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Deutsche Geschichten


Wirtschaftswunder
Die Verflechtung mit der Weltwirtschaft und die politische Bindung an den Westen, erleichterte der Bundesrepublik in den 50er Jahren den raschen Wiederaufstieg.

Soziale Marktwirtschaft

Nach dem Krieg galt es, die darnieder liegende Wirtschaft möglichst schnell wieder aufzubauen. Zunächst wurde in fast allen Ländern der sozialistischen Idee der zentral gelenkten Wirtschaft Vorrang eingeräumt. Zentrale Lenkung und Zuteilung- in Deutschland seit Beginn des 2. Weltkrieges praktiziert - schien die einzige Möglichkeit zu sein, den Bedarf der Menschen an Nahrungsmitteln, Kleidung, Kohlen usw. einigermaßen gleichmäßig und gerecht zu decken. Man sah dies zwar als Notmaßnahme an, doch konnte sich niemand auch auf längere Sicht andere Lösungen vorstellen, durch die der notwendigste Bedarf gedeckt werden konnte. Seinen Niederