliarden DM stützen solle. Modrow begründete seine Forderung mit dem Hinweis, dass die DDR nach der Öffnung der Grenzen stark unter den Druck von Westdeutschen geraten sei, die von den für sie günstigen Wechselkursen und der hohen staatlichen Subventionierung ostdeutscher Güter profitierten. Außerdem brauche die DDR das Geld dringend, so Modrow, um Industrie und Landwirtschaft zu modernisieren und die Infrastruktur wieder aufzubauen. Der Kanzler bemerkte dazu lediglich, man solle lieber von einem "Solidaritätsbeitrag" als von einem "Lastenausgleich" sprechen.

Er sah sich jedoch nicht in der Lage, konkrete Zusagen zu geben. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hatte zwar einige Tage zuvor, bei der Vorbereitung des Dresden-Besuchs, angeregt, Modrow die sofortige Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den beiden deutschen Staaten anzubieten. Aber den meisten Beratern Kohls war dieser Vorschlag zu weit gegangen: Die Zeit dafür schien noch nicht reif. Der Kanzler war daher ohne präzise Vorstellungen über den weiteren Fortgang nach Dresden gereist und reagierte auf Modrows Forderung ausweichend.
Modrow hat später den Kanzler beschuldigt, seine in Dresden gemachten Versprechungen nicht gehalten zu haben. Weder ein "Solidaritätsbeitrag" noch die Kompensationen für den visafreien Reiseverkehr seien jemals gezahlt worden, und auch die vereinbarten Gespräche über die Vertragsgemeinschaft hätten nie stattgefunden. Die Verbitterung Modrows war verständlich. Denn Kohl änderte nach Dresden die Richtung seiner Politik und verlor nahezu jegliches Interesse an Verhandlungen mit dem DDR-Ministerpräsidenten, der noch als Repräsentant des alten, verbrauchten und nicht durch freie Wahlen legitimierten SED-Regimes erschien.
Im selben Maße, in dem die DDR durch den anhaltenden Massenexodus ihrer Bürger, die Zunahme der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und das Anwachsen der inneren Opposition, einschließlich der Massendemonstrationen, unter Druck geriet, setzte der Kanzler nun auf die politischen Willensbekundungen der Menschen in der DDR. Sie waren ihm am Nachmittag des 19. Dezember in einer Großveranstaltung mit Zehntausenden von Ostdeutschen vor den Ruinen der Dresdener Frauenkirche in einem Meer schwarz-rot-goldener Fahnen, die meisten inzwischen ohne DDR-Emblem, und "Deutschland! Deutschland!"-Rufen unmissverständlich vor Augen geführt worden. Ein DDR-Entwurf für einen "Vertrag über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland" mit Datum vom 17. Januar 1990, der Kanzleramtsminister Seiters am 25. Januar übergeben wurde, wirkte dagegen bereits vollständig überholt. Die politische Entwicklung in Deutschland hatte die Politiker - zumindest diejenigen der DDR - längst hinter sich gelassen. Bundeskanzler Kohl war einer der wenigen, die dies nach Dresden spürten.

Modrows Initiative

Die konkrete Planung der ersten Wiedervereinigungsschritte begann Ende Januar und Anfang Februar 1990. Selbst in der Sowjetunion, wo man der Idee eines vereinten Deutschland besonders skeptisch gegenüberstand, ließ sich die rapide Verschlechterung der Lage in der DDR nicht mehr ignorieren. Auch die sowjetische Führung musste sich auf die neuen Bedingungen einstellen. Und wieder war es Nikolai Portugalow, der dem Wandel Sprache und Ausdruck verlieh. In einem als sensationell empfundenen Interview mit der "Bild"-Zeitung erklärte er am 24. Januar, wenn die Menschen in der DDR die Wiedervereinigung wollten, werde sie auch kommen. Die Sowjetunion werde sich einer solchen Entscheidung nicht widersetzen. Wörtlich bemerkte der Russe: "Wir werden nicht intervenieren."

In Bonn wurden die Ausführungen Portugalows als unmissverständliches Zeichen eines grundsätzlichen Wandels in der sowjetischen Haltung gegenüber einer deutschen Wiedervereinigung gedeutet. Zugleich malte DDR-Ministerpräsident Modrow bei einem Besuch von Kanzleramtsminister Seiters am 27. Januar in Ostberlin ein düsteres Bild von der Situation in seinem Lande: Die staatliche Autorität sei in rascher Auflösung begriffen, Streiks weiteten sich aus und das öffentliche Klima sei zunehmend aggressiv.

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Die Verhandlungen über die Errichtung einer Vertragsgemeinschaft müssten deshalb, so Modrow, unverzüglich beginnen. Außerdem seien massive Finanzhilfen und industrielle Kooperation unbedingt notwendig, um den bevorstehenden Zusammenbruch abzuwenden. In seinen Memoiren bekannte Modrow später, aus dieser Lage und den Illusionen, die man sich in den anderen RGW-Ländern (Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe) über die wirtschaftliche Lage damals noch machte, die Schlussfolgerung gezogen zu haben, "dass für uns nur die Orientierung auf die Bundesrepublik eine reale Alternative war". Gemeinsam mit den Kräften am Runden Tisch habe er es daher als notwendig betrachtet, "die Stabilisierung der DDR mit einer stufenweisen Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu verbinden".
Am 29. Januar trat Modrow vor die Abgeordneten der Volkskammer und wiederholte auch öffentlich, was er zuvor Seiters privat mitgeteilt hatte. Unmittel- bar danach reiste er nach Moskau, wo am 30. Januar ein Treffen mit Generalsekretär Gorbatschow vorgesehen war. Den Moskau-Besuch hatte Modrow in mehreren Unterredungen mit dem sowjetischen Botschafter in Ostberlin vorbereitet. Dabei war ein Papier entstanden, das den beziehungsreichen Titel "Für Deutschland, einig Vaterland" trug - eine Zeile aus dem ersten Vers der 1949 von Johannes R. Becher geschaffenen und von Hanns Eisler vertonten Nationalhymne der DDR. Der Plan sah vier Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit vor:
1. Abschluss eines Vertrages über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft als eine Vertragsgemeinschaft, die bereits wesentliche konföderative Elemente enthalten sollte, wie Wirtschafts-, Währungs- und Verkehrsunion sowie Rechtsangleichung.
2. Bildung einer Konföderation mit gemeinsamen Organen und Institutionen, wie zum Beispiel parlamentarischer Ausschuss, Länderkammer, gemeinsame Exekutivorgane für bestimmte Bereiche.
3. Übertragung von Souveränitätsrechten beider Staaten an die Machtorgane der Konföderation.
4. Bildung eines einheitlichen deutschen Staates in Form einer Deutschen Föderation oder eines Deutschen Bundes durch Wahlen in beiden Teilen der Konföderation, Zusammentreten eines einheitlichen Parlaments, das eine einheitliche Verfassung und eine einheitliche Regierung mit Sitz in Berlin beschließen sollte.

Vorbedingungen

Der Plan war für Modrow jedoch an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Dazu zählte nicht nur die Absicht, bis zum Abschluss einer gemeinsamen Regelung an den Vier-Mächte-Rechten in Deutschland festzuhalten, sondern auch die Forderung, dass die Bundesrepublik und die DDR "sich gegenseitig nicht in innere Angelegenheiten einzumischen" hätten und dass beide deutschen Staaten auf dem Weg zur Föderation "militärische Neutralität" wahren sollten.
Am Morgen des 30. Januar wurde Modrows Konzeption in Moskau mit Gorbatschow, Ministerpräsident Nikolai Ryschkow, Außenminister Schewardnadse und dem Leiter der internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU, Falin, diskutiert. Viel gab es allerdings nicht zu besprechen. Modrows Initiative war angesichts der sich alarmierend verschlechternden Situation in seinem Lande eine Mischung aus Frustration und Hoffnung. Gorbatschow bemerkte, dass ähnliche Maßnahmen auch schon von seiner eigenen Regierung erwogen würden; die deutsche Wiedervereinigung könne nicht länger als "eine Möglichkeit in der Zukunft" ausgeschlossen werden. Die Sowjetunion werde das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung respektieren. Allerdings müssten bald Verhandlungen mit den USA, Großbritannien und Frankreich beginnen

- möglichst auf der obersten Ebene -, um einen Vier-Mächte-Rahmen für die eintretenden Veränderungen zu entwickeln und eine Lösung zu finden, die auch die Interessen der DDR berücksichtige. In Bonn wurden diese Äußerungen aus Moskau, die noch am gleichen Tage von den Medien verbreitet wurden, mit größtem Interesse zur Kenntnis genommen. Gorbatschow schien sich nun mit der deutschen Einigung zumindest im Prinzip abgefunden zu haben, und Modrow hatte erneut bestätigt, dass er zu einer Konföderation - oder gar zu einer vollständigen Wiedervereinigung - keine Alternative mehr sah. Auf einer Kabinettssitzung am 31. Januar stellte der Bundeskanzler daher fest, nun könne "die staatliche Einheit noch schneller kommen, als wir alle bisher angenommen hatten". Er kündigte seine Absicht an, Arbeitsstäbe einzurichten, um Vorschläge für die praktische Umsetzung der Wiedervereinigung zu erhalten. Eine "Arbeitsgruppe Deutschlandpolitik", die sich unmittelbar nach der Kabinettssitzung im Kanzleramt konstituierte, sollte die Aktivitäten der verschiedenen Bereiche der Regierung bei der Ausarbeitung der Wiedervereinigungsvorschläge koordinieren.
Der Konföderationsplan Modrows wurde in Bonn allerdings weniger positiv aufgenommen. Vor allem Modrows Idee, ein in einer Konföderation vereinigtes Deutschland solle politisch und militärisch neutral sein, stieß auf Widerstand. Sie wurde nicht nur von den Regierungsparteien, sondern auch von der SPD sofort verworfen. Der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper (SPD), bemerkte, der Plan erinnere ihn an sowjetische Vorschläge aus den fünfziger Jahren; er bezweifle, "ob solche Pläne mit der heutigen Zeit in Einklang zu bringen sind".
Tatsächlich hatte Modrow selber drängendere Sorgen, als eine neue Neutralisierungsdebatte zu beginnen, die schon in den fünfziger Jahren zu nichts geführt hatte. Bei einem Zusammentreffen mit Kohl am 2. Februar auf dem "World Economic Forum" im schweizerischen Davos informierte er den Kanzler, dass der Zerfall der DDR sich täglich beschleunige. Bis Ende 1989 sei die Lage noch verhältnismäßig stabil gewesen. Aber jetzt sei die Autorität der Regierung auch auf der lokalen Ebene im Schwinden begriffen. Eine rasche Zusammenführung der beiden deutschen Staaten sei deshalb unvermeidlich. Geld spiele dabei eine große Rolle: Die DDR brauche sofort 15 Milliarden DM, um eine finanzielle Katastrophe im März abzuwenden. Darüber hinaus sei es möglich, die DM zur alleinigen Währung der DDR zu machen. In einem Interview mit dem schweizerischen Radio gestand ein offenbar zutiefst erschütterter Modrow darüber hinaus zu, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands auch ohne Neutralisierung denkbar sei.

Plan zur Wirtschafts- und Währungsunion

Die Informationen, die Modrow in Davos gegeben hatte, korrespondierten mit Nachrichten aus anderen Quellen. So hatte der baden-württembergische Ministerpräsident Späth am Abend des 1. Februar nach seiner Rückkehr von einem erneuten Besuch in Ostdeutschland dem Kanzler telefonisch mitgeteilt, die DDR-Regierung sei am Ende ihrer Kräfte angelangt. Noch ehe Kohl sich am 2. Februar nach Davos auf den Weg machte, suchte er deshalb mit seinen persönlichen Beratern und mehreren Ministern im Kanzleramt nach möglichen Lösungen. Eine Alternative, die auch von Modrow bereits angedeutet worden war, lag auf der Hand: die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Die Frage war nur, ob sie praktisch durchführbar wäre und wie hoch die Kosten sein würden.
Selbst Bundesfinanzminister Theo Waigel, der noch in der Vorwoche für die Einführung der DM in Ostdeutschland erst nach "einer langen Phase der Anpassung" plädiert hatte, sprach

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sich am 2. Februar für eine sofortige Währungsunion aus. Bonn solle nun "in die politische Offensive gehen". Alle Pläne für eine schrittweise Vereinigung seien durch den bevorstehenden Zusammenbruch der DDR überholt. Die Äußerungen Modrows in Davos waren nur eine Bestätigung dieser Ansicht.
Vor dem Hintergrund des gerade beginnenden Wahlkampfes für die Wahlen zur Volkskammer am 18. März kündigte der Kanzler daher am 6. Februar öffentlich Gespräche zur Einführung der DM in der DDR an. Es war eine politische Entscheidung, die den ostdeutschen Bürgern eine eindeutige Perspektive bieten sollte, um sie nicht zuletzt auch zu einem bestimmten Wahlverhalten zu veranlassen. Vorangegangene Beratungen mit dem Präsidenten der Bundesbank, Karl Otto Pöhl, am 5. Februar hatten allerdings unter finanziellen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten keineswegs ein klares Bild für eine solche Entscheidung gegeben. Pöhl hatte sich nämlich für einen schrittweisen Prozess ausgesprochen, der Jahre in Anspruch nehmen könne, und eine sofortige Währungsunion für "ungeeignet und unmöglich" erklärt. Als Kohl sich nun entgegen allen Warnungen von Experten öffentlich zugunsten der zügigen Einführung der DM in der DDR aussprach, war Pöhl "unangenehm überrascht", zumal der Kanzler und sein Finanzminister am Vortag nicht hatten erkennen lassen, dass ein so weitreichender Vorschlag unterbreitet werden würde.
Doch als das Kabinett die Ankündigung Kohls am 7. Februar in Anwesenheit Pöhls bestätigte und der DDR offiziell die Errichtung einer Währungsunion zwischen den beiden deutschen Staaten anbot, schwieg der Bundesbankpräsident. Denn auch wenn der Zeitpunkt der Ankündigung politisch motiviert gewesen sein mochte, waren die wirtschaftlichen Sturmsignale in der DDR nicht zu übersehen. Nicht nur die weiterhin hohe Zahl von 2000 Übersiedlern täglich, sondern auch die sich verdichtenden Anzeichen eines finanziellen Zusammenbruchs der DDR ließen ein Hinauszögern der Entscheidung kaum zu. Man war inzwischen nicht einmal mehr sicher, ob die Regierung Modrow überhaupt bis zum 18. März, dem Termin der Volkskammerwahlen, durchhalten würde. Der Vorsitzende der FDP-Fraktion im Bundestag, Wolfgang Mischnick, erklärte deshalb kurz und bündig: "Die DM ist die einzige Perspektive." Das Kabinett stimmte zu: Je eher, desto besser. Früher oder später würde die Bundesrepublik die Verantwortung für die am Boden liegende DDR-Wirtschaft ohnehin übernehmen müssen. Angesichts eines derart starken politischen Drucks konnte die Bundesbank ihre Vorbehalte nur zurückstellen und nachgeben.
Mit der Währungsunion betrat man allerdings Neuland. Einen Präzedenzfall gab es nicht. Üblicherweise stellte eine Währungsunion den letzten Schritt einer politischen und wirtschaftlichen Integration dar. In diesem Fall hatte sich die Bundesregierung jedoch durch die Umstände in Ostdeutschland gezwungen gesehen, "den ökonomischen Karren vor das politische Pferd zu spannen". Rasch gebildete Arbeitsgruppen im Kanzleramt und in den Ministerien für Finanzen, Wirtschaft, Arbeit und Soziales machten sich deshalb unverzüglich ans Werk, Lösungen für die Zusammenführung der enorm unterschiedlichen Wirtschaften in Ost- und Westdeutschland zu finden und in Rekordzeit die Ausweitung der DM zu einer gesamtdeutschen Währung vorzubereiten.

Änderung der Wirtschaftsordnung

Die Ergebnisse liefen auf die vollständige Übernahme der Wirtschafts- und Finanzpolitik der DDR durch die Bundesrepublik hinaus. Die Bonner Regierung bot an, die Verantwortung für die DDR-Wirtschaft, die Währungsstabilität, die Beschäftigung, die Renten, das Sozialwesen und die Infrastruktur zu übernehmen, forderte jedoch, dass die gesamte westdeutsche Wirtschaftsordnung ebenfalls in Ostdeutschland eingeführt werden

müsse, weil die Instrumente der westdeutschen Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik nur in einer marktwirtschaftlichen Ordnung greifen könnten. Die Anpassung der DDR an das bundesdeutsche System sollte in einem Staatsvertrag verankert werden, der von den beiden deutschen Staaten abzuschließen sei. Danach würden selbst Haushaltsentscheidungen der DDR-Volkskammer von der westdeutschen Zustimmung abhängig sein.
Als eine DDR-Delegation unter Ministerpräsident Modrow am 13. Februar als Gegenbesuch zu Kohls Dresdenvisite in Bonn eintraf, stellte sie rasch fest, dass der Spielraum für weitere Verhandlungen äußerst begrenzt war. DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft, die sich stets gegen eine rasche Errichtung der Währungsunion ausgesprochen hatte und statt dessen von der Bundesregierung ein Hilfsprogramm in Höhe von 10 bis 15 Milliarden DM forderte, um die DDR-Wirtschaft zu sanieren, beklagte daher später in ihren Memoiren, "dass das edle Thema 'deutsche Einheit' dem gefräßigen Tier 'Wahlkampf' vorgeworfen" worden sei. Tatsächlich ließ sich beides kaum trennen. Aber die dramatische Lage der DDR-Wirtschaft machte es, wie auch Modrow in Bonn feststellte, unausweichlich, große Lösungen an die Stelle von Flickschusterei zu setzen. Der ostdeutsche Regierungschef stimmte deshalb der Wirtschafts- und Währungsunion im Prinzip zu und erklärte sich auch einverstanden, Expertenkommissionen zu bilden, die über die Einzelheiten beraten sollten.
Strittig war vor allem der Kurs, zu dem die Mark der DDR in DM umgetauscht werden sollte. Die Bundesbank, die um die Stabilität ihrer Währung fürchtete, wenn Hunderte von Milliarden Mark ostdeutscher Provenienz plötzlich als DM auf den Markt gelangten, plädierte - entsprechend dem geschätzten Wert der Mark der DDR - für eine Relation von 2:1 oder 3:1, während die Menschen in der DDR natürlich einen Umtauschkurs von 1:1 wünschten. Die Experten konnten sich in dieser Frage zunächst nicht einigen und entschieden daher, die Beratungen darüber erst nach der Volkskammerwahl am 18. März fortzusetzen. Doch erneut war es Bundeskanzler Kohl, der eine partielle Entscheidung durch eine öffentliche Ankündigung herbeiführte: Fünf Tage vor der Wahl, am 13. März, versprach er auf einer Wahlkundgebung in Cottbus, dass kleinere Sparguthaben zum Kurs von 1:1 umgetauscht würden (vgl. S. 47 f.). Bundeskabinett und Bundesbank konnten die Entscheidung am folgenden Tag nur noch zur Kenntnis nehmen.

Volkskammerwahl 1990

Die Wahl in der DDR vom 18. März 1990 wurde nicht nur durch die Diskussion über die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den beiden deutschen Staaten bestimmt, sondern stand insgesamt bereits stark unter dem Einfluss westdeutscher Parteien und Politiker. Dieses bestimmende westliche Engagement war weniger das Ergebnis eines gezielten Handelns der westdeutschen Vertreter, als vielmehr die Folge des rapiden Zerfalls der Autorität des ostdeutschen Staates, der zu Jahresbeginn 1990 ein bemerkenswertes Ausmaß erreichte. So ergab eine Anfang Februar vom Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung und dem westdeutschen Nationalen Marktforschungsinstitut gemeinsam durchgeführte Meinungsumfrage, dass 75 Prozent der Ostdeutschen sich nunmehr für die Wiedervereinigung aussprachen - 27 Prozent mehr als im November 1989.
Der Wahlkampf für die ersten freien Parlamentswahlen der DDR am 18. März wurde von diesem Stimmungswandel bestimmt. Die Wahl war ursprünglich für den 6. Mai geplant gewesen, aber die Modrow-Regierung und die Oppositionsvertreter am Runden Tisch hatten am 28. Januar entschieden, den Termin vorzuverlegen, da sich die politische und wirtschaftliche Situation

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derart schnell verschlechterte, dass es fraglich war, ob die DDR im Mai überhaupt noch existieren würde. Nun bewarben sich neben der SED, die jetzt unter dem Namen "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) antrat und als lange eingespielte Organisation mit großem Mitarbeiterstab kaum Probleme hatte, den Wahlkampf aufzunehmen, mehr als 50 neue politische Gruppierungen und Parteien um die Gunst der Wählerinnen und Wähler. Die Mitgliederzahl der SED/PDS war zwar innerhalb weniger Monate von 2,4 Millionen auf 890000 Ende Januar 1990 gesunken, aber dennoch war die alte DDR-Staatspartei den politischen Amateuren der neu gebildeten Gruppierungen hinsichtlich Organisation, Parteidisziplin und politischer Erfahrung weit überlegen.

Bürgerbewegungen

Das Neue Forum kann als ein Beispiel für die organisatorische und konzeptionelle Schwäche idealistischer Kräfte im politischen Alltag gelten. Gegründet im September 1989 von einer Initiativgruppe unter Führung von Bärbel Bohley und Jens Reich, sollte es dazu verhelfen, aus dem Volk heraus ein neues, humanes und sozialistisches Ostdeutschland zu schaffen. Ziel des Neuen Forums war es, dem Willen der Menschen Ausdruck zu verleihen, ohne ihnen bereits vorgegebene Strukturen oder Konzeptionen überzustülpen. Unter der kommunistischen Herrschaft war dieser Ansatz kühn und herausfordernd gewesen. Inzwischen wurde er jedoch von vielen angesichts der Verlockungen der westlichen Wohlstandsgesellschaft für überholt gehalten.
Andere Bürgerbewegungen, wie Demokratie Jetzt und die Initiative für Frieden und Menschenrechte, litten unter ähnlichen Motivationsproblemen und konzeptionellen Schwächen. Die Ursprünge von Demokratie Jetzt, die ihre Wurzeln in der evangelischen Kirche der DDR hatte, reichten bis 1986 zurück. Die eigentliche Gründung erfolgte jedoch erst Mitte September 1989 mit einem "Aufruf zur Einmischung", der unter anderem von Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß unterzeichnet worden war. In einem "Bündnis aller reformwilligen Menschen, auch von Christen und kritischen Marxisten", wurde zur "demokratischen Umgestaltung der DDR" aufgefordert, in der ein eigener Sozialismus verwirklicht werden sollte. Die Forderungen schlossen jedoch auch die Bundesrepublik ein: Beide deutschen Staaten sollten sich "um der Einheit willen aufeinander zu reformieren".
Die Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) war aus der internationalen Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre hervorgegangen und hatte sich 1986 als erste unabhängige Oppositionsgruppe in der DDR etabliert, um die Abrüstung zu fördern und politische Dissidenten zu unterstützen. Die IFM ließ sich durchaus mit ähnlichen Gruppierungen im Westen vergleichen und unterhielt Arbeitsbeziehungen zur Alternativen Liste in West-Berlin und zu den GRÜNEN in Westdeutschland. Im Hinblick auf die Volkskammerwahlen am 18. März schloss sich die IFM mit dem Neuen Forum und Demokratie Jetzt zu einem Wahlbündnis unter der Bezeichnung "Bündnis 90" zusammen.
Die gemeinsame Schwäche aller drei Gruppierungen war jedoch das Fehlen starker westlicher Partner und einer funktionierenden Parteiorganisation. Sie waren als Bürgerbewegungen gegründet worden und stützten sich auf ein Netzwerk von "Basisgruppen", die mehr oder weniger unabhängig voneinander operierten, ohne festes Programm und strenge Disziplin. Hintergrund dieses Bemühens um maximalen Bewegungsspielraum und größtmögliche Pluralität war die Erfahrung von nahezu sechs Jahrzehnten nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur. "Basisdemokratie" erschien deshalb als magische Formel für ein alternatives Regierungskonzept, das die meisten Anhänger der Initiativgruppen - viele von ihnen Intellektuelle, Künstler, aktive Kirchenmitglieder und frühere Dissidenten - für ideal hielten, um das SED-Regime zu ersetzen.

Die Frage war nur, ob auch eine Mehrheit der DDR-Bürger nach 40 Jahren Kommunismus bereit war, ein weiteres Experiment zu wagen, oder ob sie eher den bewährten Konzepten nach westlichem Vorbild zuneigten, die die etablierten Parteien anboten.

Parteien

Die Sozialdemokratische Partei, die Anfang Oktober 1989 von 43 Dissidenten - unter ihnen der Dramaturg Ibrahim Böhme und Pastor Markus Meckel - in Schwante, einem kleinen Dorf nahe Oranienburg, gegründet worden war, verfügte über ein derartiges bewährtes Programm. Die ostdeutschen Sozialdemokraten konnten sich nicht nur auf die lange Tradition der deutschen Arbeiterbewegung berufen, sondern erhielten auch frühzeitig Unterstützung von ihrer Schwesterpartei, der mächtigen westdeutschen SPD. Ein gemeinsamer "Verbindungsausschuss" wurde eingerichtet, und eine ganze Reihe von SPD-Politikern und politischen Experten reiste in die DDR, um ihren ostdeutschen Kollegen beim Aufbau einer effektiven Parteiorganisation zu helfen. Willy Brandt wurde Ehrenvorsitzender der ostdeutschen Sozialdemokraten; Wahlkampfposter porträtierten ihn über seinem oft zitierten Slogan "Was zusammengehört, wächst zusammen". Die Ost-SPD konnte der Wahl damit zuversichtlich entgegensehen. Die meisten politischen Beobachter gingen davon aus, dass sie überlegen gewinnen und die neue Regierung stellen würde.
Auf der anderen Seite zögerte die westdeutsche CDU sehr viel länger, ihr ostdeutsches Pendant zu unterstützen. Ihr Problem bestand darin, dass die Ost- CDU keine Neugründung war, sondern vierzig Jahre lang als "Blockpartei" in der Nationalen Front mit der SED kollaboriert und die Kommunisten unterstützt hatte. Auch nachdem ihr Vorsitzender Gerald Götting am 10. November 1989 durch Lothar de Maizière ersetzt worden war und bis Mitte Dezember ergänzende personelle und programmatische Veränderungen vorgenommen worden waren, ließen sich die Belastungen der Vergangenheit nicht so leicht abstreifen. Kooperationsangebote der westdeutschen Christdemokraten blieben daher zunächst aus. Dazu trugen auch Äußerungen de Maizières bei, der am 19. November in einem Interview erklärte, er halte "Sozialismus für eine der schönsten Visionen menschlichen Denkens" und teilte nicht die Auffassung, "dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung des Sozialismus beinhaltet". Auch sei die Einigung Deutschlands nicht "das Thema der Stunde". Es handele sich vielmehr um Überlegungen, "die vielleicht unsere Kinder oder unsere Enkel anstellen können".
Kopfzerbrechen bereitete es der West-CDU ferner, dass ihre ostdeutsche Schwesterpartei aktiv in der Modrow-Regierung mitarbeitete und noch am 19. Januar für eine Fortsetzung dieser Tätigkeit votierte, um "die Situation im Lande nicht weiter zu destabilisieren". Bundeskanzler Kohl wartete daher bis Anfang Februar, ehe er zum ersten Mal mit Lothar de Maizière zusammentraf, um seine Hilfe anzubieten.
Inzwischen waren mit dem Demokratischen Aufbruch (DA) und der Deutschen Sozialen Union (DSU) zwei weitere, eher konservative Gruppierungen entstanden, die als Bündnispartner in Frage kamen. Der DA war teils christlich-ökologisch, teils christlich-konservativ orientiert und wurde personell vor allem von Pastor Friedrich Schorlemmer aus Wittenberg, Rechtsanwalt Wolfgang Schnur aus Rostock und dem Ostberliner Pastor Rainer Eppelmann getragen. Insbesondere Eppelmann favorisierte eine Parteistruktur nach dem Muster der westdeutschen CDU. Die DSU war eine Partei liberaler, konservativer und christlich-sozialer Kräfte vornehmlich aus dem Süden der DDR. Sie wurde - unter dem Vorsitz von Pfarrer Hans-Wilhelm Ebeling - stark von der bayerischen CSU unterstützt und forderte "Freiheit statt Sozialismus".

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Wahlkampf

Die Stärke des DA, der DSU und der Ost-CDU war schwer zu beurteilen. Da die konservativen Kräfte gespalten waren, befürchtete die West-CDU bei der bevor-stehenden Volkskammerwahl einen Erdrutschsieg der SPD. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ließ sich Kohl trotz erheblicher Bedenken bewegen, zu dieser persönlichen Begegnung mit de Maizière zusammenzukommen, um Möglichkeiten für ein konservatives Wahlbündnis zu erörtern. Kohl, Seiters und der Generalsekretär der West-CDU, Volker Rühe, trafen danach am 5. Februar de Maizière, Schnur und Ebeling, um eine "Allianz für Deutschland" zwischen CDU, DA und DSU zu gründen, die im folgenden Wahlkampf geeint antrat.
Die westdeutschen Liberalen warteten ebenfalls sehr lange, bis zum 12. Februar, ehe sie sich entschlossen, eine ostdeutsche Koalition - die "Allianz der Freien Demokraten" - zu unterstützen, während die Grünen einer ganzen Reihe von Umweltgruppen und Linksparteien zu Hilfe kamen, darunter der Grünen Liga, der Grünen Partei in der DDR und der Vereinigten Linken. Die extreme Rechte der Bundesrepublik wurde indessen durch einen Beschluss der Volkskammer von einem Engagement in der DDR abgehalten: Die Republikaner wurden verboten, ihr Gründer, Franz Schönhuber, wurde an der Einreise gehindert.
Die Spitzen der westdeutschen Politik, die kurz zuvor noch jegliche Einflussnahme in der DDR von sich gewiesen hatten, übernahmen nun de facto die Verantwortung für die Entwicklung in Ostdeutschland. Insgesamt 7,5 Millionen DM wurden von den Westparteien für den Wahlkampf in der DDR aufgewandt. Davon entfielen nicht weniger als 4,5 Millionen DM auf CDU und CSU, während SPD und FDP sich mit jeweils etwa 1,5 Millionen DM begnügten.
Bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 konnten sich 12,2 Millionen Wahlberechtigte in der DDR zwischen 19 Parteien und fünf Listenverbindungen, die weitere 14 Parteien repräsentierten, entscheiden. Meinungsumfragen zufolge lag die SPD in der Wählergunst Anfang Februar noch mit 54 Prozent der Stimmen weit in Führung, gefolgt von der PDS mit 12 Prozent und der CDU mit 11 Prozent. Doch nachdem Bundeskanzler Kohl am 6. Februar - einen Tag nach Gründung der "Allianz für Deutschland" - die baldige Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion angekündigt hatte, während der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel am 15. Februar im Deutschen Bundestag gegen einen solchen Schritt aufgetreten war, wandelte sich die Stimmung grundlegend: Als der Kanzler wenig später zu seinem ersten Wahlkampfauftritt in der DDR erschien, erwarteten ihn auf dem Platz vor der gotischen Kathedrale in Erfurt mehr als 100000 Menschen - in einer Stadt von immerhin nicht mehr als 220000 Einwohnern. Bei folgenden Auftritten in Cottbus und Leipzig, wo er den 1:1 Währungsumtausch versprach, war es nicht anders. In Leipzig gingen sogar 300000 auf die Straße, um Kohl zu begrüßen.
Der Erfolg gab dem Bundeskanzler recht: Am 18. März stimmten 48,1 Prozent für die Parteien der Allianz für Deutschland, nur 21,8 Prozent für die SPD, 16,3 Prozent für die PDS und 5,3 Prozent für die Allianz Freier Demokraten. Das Bündnis 90 - die Vereinigung von Neuem Forum, Demokratie Jetzt und der Initiative für Frieden und Menschenrechte - musste sich mit nur 2,9 Prozent der Stimmen begnügen. Das Ergebnis war ein unüberhörbarer Ruf nach rascher Wiedervereinigung und Marktwirtschaft sowie eine klare Zurückweisung jeglicher Form des Sozialismus. Davon wurden auch die Sozialdemokraten negativ betroffen, die die drängenden Wiedervereinigungserwartungen vieler Ostdeutscher enttäuscht hatten.
Dieser Wahlausgang bedeutete zugleich das Ende der DDR. In den ersten freien Wahlen, die hier überhaupt jemals stattgefunden hatten, votierten die Bürgerinnen und Bürger

mehrheitlich gegen den Staat, der ihnen von einer kommunistischen Minderheit mit sowjetischer Rückendeckung aufgezwungen worden war und zu dessen Abwahl ihnen zuvor niemals Gelegenheit gegeben worden war. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das die Menschen in der DDR nun erstmals mit dem Stimmzettel hatten ausüben können, nachdem sie zuvor nur die Chance gehabt hatten, einen Ausreiseantrag zu stellen und damit eine "Abstimmung mit den Füßen" zu praktizieren, beschleunigte entscheidend den Wiedervereinigungsprozess. Ihm vermochten sich nun weder die Regierungen in Ostberlin und Bonn noch die Vier Mächte, die seit 1945 Verantwortung für Deutschland als Ganzes trugen, länger zu widersetzen.

Verhandlungen mit den Vier Mächten

Während die ökonomischen und innenpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung im wesentlichen von den Deutschen im Alleingang entschieden werden konnten, bedurfte es zur Bewältigung der außenpolitischen Fragen eines Verhandlungsrahmens, der nicht nur die beiden deutschen Staaten, sondern auch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs einschloss. Der Grund dafür lag zum einen in deren Vorbehaltsrechten, die ihren Ursprung in der "Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands" gemäß der Erklärung der Siegermächte vom 5. Juni 1945 hatten und wegen des fehlenden Friedensvertrages nie vollständig aufgehoben worden waren. In den Pariser Verträgen zwischen der Bundesrepublik und den Westmächten vom 23. Oktober 1954 war dementsprechend ausdrücklich auf die "Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in Bezug auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung" hingewiesen worden.

Zum anderen ergab sich die Notwendigkeit einer Beteiligung der Vier Mächte aus der politischen Entwicklung nach 1989. Denn unter den nunmehr gegebenen Bedingungen bedeutete eine deutsche Wiedervereinigung weit mehr als die bloße Zusammenführung der beiden deutschen Teilstaaten. Die gesamte europäische Ordnung stand jetzt zur Disposition. Da die DDR den Eckpfeiler der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa bildete und der Verlust der DDR für die UdSSR nach den vorangegangenen Ereignissen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei voraussichtlich ebenfalls zum Verlust des sowjetischen Einflusses in diesen Ländern führen würde, drohte der Zusammenbruch des gesamten sowjetischen Imperiums in Europa. Aber auch Frankreich und Großbritannien betrachteten die sich abzeichnende Neuordnung in der Mitte Europas mit historisch begründeter Skepsis. Und selbst die USA konnten nicht abseits stehen, wenn das System der Bipolarität, dessen Ausgestaltung sie - wie eingangs dargestellt - seit Beginn des Ost-West-Konflikts nach 1945 maßgeblich bestimmt hatten, einer neuen Architektur wich.

Uneinigkeit der Westmächte

Die Unsicherheit und Besorgnis der Nachbarn über die Perspektive einer Wiedervereinigung Deutschlands wurde bereits unmittelbar nach der Maueröffnung deutlich, als der französische Präsident François Mitterrand am 14. November 1989 ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der zwölf Länder der Europäischen Gemeinschaft forderte, um "die jüngsten Entwicklungen in Europa zu diskutieren" und "eine gewisse Kontrolle über die Veränderungen zu gewinnen". Nach der Vorlage des Zehn-Punkte-Plans von Bundeskanzler Kohl am 28. November teilte Mitterrand einer Gruppe französischer Journalisten mit, er halte eine deutsche Wiedervereinigung für eine "rechtliche und politische Unmöglichkeit".

Wege zur Einheit
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Gegenüber Bundesaußenminister Genscher äußerte er, ein wiedervereinigtes Deutschland "als eine eigenständige Macht, unkontrolliert", sei unerträglich für Europa; es dürfe niemals wieder eine Situation eintreten wie 1913, vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Mitterrands langjähriger Vertrauter Régis Debray drohte sogar mit einer Wiederbelebung "der alten französisch-russischen Allianz", falls ein wiedervereinigtes Deutschland zu sehr an Gewicht gewinnen sollte. Und der frühere französische Außenminister Jean Franois-Poncet brachte die Bedenken in Frankreich und anderen europäischen Ländern auf den Punkt, als er auf die Gefahr der "wirtschaftlichen und politischen Hegemonie einer Nation mit 80 Millionen Menschen, die den industriellen Koloss Europas bilden", hinwies. Geschichtliche Belastungen und die Sorge vor Deutschlands aktueller Wirtschaftsmacht verschmolzen zu der Vorstellung einer Bedrohung, die eine Vereinigung der Deutschen als eine Gefährdung von Ordnung und Frieden in Europa erscheinen ließ.
Für die britische Premierministerin Margaret Thatcher spielte der europäische Ordnungsaspekt eine besondere Rolle. In der Tradition klassischen britischen Gleichgewichtsdenkens hielt sie ein geeintes, starkes Deutschland für eine ernsthafte Herausforderung der seit dem Zweiten Weltkrieg erreichten Stabilität - nicht, wie früher, im militärischen Sinne, sondern aufgrund der Stärke der deutschen Wirtschaft, die durch die Einbindung in die Europäische Gemeinschaft noch vergrößert werde. Daher dürfe man die deutsche Wiedervereinigung "nicht übereilen". Ähnlich sah es auch der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti: Der Zehn-Punkte-Plan des Bundeskanzlers komme "zum falschen Zeitpunkt"; eine deutsch-deutsche Konföderation oder gar eine Wiedervereinigung seien nicht aktuell.

Unterstützung aus den USA

In den USA dagegen betrachtete man die Vorgänge in Deutschland durchaus positiv. Die Wiedervereinigung, die man selber seit 1945 stets gefordert hatte, wurde nicht abgelehnt, sondern als Erfüllung eines langfristigen Ziels westlicher Politik nachdrücklich begrüßt. Präsident Bush und Außenminister Baker hoben lediglich die Notwendigkeit hervor, den Einigungsprozess mit der konstruktiven Entwicklung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen in Einklang zu bringen. Außerdem müsse die Vereinigung der beiden deutschen Staaten sich innerhalb der Institutionen von NATO und Europäischer Gemeinschaft vollziehen und die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte berücksichtigen. Während Franzosen und Briten somit aus historischer Erfahrung eher rückwärtsgewandt argumentierten und an die frühere Bedrohung durch das Deutsche Reich erinnerten, blickten die Amerikaner nach vorne und suchten "eine neue Architektur für ein neues Zeitalter" zu entwickeln, wie Außenminister Baker am 12. Dezember 1989 in Berlin bemerkte.
Offiziell wurden die divergierenden westlichen Standpunkte schon auf der Sitzung des NATO-Rates am 15. Dezember wieder zusammengeführt, als die Mitglieder der Allianz, einschließlich Frankreich, eine Erklärung verabschiedeten, die auf dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes beruhte und der zufolge die NATO "auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken" sollte, "in dem die deutsche Nation in freier Selbstbestimmung ihre Einheit wiedererlangt". Faktisch jedoch waren die Bedenken einiger westlicher Verbündeter noch keineswegs ausgeräumt. Vor allem Frankreich und Großbritannien blieben bezüglich einer möglichen deutschen Wiedervereinigung zurückhaltend, auch wenn Präsident Mitterrand eine Woche später bei einem Besuch in der DDR einräumte, dass die Deutschen das Recht hätten, über ihren Wunsch nach Einheit selbst zu entscheiden.

Bestimmend für die französische Haltung blieb allerdings die Tatsache der gesicherten Einbindung Deutschlands in westliche Institutionen. So erklärte Mitterrand während eines inoffiziellen Treffens mit Bundeskanzler Kohl im Januar 1990 auf seinem Landsitz in Latché in der Gascogne, das größte Hindernis für eine deutsche Wiedervereinigung sei "die Gefahr einer Neutralisierung Deutschlands", die als Ausweg aus der Mitgliedschaft der beiden deutschen Staaten in verschiedenen Militärbündnissen gesehen werden könnte. Daher müsse die deutsche Einigung mit einer Intensivierung der europäischen Integration einhergehen. Kohl stimmte dem zu und war schließlich auch einverstanden, als Paris auf eine "Europäische Union" und eine gemeinsame europäische Währung drang. Beides wurde am 7. Februar 1992 im Vertrag von Maastricht vereinbart, dessen Abschluss vor allem von Deutschland und Frankreich vorangetrieben wurde. Frankreichs Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands wurde dadurch maßgeblich erleichtert. Großbritannien verharrte dagegen unter Margret Thatcher bis zum Schluss in skeptischer Distanz. Die britische Regierungschefin hielt selbst die deutsche Einbindung in den Maastricht-Vertrag noch für ein Instrument, das der deutschen Nation die Erringung der Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent ermöglichen könnte.

Unsicherheit in der Sowjetunion

Anders als der Westen, wo man angesichts des bevorstehenden Zusammenbruchs der DDR mit einem baldigen "Zugewinn" rechnen konnte und allenfalls über die Konsequenzen der wachsenden Stärke Deutschlands stritt, befand sich die Sowjetunion seit der Maueröffnung in einer problematischen Situation: Ohne militärische Intervention war das SED-Regime nicht mehr zu retten, die Wiedervereinigung nicht zu verhindern. Wenn aber die DDR verloren ging, drohte auch der Verlust Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei.
Dementsprechend argwöhnisch verfolgte man in Moskau die Vorgänge zwischen Rhein und Oder und hielt sich anfänglich auch mit ablehnenden Kommentaren nicht zurück. So warnte Generalsekretär Gorbatschow unter Bezugnahme auf die Reformprozesse in den Warschauer-Pakt-Staaten davor, "in die Flammen zu blasen". Außenminister Schewardnadse meinte, es gebe kein Land in Europa, das ein wiedervereinigtes Deutschland nicht als "eine Gefahr für die Stabilität der Nachkriegsordnung" begreife.
In dem Maße jedoch, in dem sich die Wiedervereinigung als unvermeidlich erwies, weil das SED-Regime immer weniger in der Lage war, die eigene Bevölkerung zu beherrschen und ein Minimum an politischer und wirtschaftlicher Stabilität zu gewährleisten, wurden die sowjetischen Reaktionen vorsichtiger - zumal sich die Krise in der UdSSR drastisch verschärfte.
Eine vertrauliche Analyse zur Lage in der Sowjetunion, die Bundeskanzler Kohl am 16. Januar vorgelegt wurde, ließ erkennen, dass Gorbatschow mit überaus ernsten inneren Problemen konfrontiert war: Ökonomisch und sozial war die UdSSR im Niedergang begriffen; zwischen 60 und 100 Millionen Sowjetbürger lebten am Rande - oder bereits unterhalb - des Existenzminimums; die Stimmung in der Armee und bei den Sicherheitskräften verschlechterte sich in gefährlichem Maße. Daher sah Bonn in Gorbatschows Bemerkung, im Falle einer deutschen Vereinigung werde es "eine Zwei-Zeilen-Meldung geben, dass ein Marschall meine Position übernommen hat", mehr als nur den Versuch, Deutschland vom unerwünschten Zusammenschluss abzuhalten. Die schwierige Lage der sowjetischen Führung ermöglichte es auf der anderen Seite dem Bundeskanzler, im Umgang mit der UdSSR und den Westmächten zunehmend selbstbewusst aufzutreten. Kohl konnte sich nicht nur auf den Einheitswillen der Ostdeutschen berufen.

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Er wusste auch, dass es gegen die Wiedervereinigung kaum noch Widerstand geben konnte, nachdem die USA frühzeitig ihre Zustimmung bekundet hatten und Frankreich durch Garantien für eine Vertiefung der europäischen Integration für die deutsche Sache gewonnen worden war. So verhinderte der Kanzler unter Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen eine von der Sowjetunion vorgeschlagene Vier-Mächte-Konferenz über die Vereinigungsfrage und forderte die westlichen Verbündeten auf, mit der UdSSR über das Deutschland-Problem nur nach vorheriger Konsultation der Bundesregierung zu sprechen.
Zugleich bemühte sich der Kanzler, die Stimmung in der Sowjetunion positiv zu beeinflussen. Diesem Anliegen dienten unter anderem die Lieferung großer Mengen von Lebensmitteln, die Ausarbeitung von Vorschlägen für eine umfassende Zusammenarbeit und Zusicherungen an Moskau für die Zeit nach der Wiedervereinigung. Solches Entgegenkommen war um so wichtiger, als in der Sowjetunion ein Richtungskampf mit ungewissem Ausgang stattfand: "Realisten", die sich mit der Entwicklung zur Wiedervereinigung zu arrangieren suchten, stritten dabei mit "Orthodoxen", die das Rad der Geschichte aufhalten oder gar zurückdrehen wollten. Großzügige Gesten der Bundesrepublik, aber auch langfristige Hilfszusagen konnten in dieser Auseinandersetzung den Ausschlag geben.

Einigung in Ottawa

Bei den Westmächten und in der Sowjetunion wuchs somit im Dezember 1989 und Januar 1990 die Erkenntnis, dass die Wiedervereinigung kaum noch zu vermeiden war - auch wenn manche über diese Perspektive wenig erfreut waren. Gleichzeitig beschleunigte sich der Niedergang der DDR. Als der Zentrale Runde Tisch in Ostberlin am 28. Januar die Vorverlegung des Termins für die Volkskammerwahl vom 6. Mai auf den 18. März 1990 beschloss, um einigermaßen sicher zu sein, dass die Wahlen überhaupt noch stattfinden konnten, zeigte dies den Ernst der Lage.
Am gleichen 28. Januar, einem Sonntag, wurden deshalb in den USA Gespräche über die Schaffung eines Rahmens zur außenpolitischen Absicherung der Wiedervereinigung geführt. Dabei kam auch die sowjetische Anregung zur Sprache, ein Vier-Mächte-Treffen einzuberufen, das alter Tradition entsprach: Schon auf der Potsdamer Konferenz 1945 war ein "Außenministerrat" der Vier Mächte eingesetzt worden, um unter anderem über Deutschland zu beraten. Der Rat hatte in den vierziger und fünfziger Jahren wiederholt getagt, ehe der Kalte Krieg weitere Erörterungen gegenstandslos gemacht hatte. Auch die Berlin-Verhandlungen 1970/71 waren auf der Ebene der Vier Mächte geführt worden. Es lag also nahe, in diesem Rahmen fortzufahren, zumal die rechtliche Situation eine Mitwirkung der Vier Mächte zwingend vorschrieb.
Tatsächlich ließen sich die Vier Mächte bei der Regelung der Deutschen Frage nicht umgehen. Aber inzwischen hatte sich die internationale Lage so weit geändert, dass man nicht mehr über die Deutschen hinweggehen konnte. Der Politische Planungsstab im amerikanischen Außenministerium entwickelte deshalb am 28. Januar 1990 die erste Version jener Idee, die sich dann als "Zwei-plus-Vier"-Konzept durchsetzte: Zunächst sollten die beiden deutschen Staaten die ökonomischen, politischen und rechtlichen Fragen der Einigung behandeln. Danach würden die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion zusammen mit der Bundesrepublik und der DDR die außenpolitischen Aspekte des Einigungsprozesses klären, darunter die Frage der Souveränität, die Garantie der Grenzen, den Umfang der deutschen Armee, die

Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands in Bündnissen und die Sicherheitsvorkehrungen für die Nachbarn.
Als Außenminister Baker die Idee am folgenden Tag mit seinem britischen Amtskollegen Douglas Hurd besprach, stimmte Hurd dem Konzept prinzipiell zu, gab jedoch zugleich zu erkennen, dass seine Regierung eine "Vier-plus-Null"-Lösung - also Verhandlungen ohne deutsche Beteiligung - vorziehen würde. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher lehnte dies sofort kategorisch ab und verwarf ebenfalls den Gedanken eines "2-plus-15"-Rahmens - eine Konferenz der beiden deutschen Staaten mit den Mitgliedern der NATO - oder ein Forum der 35 Staaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE*). Die "Zwei-plus-Vier"-Idee gefalle ihm dagegen sehr gut, so Genscher, aber man müsse sichergehen, dass es zwei plus vier seien, nicht vier plus zwei. Denn die Deutschen müssten bei den Entscheidungen über ihr Schicksal den ersten Platz einnehmen. Wenn dieser Weg beschritten werde, seien die Bundesrepublik und die DDR auch bereit, "die deutsche Angelegenheit" nach Ausarbeitung einer gemeinsamen Lösung auf dem für den Herbst 1990 geplanten Gipfeltreffen der KSZE zu präsentieren.

Einbindung der KSZE

Genschers Ansatz, die deutsche Einigung nur von den beiden deutschen Staaten und den Vier Mächten aushandeln zu lassen, danach aber im Rahmen der KSZE alle europäischen Staaten sowie die USA und Kanada in die Entscheidung einzubeziehen, war darauf ausgerichtet, eine Isolierung Deutschlands, wie sie im Deutschen Reich nach 1890 eingetreten war, zu verhindern und wurde deshalb von Bundeskanzler Kohl nachdrücklich unterstützt. Allen Sorgen, ein wiedervereinigtes Deutschland könne eines Tages zu einer Politik des Expansionismus und des Strebens nach Hegemonie zurückkehren, sollte damit von vornherein der Boden entzogen werden. Deswegen erklärte der Kanzler auf dem Weltwirtschaftsforum am 3. Februar in Davos, die Bundesrepublik sei stets eine entschiedene Verfechterin der NATO, der europäischen Einigung und des KSZE-Prozesses gewesen und habe zudem die Abrüstung und Rüstungskontrolle unterstützt. Daran werde sich auch künftig nichts ändern. Das vereinte Deutschland werde "ein vertrauenswürdiger Partner" beim Aufbau einer friedlichen Ordnung in Europa sein. Mehr noch: Europa sei "jedes Deutschen Zukunft".

Dennoch ließen sich nicht alle Bedenken ohne weiteres ausräumen. Vor allem in Moskau fiel der Schritt zur Unterstützung der Wiedervereinigung schwer. Zumindest wollte man sich maximale Einflussmöglichkeiten vor und nach der Vereinigung sichern. Die "Zwei-plus-Vier"-Formel, die schließlich auch vom französischen Außenminister Roland Dumas gebilligt wurde - ebenfalls mit dem einschränkenden Hinweis, auch Paris hätte eine "Vier-plus-Null"-Lösung vorgezogen -, stieß darum bei der Sowjetunion zunächst auf Ablehnung. Erst am Rande eines Treffens der Außenminister der NATO und des Warschauer Paktes am 13. Februar in Ottawa, bei dem es vordergründig um die Vereinbarung eines "offenen Himmels" - die Erlaubnis zu gegenseitigen Luftinspektionen - ging, wurde Einverständnis erzielt. Inzwischen war der Prozess des Umdenkens in Moskau angesichts der Unumkehrbarkeit der Entwicklung in Deutschland offenbar so weit fortgeschritten, dass man sich entschlossen hatte, den lange hinausgezögerten letzten Schritt zu tun. Die Außenminister der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte vereinbarten daher in Ottawa, dass sie sich in Kürze im Zwei-plus-Vier-Rahmen treffen würden, "um die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten, zu besprechen".

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Zwei-plus-Vier-Verhandlungen

Die Vorbereitungen für die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen begannen auf der Ebene der politischen Direktoren der Außenministerien der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte mit zwei Treffen in Bonn und Berlin am 14. März und 16. April. Die Direktoren verständigten sich darauf, dass die Bündniszugehörigkeit des vereinigten Deutschland, die Stärke der Bundeswehr und Sicherheitsgarantien für die deutschen Nachbarn, die endgültige Festlegung der polnischen Westgrenze, der Abzug der alliierten Streitkräfte, die Aufhebung der alliierten Vorbehaltsrechte sowie die Wiederherstellung der vollen völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen sollten. Die Sowjetunion versuchte, auch den Abschluss eines Friedensvertrages auf die Tagesordnung zu setzen, nahm davon jedoch auf Drängen des Leiters der Bonner Delegation, Dieter Kastrup, wieder Abstand. Kastrup wies nämlich darauf hin, dass Gespräche über dieses Thema auch viele andere Staaten einbeziehen müssten, mit denen das Dritte Reich sich formell im Kriegszustand befunden hatte. Polen dagegen sollte zu der Konferenz hinzugezogen werden, wenn das Thema Oder-Neiße-Linie zu behandeln war.
Die ersten Verhandlungen auf Außenministerebene fanden am 5. Mai 1990 in Bonn statt. Danach traf man sich erneut im Juni in Berlin, im Juli gemeinsam mit polnischen Vertretern in Paris (wo es um die polnische Westgrenze ging) und ein letztes Mal Anfang September in Moskau. Dort wurde am 12. September 1990 auch der "Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland" unterzeichnet, der einen Quasi-Friedensvertrag darstellte und die seit 1945 offene "deutsche Frage" endlich klärte.

Neutralität oder NATO-Mitgliedschaft

Die Diskussion über den künftigen militärischen Status Deutschlands war bereits vor Ottawa überaus intensiv gewesen. Dabei hatte die amerikanische Regierung ebenso wie Paris und London von Anfang an darauf bestanden, dass sich der Wiedervereinigungsprozess "im Rahmen der fortbestehenden Verpflichtungen Deutschlands gegenüber der NATO" bewegen müsse, wie es ein wenig unbestimmt hieß. Die sowjetische Führung hatte dagegen im Einklang mit Ministerpräsident Modrow dafür plädiert, dass ein "vereinigtes deutsches Vaterland" neutral sein müsse und weder der NATO noch dem Warschauer Pakt angehören dürfe. Zwischen beiden Positionen hatte Bundesaußenminister Genscher zu vermitteln versucht, als er in einer Rede in der Evangelischen Akademie Tutzing am 31. Januar 1990 erklärt hatte, dass das vereinigte Deutschland zwar Mitglied der NATO sein müsse, NATO-Streitkräfte aber nicht in Ostdeutschland stationiert werden sollten, so dass der Westen aus einer deutschen Wiedervereinigung keinen militärischen Vorteil ziehe.
Der Genscher-Vorschlag wurde zunächst in Kreisen der amerikanischen Regierung als "ein sehr positiver Beitrag" zur Überbrückung der Differenzen zwischen Ost und West begrüßt. Jeder Gedanke an Neutralisierung wurde indessen von den USA ebenso wie von den anderen westlichen Ländern einmütig verworfen. Auch unter den Verbündeten der UdSSR stieß Modrows Konzept auf wenig Gegenliebe.
So ließ der tschechoslowakische Präsident Vaclav Havel am 6. Februar US-Außenminister Baker wissen, dass er ein neutrales Deutschland ablehne und dies auch Gorbatschow mitteilen werde. In ähnlicher Weise bemerkte der polnische Außenminister Krzystof Skubiszewski am folgenden Tag gegenüber Bundeskanzler Kohl, er könne einer Neutralität nichts abgewinnen und teile die Auffassung des Bundeskanzlers, dass Deutschland nicht neutralisiert werden dürfe. "Für uns Polen", so Skubizszewski, "ist die Einbindung Deutschlands entscheidend."

In Ottawa war es jedoch noch zu früh, diese Frage zu entscheiden, da Moskau sich noch nicht mit der vollständigen Westintegration eines wiedervereinigten Deutschlands abfinden mochte. Statt dessen spielte Außenminister Schewardnadse mit der Idee einer gesamteuropäischen Sicherheitslösung im Rahmen der KSZE, die auch von Genscher und seinem italienischen Amtskollegen Gianni De Michelis vorübergehend aufgegriffen wurde: Eine "zweite Schlussakte von Helsinki" solle "paneuropäische Institutionen" schaffen, um langfristig die bestehenden Militärbündnisse zu ersetzen.
Nach dem Treffen von Ottawa wurde allerdings rasch deutlich, dass Moskau keine andere Möglichkeit mehr sah, als ein wiedervereinigtes Deutschland in der NATO zu akzeptieren. Bereits am 15. Februar verlautete aus sowjetischen Regierungskreisen, dass die Forderung nach entmilitarisierter Neutralität inoffiziell bereits aufgegeben sei. Denn, so ein hochrangiger Funktionär der KPdSU: "Wir haben unsere Fähigkeit eingebüßt, auf die deutsche Innenpolitik Einfluss zu nehmen. Wir haben keine Zeit mehr, eine langfristige außenpolitische Strategie zu praktizieren." Da die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen ebenfalls einen baldigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus ihren Ländern wünschten, wuchs der Druck auf Moskau, möglichst schnell eine Vereinbarung mit dem Westen abzuschließen, damit auf dieser Basis ein genereller Truppenrückzug zustande komme.
Überdies drohte inzwischen nicht nur der Zerfall des sowjetischen Imperiums in Osteuropa, sondern auch die Auflösung der Sowjetunion selbst. Nachdem das Zentralkomitee der KPdSU am 7. Februar 1990 durch Änderung des Artikels 6 der sowje-tischen Verfassung das Machtmonopol der Partei beseitigt hatte, war die Kritik an den innersowjetischen Verhältnissen dramatisch gestiegen. Unkontrollierte Massendemonstrationen zogen durch Moskau. In Aserbaidschan, Tadschikistan und Armenien kam es bei ethnischen Auseinandersetzungen zu blutigen Kämpfen. Am 12. Februar - einen Tag vor Modrows Besuch in Bonn und noch vor der Konferenz von Ottawa - teilte Gorbatschow deshalb dem DDR-Ministerpräsidenten telefonisch mit, dass es fraglich sei, ob die sowjetische Führung in der Lage sein werde, an der Forderung nach einem Verzicht des vereinigten Deutschland auf NATO-Mitgliedschaft festzuhalten.

Grenze zu Polen

Die Frage der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze spielte nicht erst im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen eine Rolle, sondern war bereits im Sommer 1989 zu einem Thema geworden, als die rechtsradikale Partei der "Republikaner" bei Kommunalwahlen in Westberlin 7,5 Prozent und bei den Wahlen zum Europa-Parlament 7,1 Prozent erhalten hatte. Um weitere Erfolge der Rechten zu verhindern, hatten konservative Politiker daraufhin argumentiert, die Gebiete östlich der Oder und Neiße müssten einbezogen werden, wenn die Deutsche Frage wieder auf die Tagesordnung kommen sollte. Bundesaußenminister Genscher hatte sich dadurch veranlasst gesehen, in einer Rede vor der UNO am 27. September 1989 im Namen der Bundesregierung zu erklären, dass das Recht des polnischen Volkes, "in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird". Der Bundestag hatte diese Stellungnahme am 8. November durch eine Resolution bekräftigt.
Tatsächlich war die politische Konstellation ebenso eindeutig wie die Rechtslage: Juristisch betrachtet konnte eine endgültige Fixierung der Grenzen erst in einem künftigen Friedensvertrag oder einer entsprechenden Regelung mit einem wiedervereinigten Deutschland erfolgen; der seit der Potsdamer Konferenz 1945 bestehende Status besaß damit nur vorläufige Gültigkeit.

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Zugleich jedoch hatten die Bundesrepublik und die DDR die Oder-Neiße-Grenze wiederholt als für sie verbindlich anerkannt: die DDR im Görlitzer Vertrag vom 6. Juli 1950, die Bundesrepublik in ihrer allgemeinen Gewaltverzichtserklärung vom 3. Oktober 1954 und besonders im Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970. Eine Revision der Oder-Neiße-Grenze wurde daher weder von der DDR noch von der Bundesrepublik angestrebt.
Dennoch wurde das Thema im November 1989 erneut zum Problem, als Bundeskanzler Kohl es - ungeachtet der Genscher-Äußerung vor der UNO und der folgenden Bundestagsresolution - bei seinem Polen-Besuch zur Zeit der Maueröffnung sorgfältig vermied, die Grenzgarantie zu wiederholen. Trotz öffentlicher Kritik blieb der Kanzler unbeirrt bei seiner Position, dass eine endgültige Festlegung erst durch "eine frei gewählte gesamtdeutsche Regierung und ein frei gewähltes gesamtdeutsches Parlament" vorgenommen werden könne. Kohl zog sich damit auf den rechtlichen Standpunkt zurück, wobei das Motiv für sein Verhalten in den Erfolgen der Partei der Republikaner und dem Bemühen zu suchen war, ihnen im Vorfeld der für den 2. Dezember 1990 geplanten Bundestagswahlen keine indirekte Schützenhilfe zu leisten.
In Polen sorgte dieses Verhalten jedoch für beträchtliche Unruhe und Aufregung, die durch die Perspektive einer baldigen deutschen Wiedervereinigung noch zusätzlich geschürt wurde, so dass die polnische Regierung eine diplomatische Offensive startete, um einen Platz am Konferenztisch der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu erhalten. Aber der Kanzler weigerte sich nicht nur weiterhin, ein klärendes Wort zu sprechen, sondern lehnte auch die Teilnahme Polens an den Verhandlungen ab. Lediglich eine weitere Resolution des Bundestages zur Oder-Neiße-Frage wurde am 8. März 1990 ohne Gegenstimme bei nur fünf Enthaltungen verabschiedet. Als der französische Staatspräsident Mitterrand daraufhin am 10. März anlässlich eines Besuchs seines polnischen Amtskollegen Jaruzelski und von Ministerpräsident Mazowiecki in Paris erklärte, dass vor einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten ein deutsch-polnischer Grenzvertrag geschlossen werden müsse, ging der Bundeskanzler in die Offensive. In zwei langen Telefongesprächen mit Mitterrand und dem Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Jacques Delors, kündigte er an, dass er den deutschen Einigungsprozess nunmehr beschleunigen werde und von den Verbündeten erwarte, "dass sie sich nicht verstecken, wenn Sturm aufkommt". Das amerikanische Außenministerium wurde noch einmal offiziell in Kenntnis gesetzt, dass ein deutsch-polnischer Grenzvertrag erst nach der Wiedervereinigung möglich sei.
Der Ausgang der Wahlen zur DDR-Volkskammer am 18. März trug weiter dazu bei, die Position Kohls zu stärken. Als Präsident Bush dem Kanzler zum Wahlsieg seiner Partei in Ostdeutschland gratulierte, fügte er hinzu, dass er Mazowiecki am folgenden Tag in Washington sagen werde, dass er der westdeutschen Regierung vertraue und dass der polnische Ministerpräsident dies ebenfalls tun solle. Damit wurde der polnischen Seite klar, dass eine gleichberechtigte Teilnahme an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen nicht durchzusetzen war. Außenminister Skubiszewski erklärte sich deshalb am 26. März mit Genschers Position einverstanden, dass die Oder-Neiße-Grenze eine deutsch-polnische Angelegenheit und ihre Behandlung durch die Vier Mächte daher unpassend sei. Zudem ließen die Polen ihre Forderung fallen, dass ein Zwei-plus-Vier-Treffen in Warschau abgehalten werden solle.

Garantien innerhalb der NATO

Der Wahlausgang in der DDR führte auch bei den Regierenden in Paris und Moskau zu einer grundsätzlichen Änderung ihrer Politik.

Die französische Führung, die offensichtlich besorgt war, dass ein wiedervereinigtes Deutschland das Interesse an der Europäischen Gemeinschaft verlieren könnte, drang nun sogar darauf, dass die Bundesrepublik die DDR so schnell wie möglich integrieren möge. Außenminister Dumas erklärte, dass es am besten wäre, wenn "die ostdeutschen Provinzen" einfach in die Bundesrepublik übernommen würden, um "den komplizierten Prozess der Aufnahme eines dreizehnten Staates in die Gemeinschaft" zu vermeiden. Und Mitterrands außenpolitischer Berater Jacques Attali informierte Kohl, dass Paris jetzt "mit Hochdruck" an einer EG-Initiative zur Errichtung einer Europäischen Union arbeite, um so das vereinigte Deutschland fest in die europäische Integration einzubetten.
Auf der anderen Seite deutete Moskau am Tag nach der Volkskammerwahl offiziell an, dass es sich mit der Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland in der NATO abfinden wolle. Nikolai Portugalow meinte, dass dies zwar offiziell immer noch abgelehnt werde, es aber nur "die Ausgangsposition bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen" sei. Wjatscheslaw Daschitschew, einer der führenden sowjetischen Deutschland- und Europaexperten, ging sogar noch einen Schritt weiter, als er am 20. März in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Welt" die Ansicht formulierte, dass die UdSSR an einer deutschen NATO-Mitgliedschaft sogar interessiert sein müsse. "Man muss das geeinte Deutschland in den Rahmen der NATO einfügen [...]. Es gibt das Bild einer Kanone, die an Bord eines Schiffes nicht festgezurrt ist, und einige Leute vergleichen ein neutrales Deutschland mit einer solchen Kanone." Demnach wurde inzwischen auch in der Sowjetunion die Auffassung vertreten, dass ein in das westliche Bündnis eingebundenes Deutschland weniger gefährlich und daher eher zu befürworten sei als ein in der Mitte Europas frei "herumvagabundierendes" Deutschland. Auch Außenminister Schewardnadse schien ähnlich zu denken, wie man einer Äußerung von ihm während eines Treffens mit seinen Amtskollegen Baker und Genscher am 22. März entnehmen konnte.
Bei der Vorbereitung der ersten Zwei-plus-Vier-Konferenz am 5. Mai in Bonn fühlte sich der Kanzler deshalb stark genug, in der Frage der NATO-Mitgliedschaft zu fordern, dass
1. die Schutzklauseln in Artikel 5 und 6 des NATO-Vertrages für ganz Deutschland gelten müssten,
2. der Abzug der sowjetischen Truppen auf der Basis fester Zeitvereinbarungen erfolgen müsse und
3. Bundeswehrstationierung und Wehrpflicht für Gesamtdeutschland zu gelten hätten.

"Charta der Zusammenarbeit"

Im Gegenzug sollte Moskau ein umfassender bilateraler Vertrag über Kooperation und Gewaltverzicht angeboten werden. Als Kohl die Idee am 23. April gegenüber dem sowjetischen Botschafter Juli Kwizinski darlegte und dabei bemerkte, er wolle gewissermaßen eine "Charta der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im Sinne der großen geschichtlichen Tradition vereinbaren", reagierte Kwizinski beinahe euphorisch. Seit er nach Deutschland gekommen sei, sei es sein Traum gewesen, "zwischen Deutschland und der Sowjetunion etwas im Bismarckschen Sinne zu schaffen". Ein Vertrag, wie ihn der Bundeskanzler vorschlage, sei im Sinne von Präsident Gorbatschow. Bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen komme es Moskau vor allem darauf an, eine deutliche Verringerung der Stärke der Bundeswehr zu erreichen. Auch die Truppen der Vier Mächte sowie die Zahl der Kernwaffen auf deutschem Boden müssten reduziert werden.
Über alles dies ließ sich nach sowjetischer Auffassung jedoch Einvernehmen erzielen. Als wichtig erschien vor allem, dass der Kanzler mit seinem Angebot eines umfassenden

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bilateralen Vertrages einen Vorschlag unterbreitet hatte, der in Moskau die Vertrauensbasis für eine Regelung der Einzelfragen schuf. Kohls außenpolitischer Berater Horst Teltschik notierte deshalb am 23. April in sein Tagebuch, offenbar habe die sowjetische Führung nur auf einen derartigen "weiterführenden Vorschlag von uns gewartet".

Treffen im Kaukasus

Mit dem Vorschlag vom 23. April begann ein deutsch-sowjetisches "Sonderverhältnis", das den ganzen Sommer 1990 hindurch andauerte und mit dem Treffen zwischen Bundeskanzler Kohl und Präsident Gorbatschow in dessen Jagdhütte im Kaukasus, wo auch der Durchbruch zur deutschen Wiedervereinigung erzielt wurde, seinen Höhepunkt erreichte. Geld spielte dabei ebenfalls eine große Rolle. Denn die Sowjetunion befand sich in einer tiefen ökonomischen und sozialen Krise, aus der sie mit Hilfe des Westens herauszufinden suchte.
So äußerte Außenminister Schewardnadse am 4. und 5. Mai 1990 während der ersten Runde der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in Bonn in Hintergrundgesprächen sogleich den Wunsch nach einem neuen deutschen Kredit für die UdSSR; ein Kompromiss in der Frage der deutschen NATO-Mitgliedschaft sei danach nicht ausgeschlossen. Bundeskanzler Kohl zögerte nicht lange. Nachdem umfangreiche Lebensmittellieferungen im Januar schon wesentlich zur Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen nach den vorangegangenen Irritationen der Maueröffnung beigetragen hatten, bot sich nun eine weitere Chance, das Verhältnis zu entspannen und den Boden für Kompromisse in den schwierigen Fragen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu bereiten.
Der sowjetische Kreditbedarf belief sich nach Auskunft von Botschafter Kwizinski auf 20 Milliarden DM in fünf bis sieben Jahren. Da die ernsthafte Gefahr bestand, dass Gorbatschow auf dem im Juli 1990 bevorstehenden Parteitag der KPdSU gestürzt werden könnte, wenn die UdSSR nicht zusätzliche Finanzmittel aus dem Westen erhielt, hatte Kohl kaum eine andere Wahl, als den sowjetischen Wünschen zu entsprechen. Schon am 13. Mai reiste daher Horst Teltschik zusammen mit Hilmar Kopper und Wolfgang Röller, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen und der Dresdner Bank, in geheimer Mission nach Moskau, um den Kredit einzufädeln. Dort wurden sie von Ministerpräsident Ryschkow mit den konkreten sowjetischen Forderungen konfrontiert: Die UdSSR benötige kurzfristig einen ungebundenen Finanzkredit von 1,5 bis 2 Milliarden DM, um ihre Zahlungsfähigkeit zu sichern und international nicht ins Gerede zu kommen. Darüber hinaus sei ein langfristiger Kredit in Höhe von 10 bis 15 Milliarden DM zu Vorzugsbedingungen erforderlich, dessen Tilgungsfrist zehn bis fünfzehn Jahre bei fünf Freijahren betragen solle.
Die Forderungen bewiesen, wie groß die sowjetischen Zahlungsprobleme waren und welches Gewicht die Moskauer Führung in diesem Zusammenhang den deutsch-sowjetischen Beziehungen beimaß. Tatsächlich waren Gorbatschow und Schewardnadse in hohem Maße auf Bonn angewiesen, wenn sie in ihrem Lande politisch überleben wollten. Diese Konstellation ließ sich nutzen. Kohl begründete deshalb in einem Gespräch mit Röller und Kopper am 21. Mai im Kanzleramt seine Bereitschaft zur Kredithilfe für Gorbatschow mit dem Bild des Bauern, "der vor einem heraufziehenden Gewitter seine Ernte rechtzeitig in die Scheune einbringen" müsse. In einem Brief vom folgenden Tag bot der Kanzler der Sowjetunion einen ungebundenen Finanzkredit bis zur Höhe von fünf Milliarden DM an, verband damit allerdings die Erwartung, "dass die Regierung der UdSSR im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Prozesses im gleichen Geiste alles unternimmt, um die erforderlichen Entscheidungen herbeizuführen, die eine konstruktive Lösung der anstehenden Fragen noch in diesem Jahr ermöglicht".

Der Kreditvertrag wurde am 18. Juni in Moskau unterzeichnet und von der Bundesregierung Anfang Juli mit den erforderlichen Garantien versehen. Bereits am 13. Juli informierte Finanzminister Theo Waigel den Kanzler, dass die fünf Milliarden in vollem Umfang ausgeschöpft worden seien, womit die angespannte finanzielle Lage der Sowjetunion nochmals unterstrichen wurde.
Die Bonner Finanzhilfe für Moskau trug erwartungsgemäß wesentlich dazu bei, die äußeren Aspekte des deutschen Wiedervereinigungsprozesses zu lösen. Noch im Juni bewegte sich der Kreml schrittweise auf eine Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschland zu. Die Bundesregierung bot dafür eine deutliche Reduzierung der Stärke der Bundeswehr an, wobei Außenminister Genscher gegenüber Schewardnadse von einer Gesamtzahl von 350000 Mann sprach, während Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg eine Obergrenze von 370000 Mann befürwortete.

Reduzierung der Nuklearwaffen

Die NATO ihrerseits kam der UdSSR dadurch entgegen, dass sie auf einer Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs ihrer Mitgliedstaaten am 5. und 6. Juli 1990 in London eine Erklärung verabschiedete, in der ein grundlegender Wandel der Atlantischen Allianz angekündigt wurde: NATO und Warschauer Pakt sollten sich "nicht länger als Gegner betrachten". Die NATO werde ihre Streitkräftestruktur und Strategie den veränderten Bedingungen der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges anpassen. Die Zahl der Nuklearwaffen werde reduziert und die Strategie der "flexiblen Erwiderung" so umgestaltet, dass sie "eine verminderte Abstützung auf Nuklearwaffen" widerspiegele. Damit wolle die Allianz dazu beitragen, "die Hinterlassenschaft von Jahrzehnten des Misstrauens zu überwinden".
Während sich die Staats- und Regierungs-chefs der NATO in London versammelten, fand in Moskau vom 2. bis 13. Juli der 28. Parteitag der KPdSU statt, auf dem über das Schicksal Gorbatschows und damit auch über die sowjetische Deutschlandpolitik entschieden wurde. Die "Londoner Erklärung" mit ihrem versöhnlichen Ton kam deshalb ebenso gelegen wie der Milliardenkredit aus Bonn, der genau zu diesem Zeitpunkt von der Sowjetunion in Anspruch genommen werden konnte. Außenminister Schewardnadse bemerkte später in seinen Memoiren, die Erklärung der NATO habe möglicherweise seine Politik "gerettet". Andernfalls wäre es für Gorbatschow und ihn unmöglich gewesen, sich innenpolitisch durchzusetzen. Besonders die Deutschlandpolitik war auf dem Parteitag umkämpft. "Generale und Parteibürokraten, angeführt von Jegor Ligatschow", so Schewardnadse 1991 in einem deutschen Nachrichtenmagazin, hätten "gegen den Verlust der westlichen Bastion des sozialistischen Lagers erbittert Widerstand geleistet". Doch Gorbatschow und Schewardnadse konnten sich durchsetzen, und Gorbatschow wurde am 10. Juli mit klarer Mehrheit in seinem Amt als Generalsekretär der KPdSU bestätigt.
Für Deutschland war diese Entwicklung mitentscheidend für den weiteren Verlauf des Wiedervereinigungsprozesses. Denn unmittelbar nach seiner Wiederwahl lud der dankbare Gorbatschow Bundeskanzler Kohl in seinen Heimatort Stawropol im Kaukasus ein. Die persönliche Einladung war ein Ausdruck des Vertrauens und ein Indiz für mögliche weitere Fortschritte in den deutsch-sowjetischen Beziehungen.
Schon in Moskau, wo Gorbatschow den Kanzler am 14. Juli in kleinem Kreis im Gästehaus des Außenministeriums empfing, wurde der Durchbruch erreicht. Bereits hier gestand der sowjetische Generalsekretär zu, dass Deutschland weiterhin Mitglied der NATO bleiben könne. Die NATO müsse lediglich für eine Übergangsperiode

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berücksichtigen, dass ihr Geltungsbereich nicht auf das DDR-Territorium übertragen werde, solange dort noch sowjetische Truppen stationiert seien. Eine solche Entscheidung, so Gorbatschow, stelle beide Seiten zufrieden. Im übrigen werde das Abschlussdokument der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen die Aufhebung der Viermächteverantwortung für Deutschland ohne Übergangszeit feststellen. Es sei nur ein separater Vertrag über den Aufenthalt der sowjetischen Streitkräfte auf dem bisherigen DDR-Territorium für die Dauer von drei bis vier Jahren erforderlich.

Einigung

Damit waren die historischen Sätze gesprochen, die den Weg zur Wiedervereini-gung Deutschlands ebneten. Im Jagdhaus Gorbatschows im engen Flusstal des Selemtschuk im Kaukasus, oberhalb von Stawropol, herrschte danach eine gelöste Stimmung. Die Bilder gingen um die Welt: Gorbatschow kletterte eine steile Böschung zum kristallklaren Wasser des Flusses hinunter und streckte Kohl seine Hand entgegen, um ihn aufzufordern, ihm zu folgen - Deutsche und Russen versöhnlich vereint.
Bei den formalen Verhandlungen, die am nächsten Morgen, dem 16. Juli, am Frühstückstisch des Jagdhauses begannen, bewies Gorbatschow eine "erfreuliche Konsequenz", wie Horst Teltschik in seinem Tagebuch notierte, und bestätigte das Entgegenkommen, das er schon am Vortag gegenüber dem Bundeskanzler bewiesen hatte. Die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen sollten mit einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag abgeschlossen werden. Das geeinte Deutschland würde die Bundesrepublik, die DDR und Berlin umfassen und Mitglied der NATO sein können. Bedingung war lediglich der Verzicht auf ABC-Waffen und die Nichtausdehnung der militärischen Strukturen der NATO auf das Gebiet der bisherigen DDR, solange dort noch sowjetische Truppen standen.
Nachdem die Details der Vereinbarungen ausgehandelt waren, wobei man sich schließlich auch noch auf 370000 Mann als Obergrenze für die Truppenstärke der Bundeswehr einigte, waren alle wesentlichen Hindernisse ausgeräumt, die einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten noch im Wege gestanden hatten. Aus deutscher Sicht waren die Ergebnisse sensationell: Deutschland würde wiedervereinigt. Es würde vollständig souverän sein. Es konnte Mitglied der NATO bleiben. Deutsche Streitkräfte würden in ganz Deutschland stationiert sein. Und die Sicherheitsgarantien der Artikel 5 und 6 des Nordatlantischen Vertrages würden unverzüglich für ganz Deutschland gelten, sobald das Schlussdokument der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in Kraft getreten war.
Für die sowjetischen Partner waren der Verlauf und das Resultat der Gespräche im Kaukasus weniger erfreulich. Als Außenminister Schewardnadse in Mineralnie Wodi das Flugzeug nach Paris bestieg, wo am nächsten Tag eine weitere Runde der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen stattfinden sollte, sah er sich einem "hochnotpeinlichen Verhör" mitreisender sowjetischer Journalisten ausgesetzt, die wissen wollten, warum alle Fragen so blitzschnell gelöst worden seien. Schewardnadse bestritt, dass übereilt gehandelt worden sei. Wie er in seinen Memoiren berichtet, erklärte er dabei zu den Motiven für das Handeln der sowjetischen Führung: "Wir sind außerstande, Deutschlands Wiedervereinigung zu stoppen, es sei denn mit Gewalt. Doch das käme einer Katastrophe gleich. Wenn wir uns einer Beteiligung an diesem Prozess entziehen würden, so würden wir vieles einbüßen. Wir würden keine Grundlagen für das neue Verhältnis zu Deutschland schaffen und die gesamteuropäische Situation beeinträchtigen."
Zu der Entscheidung, der Wiedervereinigung Deutschlands zu westlichen Bedingungen zuzustimmen, gab es für die Sowjetunion

tatsächlich keine vernünftige Alternative. Nur eine erneute militärische Intervention wie am 17. Juni 1953 hätte den historischen Prozess der deutschen Vereinigung noch aufhalten können. Dazu aber war die sowjetische Führung um Gorbatschow und Schewardnadse nicht bereit. Im Interesse des Friedens in Europa und der Neuordnung der sowjetischen Beziehungen zum Westen - vor allem zur Bundesrepublik - wurde die DDR daher in die Wiedervereinigung entlassen. Dafür hoffte der Kreml auf eine großzügige Kooperation mit dem geeinten Deutschland, um die gewaltigen wirtschaftlichen und finanziellen Probleme der Sowjetunion zu lösen, die ohne westliche Hilfe nicht mehr beherrschbar schienen.

Zwei-plus-Vier-Vertrag

Der Abschluss der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war nach der Einigung im Kaukasus nur noch Formsache. Am 17. Juli fand in Paris die dritte Runde der Außenministergespräche mit zeitweiliger polnischer Beteiligung statt. Es wurde festgelegt, die polnische Forderung nach einer endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze in das Zwei-plus-Vier-Abschlussdokument aufzunehmen, das völkerrechtlich verbindlich sein würde. Danach handelten die Bundesrepublik und die Sowjetunion die bilateralen Verträge aus, die im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Prozesses vereinbart worden waren. Dies betraf vor allem den sogenannten "Generalvertrag"; über eine umfassende Kooperation zwischen Deutschland und der Sowjetunion sowie den "Überleitungsvertrag" über die Stationierung sowjetischer Truppen auf dem bisherigen Territorium der DDR für weitere drei bis vier Jahre und ihre anschließende Rückführung in die UdSSR. Trilaterale Gespräche zusammen mit der DDR-Regierung bezogen sich auf die Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen DDR-Unternehmen und sowjetischen Firmen.
Ein großes Problem tauchte im August auf, als Außenminister Schewardnadse seinen deutschen Amtskollegen brieflich darüber informierte, dass ein sowjetischer Truppenabzug nicht innerhalb von drei bis vier Jahren, sondern frühestens in fünf bis sieben Jahren möglich sei. Der Abzug hänge "vom Umfang der deutschen materiellen und finanziellen Unterstützung" ab. Schewardnadses Brief folgte am 28. August ein Besuch des stellvertretenden sowjetischen Außenministers Juli Kwizinski im Kanzleramt, bei dem dieser forderte, die Bundesrepublik solle sowohl für die Transportkosten des Truppenabzuges als auch für den Bau neuer Unterkünfte für die zurückkehrenden Soldaten in der Sowjetunion aufkommen. Außerdem müsse Bonn den Aufenthalt der noch in der DDR verbleibenden Truppen bezahlen. Andernfalls, so Kwizinski, werde es in der sowjetischen Armee zum Aufruhr kommen.
Botschafter Wladislaw Terechow präzisierte am 5. September die sowjetischen Vorstellungen. Die finanziellen Forderungen beliefen sich demnach auf 3,5 Milliarden DM Stationierungskosten für die Zeit von 1990 bis 1994, 3 Milliarden DM Transportkosten, 11,5 Milliarden DM für den Bau von 72000 Wohnungen einschließlich der notwendigen Infrastruktur mit Kindergärten, Läden, Apotheken usw., 500 Millionen DM für ein Programm zur Weiterbildung und Erziehung sowie bis zu 17,5 Milliarden DM für die Rückgabe der sowjetischen Immobilien in der DDR. Bundeskanzler Kohl, der mit Außenminister Genscher, Finanzminister Waigel und Wirtschaftsminister Haussmann übereingekommen war, auch in diesem Falle Entgegenkommen zu zeigen, bot Gorbatschow in einem Telefongespräch am 7. September einen Gesamtbetrag von 8 Milliarden DM an. Doch Gorbatschow beharrte auf einer weit höheren Summe. Allein für den Wohnungsbau müsse man 11 Milliarden DM veranschlagen. Dazu kämen noch die Transport- und Aufenthaltskosten.
Der sowjetische Generalsekretär schilderte die

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Situation als sehr alarmierend. Es sei jetzt wichtig, "den Knoten zu zerschlagen". Am 10. September bot Kohl deshalb 11 bis 12 Milliarden DM an. Gorbatschow erklärte dazu, er hoffe, dass man sich auf 15 bis 16 Milliarden einigen könne. Er habe "viele Kämpfe mit der Regierung, mit den Militär- und Finanzfachleuten ausgefochten". Das Ergebnis seien die von ihm genannten 15 Milliarden DM. Wenn dieses Ziel nicht zu erreichen sei, müsse "praktisch alles noch einmal von Anfang an erörtert werden". Danach hielt der Kanzler den Zeitpunkt für gekommen, zusätzlich zu den 12 Milliarden DM einen zinslosen Kredit in Höhe von 3 Milliarden DM anzubieten. Gorbatschow war erleichtert: So könne das Problem gelöst werden. Einige Stunden später rief Kwizinski aus Moskau im Kanzleramt an und teilte der Bundesregierung mit, dass der Generalsekretär die Weisung erteilt habe, den Überleitungsvertrag mit der Bundesrepublik nunmehr abzuschließen.

Volle Souveränität

Zwei Tage darauf, am 12. September, endeten auch die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der Außenminister mit einem Treffen in Moskau und der Unterzeichnung des "Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland". Der Vertrag regelte in zehn Artikeln die außenpolitischen Aspekte der deutschen Vereinigung und kam damit einem Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges gleich, auch wenn dieser Begriff mit gutem Grunde ( siehe unten( tunlichst vermieden wurde. Das Ergebnis war die Wiederherstellung der deutschen Einheit und die Wiedererlangung der "vollen Souveränität Deutschlands über seine inneren und äußeren Angelegenheiten".
Da der Vertrag allerdings erst nach Hinterlegung der letzten Ratifikations- bzw. Annahmeurkunde in Kraft trat (als letzte Vertragspartei ratifizierte die UdSSR den Vertrag am 3. März 1991), wurden die Vorbehaltsrechte der Alliierten durch Erklärung der Außenminister der Vier Mächte bei ihrem Treffen in Moskau am 12. September 1990 vom Tag der Vereinigung Deutschlands bis zum Inkrafttreten des Vertrages ausgesetzt. Deutschland wurde daher schon am 3. Oktober 1990 ein souveräner Staat ohne Einschränkungen, nachdem am Vortag der deutschen Einheit auch die alliierte Kommandantur in Berlin ihre Arbeit beendet hatte und alle auf Besatzungsrecht beruhenden innerdeutschen Bestimmungen - etwa die Bindung des Flugverkehrs nach Berlin an Luftkorridore - entfallen waren.
Rechtlich betrachtet bedeutete die Wiedergewinnung der vollen Souveränität für Deutschland, dass es keines besonderen Friedensvertrages mehr bedurfte. Da bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen neben den beiden deutschen Staaten nur die vier Großmächte teilgenommen hatten, nicht jedoch die vielen anderen Staaten, die sich ebenfalls mit dem nationalsozialistischen Deutschland im Kriegszustand befunden hatten und deshalb auch zu Friedensverhandlungen hätten hinzugezogen werden müssen, wurde dadurch für einen gewissen Ausgleich gesorgt, dass die 35 Mitgliedsstaaten der KSZE von den Vereinbarungen am 2. Oktober 1990 offiziell in Kenntnis gesetzt wurden. Die deutsche Einigung, die sich am 3. Oktober durch den Beitritt der fünf ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vollzog, kam daher nicht nur mit dem verbrieften Einverständnis der Vier Mächte, sondern auch mit Zustimmung aller in der KSZE vertretenen Staaten zustande.
Die außenpolitische Isolierung, in die das Deutsche Reich nach 1871 geraten war und die bis zur Teilung Deutschlands 1945 eine schwere, nie zu verkraftende Bürde gewesen war, sollte damit diesmal von vornherein verhindert werden. Das wiedervereinigte Deutschland wurde Teil einer neuen europäischen Ordnung, in der es sich von Anfang an nicht als Fremdkörper, sondern als

von allen akzeptierter Mitspieler fühlen durfte. Was in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bisher nur deutsche Teilstaaten erreicht hatten, war jetzt erstmals auch einem vereinten Deutschland möglich: die gleichberechtigte und versöhnliche Teilnahme an der europäischen Politik - mit allen Rechten und Pflichten, die auch für die anderen Staaten galten, und der Chance zur endgültigen Abkehr vom deutschen "Sonderweg", der seit Bismarck, spätestens aber seit Kaiser Wilhelm II., den Kurs Deutschlands und Europas geprägt und belastet hatte.

Probleme der inneren Einigung

Parallel zu den Verhandlungen mit den Vier Mächten über die außenpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung wurden zwischen den beiden deutschen Staaten die Probleme der inneren Einigung besprochen. Dabei ging es um höchst komplexe politische, rechtliche und wirtschaftliche Fragen, bei deren Lösung man auf keinen Präzedenzfall zurückgreifen konnte. Vordringlich war die Klärung der Bedingungen für die Wirtschafts- und Währungsunion, die - nicht zuletzt auf Drängen der DDR-Führung - Anfang Februar von der Bundesregierung angekündigt worden war und zum 1. Juli 1990 in Kraft treten sollte. Nur wenn es gelang, den Ostdeutschen wieder eine wirtschaftliche Perspektive zu bieten, war die Übersiedlungswelle zu stoppen und an eine Stabilisierung der Situation zu denken.
Darüber hinaus mussten jedoch für den politischen und rechtlichen Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten frühzeitig Überlegungen darüber angestellt werden, wie die staatliche Ordnung aussehen sollte. Unklar war bereits, unter welchen rechtlichen Voraussetzungen die Wiedervereinigung überhaupt erfolgen sollte: ob als Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes oder nach Ausarbeitung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung. Doch selbst wenn man am Grundgesetz und an der Rechtsordnung der Bundesrepublik festhielt, waren beitrittsbedingte Änderungen und Anpassungen nicht zu vermeiden, die wohlüberlegt sein mussten.
Dabei war eine Fülle von Einzelfragen zu klären. Sie betrafen unter anderem die gesetzgebenden Körperschaften, den Aufbau der öffentlichen Verwaltung, Überleitungsbestimmungen im Bereich der Justiz, die Finanzverwaltung, die Ordnung der Wirtschaft, den Bereich Verkehr, Post und Telekommunikation, das gesamte soziale Netz sowie Bildung, Wissenschaft und Kultur - um nur diese Beispiele zu nennen. Nirgends ließ sich das System der Bundesrepublik einfach auf die Gebiete der bisherigen DDR übertragen. Es bedurfte vielmehr detaillierter Anpassungsregelungen, die vor der Vereinigung festzulegen waren. Daher wurde der Abschluss eines entsprechenden "Vertrages zur deutschen Einheit" zwischen der Bundesrepublik und der DDR vereinbart.
Die vertraglichen Grundlagen der Wiedervereinigung umfassten daher neben dem in Moskau unterzeichneten "Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland" (siehe auch Seite 45) den "Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" vom 18. Mai 1990 sowie den "Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag" vom 31. August 1990. Erst die Verbindung der drei Vertragswerke ermöglichte die Wiedervereinigung Deutschlands.

Wirtschafts- und Währungsunion

Die Verhandlungen über die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion, die am 7. Februar 1990 nach der Ankündigung des Kanzlers begonnen hatten, wurden nach dem Sieg der "Allianz für Deutschland" bei den

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Wahlen zur DDR-Volkskammer am 18. März auf Drängen Bundeskanzler Kohls sogleich beschleunigt. Der Kanzler war überzeugt, dass eine rasche und anhaltende Verbesserung der Lebensbedingungen in Ostdeutschland durch wirtschaftlichen Wiederaufbau politisch notwendig war, wenn die deutsche Einheit erfolgreich verwirklicht werden sollte. Dabei setzte er voraus, dass der Wiederaufbau in relativ kurzer Zeit bewerkstelligt werden konnte.
Dieser Optimismus basierte auf der Annahme, dass die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik - entsprechend einer Analyse der fünf führenden westdeutschen Wirtschaftsforschungsinstitute - in den Jahren 1990 und 1991 durch Stabilität und zusätzliches Wachstum bestimmt sein würde. Die Prognosen sagten für 1990 3,75 Prozent Wachstum und für 1991 sogar nahezu vier Prozent voraus; zugleich werde der "Wiedervereinigungsboom" die Arbeitslosigkeit drastisch reduzieren, ohne die Inflation über die Drei-Prozent-Grenze zu treiben. Die Bundesrepublik werde damit über genügend finanzielle Reserven verfügen, um etwa für die Anpassung der Renten, die Modernisierung der Infrastruktur und die Beseitigung der Umweltschäden in Ostdeutschland sorgen zu können.
Darüber hinaus sah sich der Kanzler in seiner Zuversicht durch großzügige Versprechungen der deutschen Privatwirtschaft gestärkt, in der bisherigen DDR zu investieren. Nach Ankündigung der Währungsunion und erst recht nach dem Ausgang der Volkskammerwahl vom 18. März wurden in allen Teilen der Wirtschaft Absichtserklärungen für ein erhebliches Engagement in Ostdeutschland abgegeben. Einer Zählung der Bundesvereinigung der Handelskammern in Köln zufolge lagen Ende März 1990 bereits 1100 derartige Zusicherungen vor - vor allem aus der Automobilindustrie, dem Maschinenbau, der Elektrotechnik, dem Großhandel und dem Dienstleistungssektor.
Nach der Wahl Lothar de Maizières zum neuen Ministerpräsidenten der DDR am 12. April 1990 wurde sogleich ein Treffen mit Bundeskanzler Kohl für den 24. April vereinbart, um die Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den beiden deutschen Staaten formell zu eröffnen. Die Federführung bei den Arbeitsgesprächen lag in den Händen von Günther Krause, Staatssekretär im Büro de Maizières, und Hans Tietmeyer, Direktoriumsmitglied der Bundesbank und früherer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, der von Kohl erst im Monat zuvor zu seinem persönlichen Berater für die Verhandlungen mit der DDR über die Wirtschafts- und Währungsunion berufen worden war. Grundlage war das Angebot Kohls vom Vorabend der Volkskammerwahl, die ostdeutsche Mark bis zu einer bestimmten Obergrenze zum Kurs von 1:1 umzutauschen.
Vor allem die Bundesbank warnte vor den Folgen einer allzu hohen Bewertung der ostdeutschen Währung, die die Stabilität der DM gefährden könne. Bereits die von Kohl vorgeschlagene Lösung würde den Geldkreislauf mit 118 Milliarden DM Bargeld und Liquidität zusätzlich belasten und damit zu einer nominalen Kaufkrafterhöhung für Güter und Dienstleistungen im Umfang von 236 bis 240 Milliarden DM in der westdeutschen 2,3-Billionen-DM-Wirtschaft führen. Nach Meinung der Bundesbank konnte dies nicht ohne Auswirkungen auf die Geldwertstabilität bleiben.
Die Tietmeyer-Krause-Kommission verständigte sich deshalb am 2. Mai auf eine Mischung: Alle Löhne und Gehälter sowie Renten, Pensionen, Stipendien und bestimmte Sozialleistungen sollten zum Kurs 1:1 umgestellt werden. Die Renten im Osten würden an das Niveau der Bundesrepublik angeglichen. Bei Bargeld und Sparkonten sollten Kinder bis zu 14 Jahren 2000 DDR-Mark zum 1:1-Kurs umtauschen können, Personen zwischen 15 und 59 bis 4000 Mark und Personen über 60 bis 6000 Mark. Beträge oberhalb dieser Grenzen würden zum Kurs 2:1 gewechselt werden.

Eigentumsprobleme

Damit war ein wichtiger Punkt der künftigen Wirtschafts- und Währungsunion geklärt. Auch die sowjetische Führung reagierte darauf positiv, zumal de Maizière ihr bei einem Besuch in Moskau Ende April versichert hatte, das geeinte Deutschland werde die von der DDR eingegangenen Handelsverpflichtungen gegenüber der UdSSR einhalten. Verschiedene Probleme waren jedoch weiterhin ungelöst. Dazu zählten der Finanzausgleich zwischen den "alten" und "neuen" Bundesländern, Einzelheiten der Sozialunion und - vor allem - die Frage von Eigentumsrechten und Landbesitz, die nach Ansicht von CDU-Generalsekretär Volker Rühe sogar der "entscheidende Punkt" der Verhandlungen war. Auch der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff ließ keinen Zweifel daran, dass es "ohne eine klare Anerkennung des Privatbesitzes und die Einführung der Marktwirtschaft" keine Währungsunion geben könne.
Da der Entwurf des Vertrages über die Wirtschafts- und Währungsunion am 18. Mai vom Bundeskabinett verabschiedet und am 22. Mai in erster Lesung vom Bundestag beraten werden sollte, war die Zeit für weitere Beratungen allerdings äußerst knapp. Tatsächlich wurden die Verhandlungen abgeschlossen, ohne dass zwei der heikelsten Fragen entschieden worden waren: die Regelung der Ansprüche früherer Eigentümer in Ostdeutschland und die Reprivatisierung verstaatlichten Besitzes einschließlich Ländereien und landwirtschaftlicher Betriebe. Beide Problembereiche konnten erst nach Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion während der Verhandlungen über den Einigungsvertrag geklärt werden.
Erreicht wurde eine Einigung jedoch hinsichtlich der finanziellen Unterstützung für Ostdeutschland. Die Bundesregierung und die elf westdeutschen Länder kamen am 16. Mai überein, einen "Fonds Deutsche Einheit" zu schaffen, aus dem bis Ende 1994 insgesamt 155 Milliarden DM als Wiederaufbauhilfe für Ostdeutschland bereitgestellt werden sollten. Der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen den beiden deutschen Staaten konnte daraufhin nach abschließenden Gesprächen zwischen Bundesfinanzminister Theo Waigel und DDR-Finanzminister Walter Romberg am 18. Mai in Bonn unterzeichnet werden.

Vertragsinhalte

Kernstücke des Vertrages waren die Einführung der sozialen Marktwirtschaft in der DDR und die Umstellung der DDR-Währung auf DM zum 1. Juli 1990. In der Präambel des Vertrages erklärten die Bundesrepublik und die DDR, "die Soziale Marktwirtschaft als Grundlage für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung mit sozialem Ausgleich und sozialer Absicherung und Verantwortung gegenüber der Umwelt auch in der Deutschen Demokratischen Republik einzuführen und hierdurch die Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Bevölkerung stetig zu verbessern". Die ostdeutsche Wirtschaft sollte durch Privateigentum, freie Preisbildung und die Abschaffung staatlicher Monopole gekennzeichnet sein. Staatliche Subventionen sollten so weit wie möglich abgebaut werden, um mit den dadurch eingesparten Beträgen die ökonomische Umstrukturierung zu finanzieren. Die DDR würde außerdem das westdeutsche Sozialsystem übernehmen, während die Bundesrepublik umgekehrt für eine Übergangszeit den defizitären Staatshaushalt der DDR ausgleichen und die Kosten für die Finanzierung der ostdeutschen Sozialausgaben tragen würde. Damit verlor die DDR mit Inkrafttreten des Vertrages ihre Souveränität in Finanzangelegenheiten und übertrug die Verantwortung dafür der Bundesbank in Frankfurt am Main.
Die Auswirkungen des Vertrages galten jedoch für viele von Anfang an als zwiespältig.

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Einerseits waren die darin enthaltenen Regelungen ein unvermeidliches Element der deutschen Einigung. Alternativen gab es nicht oder waren unrealistisch - wie etwa ein Fortbestehen der ostdeutschen Währung in einem wirtschaftlichen Sondergebiet auf dem Territorium der ehemaligen DDR. Andererseits sagten Ökonomen angesichts der "Schocktherapie", der die ostdeutsche Wirtschaft ausgesetzt wurde, den Zusammenbruch vieler ineffizienter Unternehmen voraus, die dem freien Wettbewerb nicht gewachsen waren. Die Zahl der Arbeitslosen in der DDR, die innerhalb eines Monats, vom März bis April 1990, bereits von 38313 auf 64948 gestiegen war, würde dadurch je nach Prognose bis Ende 1991 auf 500000 bis 2 Millionen anwachsen. Auch die Vorausschätzungen für die Summen, die benötigt wurden, um die Industrie und Infrastruktur der DDR westlichen Standards anzugleichen, schwankten stark. Sie variierten zwischen 500 Milliarden und 1,1 Billionen DM. Dabei wurden allein die Mehrausgaben für Sozialleistungen auf jährlich mindestens 10 Milliarden DM veranschlagt.

Wirtschaftlicher Niedergang

Nachdem die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit Wirkung vom 1. Juli 1990 eingeführt worden war, offenbarte die DDR-Ökonomie ihren Charakter als eine Wirtschaft, in der weder Grunddaten noch Statistiken stimmten. In der Honecker-Zeit hatte man systematisch die immer deutlicher hervortretende Misere kaschiert und bewusst das unrealistische Bild einer DDR ohne größere wirtschaftliche Probleme gezeichnet, während sich der ostdeutsche Staat tatsächlich auf den Bankrott zubewegte. Der SED-Generalsekretär hatte alle Alarmzeichen ignoriert, um weitermachen zu können wie bisher. Als sein Nachfolger Krenz im Herbst 1989 eine ungeschönte Bilanz der ökonomischen Lage des Landes ziehen ließ, erfuhr er, dass die DDR am Ende war. Diese Situation, die heute aus internen Dokumenten des SED-Staates klar hervorgeht, war 1990 den mit der Vereinigung befassten Politikern allerdings noch nicht bekannt. Das erklärt weithin die Illusionen, die man sich in Bonn zunächst noch machte.
Als Gütezeichen der DDR galten seit jeher Vollbeschäftigung, freie medizinische Versorgung und Niedrigstmieten. Genau diese Errungenschaften gehörten jedoch ebenso wie die staatlich festgesetzten Niedrigpreise für elementare Güter und Dienstleistungen des alltäglichen Bedarfs zu den entscheidenden Ursachen des ökonomischen Niedergangs der DDR: Honeckers Konzept der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" hatte die schwache Produktivität des Landes bei weitem überfordert. Die geringe Leistungsfähigkeit des sozialistischen Wirtschaftssystems aber war der ausschlaggebende Faktor, als Ostdeutschland mit der Wirtschafts- und Währungsunion im Juli 1990 dem freien internationalen Wettbewerb mit offenen Grenzen und Märkten ausgesetzt wurde.
Nun wurde die Tatsache, dass DDR-Unternehmen im Durchschnitt nur etwa ein Drittel der Produktivität ihrer westlichen Konkurrenten aufwiesen, kaum weltmarktfähige Güter produzierten, enorme Umweltschäden verursachten und gewaltige Schuldenberge aufgehäuft hatten, der ostdeutschen Wirtschaft zum Verhängnis. In Zahlen ausgedrückt: Nahezu alle Staatsbetriebe der DDR hatten mit riesigen Verlusten operiert, die allein im Jahre 1989 Staatssubventionen in Höhe von mehr als 120 Milliarden DDR-Mark erforderlich gemacht hatten. Da überdies die Investitionsquote in den siebziger und achtziger Jahren zur Finanzierung der Honeckerschen Konsum- und Sozialpolitik sowie zunehmend auch zur Begleichung der aus dieser Politik ebenfalls resultierenden Auslandsschulden drastisch reduziert worden war, waren ein völlig veralteter und vielfach kaum noch funktionsfähiger Maschinenpark sowie eine

desolate Infrastruktur die Folge. So waren 1989 etwa 29 Prozent der Industrieausrüstungen in der DDR zwischen 11 und 20 Jahre alt, 21 Prozent sogar mehr als 20 Jahre.
Die Öffnung der DDR-Wirtschaft zum Weltmarkt führte daher binnen kürzester Zeit zu ihrem völligen Zusammenbruch, zumal auch die Ostmärkte in dieser Zeit allgemeinen Wandels kollabierten. Die Talfahrt war bereits Ende 1989 deutlich zu spüren und entwickelte sich nach der Wirtschafts- und Währungsunion zum freien Fall: Obwohl 1990 auch 110000 neue Betriebe gegründet wurden, sank das Bruttosozialprodukt bis Ende 1990 um nicht weniger als 18,5 Prozent.

Treuhandanstalt

Um die Anpassung der ostdeutschen Wirtschaft an die neuen politischen und ökonomischen Bedingungen vorzunehmen, wurde im März 1990 - noch unter Ministerpräsident Hans Modrow - die Treuhandanstalt gegründet. Sie sah ihre Rolle allerdings zunächst als Sanierungsinstrument der staatlichen Industriepolitik in einer quasi-sozialistischen Gesellschaft. Erst nach der Volkskammerwahl vom 18. März erhielt die Privatisierung höhere Priorität. Die Anstalt wuchs nun rasch zu einer Großorganisation mit 3000 Mitarbeitern an, die teils in der Berliner Zentrale, teils in einem der 15 Regionalbüros tätig waren. Ihre Aufgabe war es, den umfangreichen staatlichen Grundbesitz und die darauf befindlichen Liegenschaften sowie 127 zentrale und 95 regionale Kombinate mit insgesamt 12993 industriellen Unternehmen zu privatisieren.
Das Ziel wurde in weniger als vier Jahren erreicht - allerdings zu einem sehr hohen Preis: Für jede DM, die von privater Seite für den Kauf eines ostdeutschen Unternehmens aufgewandt wurde, mussten drei DM von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt werden, um Altschulden abzutragen oder Umweltschäden zu beseitigen. Ohne diesen öffentlichen Beitrag hätte es kaum Interessenten für die meisten DDR-Unternehmen gegeben, da sich die Erwerbungen sonst in der Regel betriebswirtschaftlich nicht gerechnet hätten. Jeder Privatisierungserfolg vergrößerte daher zugleich das finanzielle Defizit der Treuhand. Experten im Bonner Finanzministerium errechneten bereits 1991 eine Gesamtschuld von annähernd 500 Milliarden DM, die von den deutschen Steuerzahlern für die Ablösung der DDR-Wirtschaft aufzubringen waren.

Transferzahlungen

Da sich die Privatwirtschaft überdies entgegen früheren Versprechungen auch in Anbetracht der ungelösten Eigentumsproblematik mit ihrem Engagement in Ostdeutschland zunächst zurückhielt und innerhalb des ersten Jahres nach Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion nicht einmal 13 Milliarden DM investierte, blieben für die öffentliche Hand in den neuen Bundesländern weithin die einkalkulierten Steuern aus, so dass die frühere Bundesrepublik erheblich höhere Beiträge für die Beitrittsgebiete aufwenden musste als ursprünglich geplant. So bedurfte es allein 1991 etwa 143 Milliarden DM Bruttotransferleistungen für Ostdeutschland, um Einkommen zu sichern, Unternehmen zu stützen und die Infrastruktur zu verbessern. 1992 waren es bereits 173 Milliarden, 1995 188 Milliarden und 2000 rund 200 Milliarden. Für die Zeit von 1991 bis 1999 ergab sich daraus insgesamt ein Betrag von 1,634 Billionen DM. Selbst unter Berücksichtigung der Rückflüsse betrug die Nettoleistung immer noch rund 1,2 Billionen. Die Summen waren derart hoch, dass die öffentliche Verschuldung in der Bundesrepublik sich von 1990 bis 1999 mehr als verdoppelte. Allein im Bundeshaushalt stieg deshalb die Zinsausgaben-Quote von 9 Prozent im Jahre 1990 auf etwa 17 Prozent 1999, so dass heute fast jede fünfte Steuermark für Zinsleistungen

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ausgegeben werden muss.
Trotz dieser finanziellen Zuwendungen erwies sich der Optimismus der verantwortlichen Politiker über einen raschen Aufschwung der ostdeutschen Wirtschaft als verfehlt. Die zu überwindende Durststrecke war erheblich länger als erwartet, zumal die zunehmend durch schlechte Produktivitätsperspektiven verschreckten privaten Investoren weiter zögerten und die öffentlichen Stützungs- und Arbeitsbeschaffungsprogramme nicht auf Dauer im ursprünglichen Umfang aufrechterhalten werden konnten. Das Ergebnis war ein Anstieg der Arbeitslosigkeit auf durchschnittlich 15 Prozent, wobei die Quote in manchen Regionen noch sehr viel höher lag. Daraus wuchs Enttäuschung - nicht zuletzt auch deshalb, weil 1990 im Wahlkampf zu viel versprochen worden war. Einer Meinungsumfrage des "Politbarometers" der Forschungsgruppe Wahlen zufolge meinten 1993 75 Prozent der Ostdeutschen, dass sich die Gesellschaft in einer "schweren Krise" befinde. In einem "Katastrophenszenario" hielten über 50 Prozent die wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern nicht nur für "schlecht", sondern glaubten, sie werde auch "gleich schlecht" bleiben.
Diese negativen Einschätzungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung standen jedoch in einem bemerkenswerten Kontrast zu den gleichzeitig abgegebenen Bewertungen der persönlichen Situation. So sahen 64 Prozent der Ostdeutschen das Jahr 1991 für sich als ein "gutes Jahr" an; 1992 waren es sogar 69 Prozent - genauso viele wie im Westen. Dieser Trend setzte sich in den folgenden Jahren fort. Damit tat sich eine Lücke in der Beurteilung der allgemeinen und der persönlichen Lage auf, die allein mit den üblichen Inkongruenzen bei Meinungsbefragungen nicht zu erklären ist. Denn die geringste Abweichung beider Größen lag bei 39 Punkten, das Maximum sogar bei 51 Punkten.
Eine Erklärung dürfte die Tatsache bieten, dass die schwache Wirtschaftskraft in den neuen Ländern, die nicht nur aus der Berichterstattung der Medien, sondern auch im Alltag ersichtlich war, im persönlichen Bereich durch die gewaltigen Transferleistungen der Bundesregierung ausgeglichen wurde. Die wirtschaftliche Lage der großen Mehrheit der Ostdeutschen entwickelte sich positiv, während zugleich die Einschätzung der allgemeinen politischen Entwicklung hinter den Erwartungen zurückblieb. So wie die alte Bundesrepublik seit ihrer Entstehung 1949 für die Westdeutschen einen erheblichen Teil ihrer Legitimität aus ihrem materiellen Erfolg bezog, für den damals der Begriff des "Wirtschaftswunders" geprägt wurde, hing auch die Akzeptanz der neuen Bundesrepublik bei den Ostdeutschen maßgeblich von der Fähigkeit der marktwirtschaftlichen Ordnung ab, für ihre materielle Zufriedenheit zu sorgen.

Grundgesetz oder neue Verfassung?

Neben der Wirtschafts- und Währungsunion zählte die Frage nach der künftigen deutschen Verfassung zu den Hauptthemen der Wiedervereinigungsdiskussion im Frühjahr 1990. Rechtlich betrachtet, gab es zwei Wege, auf denen sich die Wiedervereinigung vollziehen konnte: nach Artikel 23 GG, der besagte, dass die Verfassung außer in den bereits bestehenden Ländern der Bundesrepublik auch in "anderen Teilen Deutschlands [...] nach deren Beitritt in Kraft zu setzen" sei; oder nach Artikel 146 GG, demzufolge das Grundgesetz an dem Tage seine Gültigkeit verliert, "an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist".
Als die Frage nach Ankündigung der Währungsunion und nach der Konstituierung des "Ausschusses Deutsche Einheit" am 7. Februar 1990 aktuell wurde, zeigte sich rasch, dass die Mehrheit der Deutschen für die Anwendung des Artikels 23 plädierte, der eine rasche und unkomplizierte Lösung versprach.

Zwar befürwortete eine Minderheit in beiden Teilen Deutschlands, darunter vor allem die Bürgerrechtler und auch viele Sozialdemokraten, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gemäß Artikel 146, weil sie meinten, dass Bonn nicht einfach die DDR "annektieren" dürfe. Aber nach einer Umfrage des Wickert-Instituts von 1990, die am 26. Februar veröffentlicht wurde, traten 89,9 Prozent der Westdeutschen und 84,1 Prozent der Ostdeutschen für die Übernahme des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung ein.
Nach der Volkskammerwahl vom 18. März war die Frage auch politisch entschieden. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hielt deshalb bereits am 6. April eine erste Ressortbesprechung zur Vorbereitung eines "Gesetzes über die Einführung von Bundesrecht in der DDR (1. Überleitungsgesetz)" ab. Am 18. April traf er dazu mit seinem ostdeutschen Amtskollegen Peter-Michael Diestel zu einer Unterredung zusammen, wobei es im Grunde nur noch um praktische Fragen ging. Parallel dazu konferierten die Justizminister der beiden deutschen Staaten, Hans Engelhard und Kurt Wünsche, um Einzelheiten der Harmonisierung der beiden Rechtssysteme auszuarbeiten.
Die wichtigsten Beschlüsse in der Beitritts- und Verfassungsfrage wurden jedoch von der DDR-Volkskammer getroffen. Dort lehnte eine Mehrheit der Abgeordneten am 26. April die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ab. Ein Antrag der DSU-Fraktion, den sofortigen Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes zu beschließen, wurde am 17. Juni an den Verfassungs- und Rechtsausschuss überwiesen. Am 23. August 1990 votierte das ostdeutsche Parlament für einen Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23.
Im Grundgesetz machte der Beitritt der fünf neuen Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie des östlichen Teils Berlins einige Änderungen notwendig. So wurde nunmehr in der Präambel die Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung festgestellt und gefolgert: "Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk." Artikel 23 wurde aufgehoben, um Diskussionen den Boden zu entziehen, ob es noch "andere Teile Deutschlands" gebe, deren Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes möglich sei. Artikel 146 wurde dahingehend geändert, dass zwar künftig die Ausarbeitung einer neuen Verfassung nicht ausgeschlossen sei, das Grundgesetz aber nicht mehr als vorläufig gelte. Weitere Änderungen und Ergänzungen betreffen die Stimmenzahl der einzelnen Länder im Bundesrat (Art. 51 Abs. 2) und die Übernahme der Schulden der früheren DDR oder ihrer Rechtsträger (neuer Abs. 2 zum Art. 135a). Neu eingefügt wurde der Artikel 143, der in der bisherigen DDR Abweichungen vom Grundgesetz für eine Übergangszeit zulässt und die zwischen 1945 und 1949 erfolgten Enteignungen auf dem Gebiet der SBZ/DDR verfassungsrechtlich absichert.

Eigentumsfrage

Von dem Problem der Enteignungen waren Tausende von Deutschen in Ost und West betroffen, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone und danach in der DDR ihr Eigentum verloren hatten. Enteignungen durch die sowjetische Besatzungsmacht und die Regierung der DDR sowie Eigentumsverluste durch Flucht und Vertreibung hatten zu Eingriffen in Grundbesitz, Betriebe oder sonstiges Vermögen geführt, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar waren. Diese Fehlentwicklungen zu korrigieren, war nicht nur ein wesentliches politisches Anliegen des Einigungsprozesses, sondern auch eine zwingende juristische Notwendigkeit, die sich aus der Rechtsordnung der Bundesrepublik ergab.
Nachdem der Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion die daraus resultierenden

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höchst komplizierten Eigentums- und Vermögensfragen, deren Behandlung durch das SED-Regime mit rechtsstaatlichen Grundsätzen zumeist nicht in Einklang zu bringen war, weitgehend ausgeklammert hatte, kam man im Einigungsvertrag nicht mehr umhin, eine Lösung zu versuchen. Dazu wurde am 15. Juni 1990 zunächst eine "Gemeinsame Erklärung" der Bundesregierung und der Regierung der DDR abgegeben, in der allgemeine Grundsätze formuliert wurden. Die Erklärung wurde dem Einigungsvertrag als Anlage III beigefügt und ist damit Bestandteil des Vertrages. Ein "Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen", das erst am 31. August, also am Tage der Unterzeichnung des Einigungsvertrages, ohne das übliche Gesetzgebungsverfahren in der Volkskammer als Anlage II in den Vertrag aufgenommen wurde, präzisiert diese Gemeinsame Erklärung und enthält detaillierte Ausführungsbestimmungen.
Die Lösung, auf die man sich nach langwierigen und mühseligen Gesprächen zwischen den Regierungen der beiden deutschen Staaten schließlich einigen konnte, geht vor allem von zwei Grundsätzen aus:
1. Eingriffe in das Eigentum von der Kapitulation bis zur Gründung der DDR, also für die Zeit zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 7. Oktober 1949, werden nicht rückgängig gemacht. Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen, die in dieser Zeit nach Besatzungsrecht erfolgten, insbesondere auch im Rahmen der sogenannten "Bodenreform" vom September 1945, behalten ihre Gültigkeit.
2. Vermögen einschließlich Grundbesitz, das nach dem 7. Oktober 1949 enteignet bzw. unter staatliche Treuhandverwaltung der DDR gestellt wurde, soll grundsätzlich den ehemaligen Eigentümern oder ihren Erben zurückgegeben werden. Von Ausnahmen abgesehen, gilt das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung".
Strittig war zunächst vor allem der erste Punkt, der als Eingriff in das nach Artikel 14 GG geschützte Grundrecht auf Eigentum angesehen wurde. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte jedoch am 23. April 1991 die Bestimmung des Einigungsvertrages, dass "Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage" aus den Jahren 1945 und 1949 in der damaligen SBZ nicht aufgehoben werden.
Auch der zweite Grundsatz war nicht unproblematisch. Obwohl eine andere Regelung aus verfassungsrechtlichen Gründen vermutlich nicht möglich gewesen wäre, erwies sich das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" nicht nur durch langwierige Verfahren als Hindernis für Investitionen, sondern ebenso als Anlass für Missstimmung in Ostdeutschland. Menschen, die viele Jahre lang Nutzer des Besitzes gewesen waren, für den jetzt Rückübertragungsansprüche angemeldet wurden, sahen sich nun plötzlich von Kündigung und Existenzverlust bedroht.
Die vom SED-Regime angerichteten Verwirrungen und Verzerrungen bei den Eigentums- und Vermögensverhältnissen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR waren damit ein besonders problematisches und folgenschweres Kapitel der deutschen Teilung. Dessen Folgen mussten nun im wiedervereinigten Deutschland aufgearbeitet und geklärt werden, wobei langwierige Rechtsstreitigkeiten oft nicht zu vermeiden waren. Das Unrecht der Enteignungen aus DDR-Zeiten war dabei gegen die Möglichkeit neuen Unrechts abzuwägen, hervorgerufen durch Eingriffe in Eigentumsstrukturen, die in vier DDR-Jahrzehnten langfristig gewachsen waren.

Soziales Netz

Im Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 heißt es in Art. 1 Abs. 4: "Die Sozialunion bildet mit der Währungs- und Wirtschaftsunion eine Einheit. Sie wird insbesondere bestimmt durch eine der

Sozialen Marktwirtschaft entsprechende Arbeitsrechtsordnung und ein auf den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs beruhendes umfassendes System der sozialen Sicherung." Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 behandelt in Kapitel VII ausführlich die Ausdehnung des "sozialen Netzes" der Bundesrepublik auf das Gebiet der ehemaligen DDR.
Darin wurde festgelegt, dass die in der alten Bundesrepublik seit 1949 erlassenen Gesetze und Bestimmungen, die im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft den Sozialstaat verwirklichen sollten, nach der Wiedervereinigung ungeschmälert auf Ostdeutschland übertragen wurden. Im Prinzip waren für die neuen Länder keine Sonderregelungen vorgesehen. Von Anfang an sollte es eine uneingeschränkte Mitwirkung und Teilhabe an den sozialen Errungenschaften des westlichen Systems geben.
Dabei war man sich einerseits der Tatsache bewusst, dass der Zusammenbruch des SED-Regimes wesentlich durch die wirtschaftliche und soziale Attraktivität der alten Bundesrepublik beschleunigt, wenn nicht gar verursacht worden war, so dass sich für die DDR-Bürgerinnen und -Bürger mit der Wiedervereinigung große materielle Hoffnungen und Erwartungen verbanden, die möglichst nicht enttäuscht werden durften. Andererseits gab es auch kein ernstzunehmendes Argument, das es gerechtfertigt hätte, den Deutschen im Osten jene Vorteile weiterhin vorzuenthalten, die die Deutschen im Westen seit langem genossen. Auch war zu bedenken, dass die Menschen in der DDR bereits ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit gewöhnt waren, so dass ein Abbau oder das Fehlen von Elementen des Sozialsystems zu einem Glaubwürdigkeitsverlust des neuen Systems geführt hätte.
Bei der neuen Sozialrechtsordnung ging es nicht nur um die Absicherung der Bürger gegen Gefahren, Unsicherheiten und Härten des privaten und beruflichen Lebens, sondern auch um Fragen der Mitbestimmung, des Tarifrechts und der Vermögensbildung. Demgemäss verpflichtete sich die DDR in Artikel 17 des Vertrages über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, Betriebsverfassung, Unternehmensmitbestimmung und Kündigungsschutz entsprechend den in der Bundesrepublik geltenden Bestimmungen einzuführen. Beim Arbeitsvertragsrecht wurde der gesamtdeutsche Gesetzgeber in Artikel 30 Abs. 1 des Einigungsvertrages angewiesen, möglichst bald zu einheitlichen Regelungen zu kommen. Für bestehende Tarifverträge und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurden Übergangsregelungen vereinbart. Die Mitbestimmungs- und Vermögensbildungsgesetze der Bundesrepublik traten auch in der DDR in Kraft.
Das Sozialversicherungsrecht der Bundesrepublik wurde ebenfalls von der DDR übernommen. An die Stelle der Einheitssozialversicherung trat ein gegliedertes System mit getrennten Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherungen. Die Renten sollten mit der Angleichung der Löhne und Gehälter in Ostdeutschland an das Niveau der alten Bundesländer entsprechend angepasst, das heißt erhöht werden. Die Bundesrepublik erklärte sich hier zu einer vorübergehenden "Anschubfinanzierung" bereit, solange die Beiträge und Staatszuschüsse die Ausgaben für die erhöhten Leistungen der Rentenversicherung nicht deckten. Entsprechendes galt für die Arbeitslosenversicherung, die rasch zu einem Problem wurde, weil der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft zu einem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit führte. Um schwerwiegende politische Konsequenzen zu vermeiden, mussten die sozialen Folgen dieser Entwicklung von der Bundesregierung abgefangen werden.

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Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die in den alten Ländern seit langem wohlvertraut waren, wurden daher nun auch in Ostdeutschland zu Begriffen, die für viele den Alltag prägten.
Trotz der Probleme, die mit dem tiefgreifenden sozialen Wandel nach der Wende von 1989 für die DDR und die ostdeutsche Gesellschaft unvermeidlich verbunden waren, trug diese Ausdehnung des sozialen Netzes der alten Bundesrepublik auf die neuen Länder wesentlich dazu bei, die negativen Auswirkungen des Umbruchs für die betroffenen Menschen in Grenzen zu halten. Anders als in den anderen Staaten des sowjetischen Hegemonialbereichs, die nicht an westlichen Ressourcen partizipieren konnten, vollzogen sich die Veränderungen in Ostdeutschland immerhin auf gesicherter Grundlage. Wenn der Umbruch trotz der eingebauten sozialen Sicherungen von vielen dennoch als schmerzhaft empfunden wurde - vor allem wegen der früher unbekannten Arbeitslosigkeit -, lag dies nicht zuletzt an den Mentalitätsunterschieden, die in vierzig Jahren DDR entstanden waren. Zwar führte der Umbruch nur selten in eine soziale Katastrophe. Aber der Verlust an gewohnter Sicherheit rief oft bei den Menschen in den neuen Ländern eine Befindlichkeit hervor, die mit der objektiven Lebenssituation wenig zu tun zu haben schien.
Umgekehrt wuchs auch in den alten Bundesländern der Verdruss über die Entwicklung. Die durchaus vorhandene Bereitschaft der Westdeutschen, für den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg in den neuen Ländern die notwendigen finanziellen Mittel aufzubringen, ließ in dem Maße nach, in dem die Kosten explodierten und die steuerlichen Belastungen zunahmen. Hinzu kam bei manchen Unverständnis über die "Undankbarkeit" der Ostdeutschen, die PDS wählten und auf ihre eigene Identität pochten. Die doppelte Frustration in Ost- und Westdeutschland war somit - ungeachtet aller positiven Ergebnisse - ein wichtiges Merkmal bei der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Wiedervereinigung in der ersten Hälfte der neunziger Jahre.

Wiedervereinigung der Kultur

Die deutsche "Kulturnation", die sich seit der Herausbildung einer deutschen kulturellen Identität im 18. Jahrhundert entwickelt hatte und der Reichsgründung vorangegangen war, wurde auch durch die politische Teilung nach 1945 nicht beseitigt. Die gemeinsame Geschichte und Tradition, die einheitliche Sprache, die verbindende Wirkung grenzüberschreitender Medien und nicht zuletzt die Ost-West-Wanderung von Intellektuellen verhalfen dazu, im kulturellen Bereich zwischen den beiden deutschen Staaten eine Gemeinsamkeit zu bewahren, die politisch nicht mehr bestand.
Gleichwohl führten vierzig Jahre deutscher Teilung zu einer kulturellen Differenzierung, welche die Wiedervereinigung auch im Bereich der Kunst, Literatur und Musik sowie der Museen, Bibliotheken, Bildung und Wissenschaft vielfach zu einem Problem werden ließ. Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 trug dem Rechnung, indem er in Artikel 35 einerseits darauf hinwies, dass "Kunst und Kultur - trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland - eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation" gewesen seien, andererseits aber durchaus "Auswirkungen der Teilung Deutschlands" konstatierte, denen man entgegenwirken müsse.
Eine der Folgen betraf die Zuständigkeit für die Förderung von Kunst und Kultur: In der DDR war sie hochgradig zentralisiert, in der Bundesrepublik dagegen dezentral eine Angelegenheit der Länder und Kommunen. Im Einigungsvertrag wurde dazu vereinbart, das föderalistische Prinzip auf ganz Deutschland zu übertragen. Schutz und Förderung von Kultur und Kunst sollten "entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes"

auch im "Beitrittsgebiet" den Ländern und Kommunen obliegen. Da diese voraussichtlich mit dem für sie neuen Aufgabenbereich zumindest kurzfristig überlastet sein würden, bekundete der Bund die Bereitschaft, "übergangsweise zur Förderung der kulturellen Infrastruktur einzelne kulturelle Maßnahmen und Einrichtungen" in den neuen Ländern mitzufinanzieren, damit die "kulturelle Substanz" dort keinen Schaden nahm. So wurde der seit 1949 bestehende DDR-Kulturfonds zur Förderung von Kultur, Kunst und Künstlern unter Beteiligung des Bundes zunächst weitergeführt. Aber diese Weiterführung war bis zum 31. Dezember 1994 befristet. Über eine Nachfolgeeinrichtung war im Rahmen der Verhandlungen über den Beitritt der neuen Länder zur Kulturstiftung der Länder zu befinden.
Von großer Bedeutung für die Kultur in Deutschland war die ebenfalls im Einigungsvertrag geregelte Wiedervereinigung von Sammlungen und Museen. Davon betroffen waren in erster Linie die ehemals staatlichen preußischen Sammlungen in Berlin, die durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse getrennt worden waren. Bei den Bibliotheken wurde die frühere, bis 1661 zurückreichende "Preußische Staatsbibliothek" mit Sitz Unter den Linden, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges mit 3 Millionen Bänden die drittgrößte Bibliothek Europas war und in der DDR den Namen "Deutsche Staatsbibliothek" trug, nach 1990 mit der "Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz" in Westberlin verschmolzen. Der Gesamtbestand der neuen "Deutschen Staatsbibliothek" umfasst jetzt rund 8 Millionen Titel.
Im Bildungsbereich wurde die Anerkennung der in der früheren DDR erworbenen schulischen, beruflichen und akademischen Abschlüsse und Befähigungsnachweise im Einigungsvertrag grundsätzlich geregelt. Probleme bereitete die Überleitung des Personals, das in der DDR häufig nicht nur nach fachlichen Kriterien, sondern auch nach politischen Gesichtspunkten ausgewählt worden war. Die "Evaluierung" vorhandener Lehrkräfte musste deshalb durch einen Neuaufbau ergänzt werden. In der wissenschaftlichen Forschung, die in der DDR größtenteils nicht an den Universitäten und Hochschulen, sondern in eigenständigen Akademien und Instituten stattfand, wurde eine gemeinsame Struktur für ganz Deutschland geschaffen. Dabei blieben jedoch Einrichtungen der früheren DDR erhalten, wenn sie vom Wissenschaftsrat als leistungsfähig beurteilt wurden.

Problem der Identität

Mit all diesen Maßnahmen stellte der Einigungsvertrag wichtige Weichen für die Neuorganisation der Kultur im wiedervereinigten Deutschland. Wenn man Kultur jedoch in einem weiteren Sinne auch als "mentale oder geistig-moralische gesellschaftliche Befindlichkeit" und damit als geistigen Prozess versteht, wird man ihr mit Hinweisen auf Fragen der Finanzierung, der institutionellen Ausgestaltung und der politischen Verwaltung kaum gerecht. Tatsächlich gingen die Einflüsse der Maueröffnung und der Wiedervereinigung, die 1989/90 in Ostdeutschland zunächst als Selbstbefreiung, Öffnung und Chance zur demokratischen Erneuerung begriffen wurden, bald vielfach mit einem "Kultur- und Konsumschock" einher, der weitreichende Auswirkungen auf das kulturelle Leben hatte.
In dem Maße, in dem sich der Alltag veränderte - oft auf dramatische Weise und in kürzester Frist -, wandelten sich auch Kunst und Kultur. Es entwickelte sich die Vorstellung einer "DDR-Identität", die es vor dem Ansturm der westlichen Konsumgesellschaft zu retten gelte. Die sich daraus ergebenden Spannungen wurden bald zu einem irritierenden Thema der innerdeutschen Diskussion. Sehnsucht nach Bewahrung des ostdeutschen Lebensgefühls kam auf. Heiner Müller sprach von der "Qualität der

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Verlangsamung", von der Möglichkeit zur Konzentration, die in der Verwestlichung Ostdeutschlands abhanden zu kommen drohe. Errungenschaften der westeuropäischen Zivilisation, die in der Zeit der Teilung für viele in der DDR erstrebenswert erschienen waren, verloren nun plötzlich ihren Reiz. Zur Vielschichtigkeit gesamtdeutscher Identität, so hieß es nun, gehöre es, wenigstens die positiven Aspekte der DDR-Identität zu bewahren. Wie verbreitet das Gefühl der Bedrohung der eigenen Identität in Ostdeutschland war, zeigten nicht nur Meinungsumfragen, sondern auch die Wahlerfolge der PDS.
Die Komplexität der Problematik von Veränderung und Bewahrung wurde auch in anderem Zusammenhang deutlich. Wolf Biermann schrieb dazu pointiert: "Die meisten Richter werden wohl Richter bleiben, genau wie nach 45 im Westen. Die Polizisten bleiben Polizisten. Die Chefs bleiben Chefs. Das Häuflein Aufrechter bleibt ein Häuflein." Mit anderen Worten: Biermann - so wie viele andere verfolgte und ausgebürgerte Künstler der DDR - befürchtete, dass die "Kader" von gestern auch im neuen Deutschland wieder Karriere machen würden, während die ehemals Verfolgten weiter benachteiligt und isoliert blieben. Die damit angesprochene "Vergangenheitsbewältigung" in der Kultur ließ sich indessen nicht durch einen Federstrich bzw. eine Grundsatzentscheidung lösen. Hier bedurfte und bedarf es langfristiger Diskussionen und Auseinandersetzungen in allen Bereichen des kulturellen Lebens - nicht zuletzt unter Beteiligung der Betroffenen selber, um die Wiedervereinigung nicht nur als organisatorischen Prozess, sondern auch im Sinne einer gesellschaftlichen Integration, einschließlich der Aufarbeitung der schwierigen Vergangenheit, zu vollziehen.

Von der Bonner zur Berliner Republik

Zu den Vereinigungsfolgen gehörten jedoch nicht nur die Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Wende in der DDR stellten, sondern auch die Konsequenzen, die die Wiedervereinigung Deutschlands für die alte Bundesrepublik ergab. Denn die "Bonner Republik", die seit 1949 mit großem Erfolg die Integration der Deutschen in Europa betrieb und sich dabei durch innere Stabilität, wirtschaftliche Prosperität und außenpolitische Berechenbarkeit ausgezeichnet hatte, wich nun der "Berliner Republik", bei der noch unklar ist, wie sie die in vier Jahrzehnten gewachsene und bewährte politische Kultur ihrer Vorgängerin fortzuentwickeln vermag.
Der Wandel, der in der spektakulären und hart umkämpften Abstimmung des Bundestages vom 20. Juni 1991 über die (teilweise) Verlegung des Sitzes von Parlament und Regierung nach Berlin seinen Ausdruck fand, erfolgte nicht nur aus Gründen politischer Glaubwürdigkeit, sondern auch zur Vollendung der inneren Einheit Deutschlands. Nachdem

seit 1945 in ungezählten Erklärungen die Hauptstadtfunktion Berlins beschworen worden war, konnte die Entscheidung kaum anders ausfallen. Durch die Wahl Berlins partizipieren die neuen Länder zumindest an den Regierungseinrichtungen, zumal die Wende keine nennenswerte Ostverlagerung bedeutender Firmen nach sich zog. So wie ein großer Teil wirtschaftlicher und finanzieller Macht der Bundesrepublik weiterhin entlang der "Rhein-Schiene" konzentriert ist, wird die Hauptstadtfunktion eine wirtschaftliche Stärkung der Berliner Region nach sich ziehen.
Es fragt sich nur, ob dieser Wechsel weitergehende politische Veränderungen bringen wird. Nicht ohne Grund sorgte Fritz René Allemann 1956 mit seinem Buch "Bonn ist nicht Weimar" für Aufsehen: Orte stehen auch für Inhalte; Bonn war damals ein positives Symbol. Würde der Übergang von der Bonner zur Berliner Republik wieder eine politische Veränderung bedeuten - diesmal zum Negativen im Sinne einer Abkehr von innerer Stabilität und äußerer Verlässlichkeit -, wäre Besorgnis angebracht. Der Soziologe Niklas Luhmann und der Historiker Ernst Nolte trugen darüber schon im Herbst 1990 einen publizistischen Streit aus. Der Journalist Johannes Gross griff die Gedanken von Fritz René Allemann in seinem Buch "Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts" auf.
Von einem vollständigen Ende der Bonner Republik kann aber wohl keine Rede sein. Mit dem Fortbestand von Verfassung und Westbindung gibt es zwei grundlegende Elemente, die Kontinuität gewährleisten. Auch die Wirtschaftsordnung, die Struktur der Eliten, das Bildungswesen und die - in einem umfassenden Sinne verstandene - demokratische politische Kultur, die inzwischen eine beträchtliche Reife bewiesen hat, werden mit großer Wahrscheinlichkeit dazu beitragen, die Stabilität der Bundesrepublik zu erhalten. Der Regierungsumzug nach Berlin - der im übrigen ja auch keinen vollständigen Wechsel aller Regierungsstellen beinhaltet - sollte daher in seinen Konsequenzen nicht überschätzt werden. Dennoch gibt es Veränderungen. Das geeinte Deutschland ist aus einer Randlage im Ost-West-Konflikt in das Zentrum des neuen Europa gerückt. Es befindet sich nicht länger im Windschatten der Weltpolitik, sondern wird zur Übernahme von Verantwortung gedrängt. In der neuen Hauptstadt Berlin spiegeln sich wie in einem Brennglas die Probleme eines Kontinents, in dem die Grenzen offener und die sozialen Klüfte tiefer und spürbarer geworden sind. Die Bundesregierung wird sich diesen Spannungen in Berlin - anders als in Bonn - kaum noch entziehen können. Der politische Stil wird sich damit ebenso ändern wie die politischen Inhalte, die von neuen Herausforderungen bestimmt sein werden. Vergleicht man Kontinuitäten und Veränderungen, deutet aber vieles darauf hin, dass sich die Berliner Republik nicht allzu weit von ihren Bonner Traditionen entfernen wird.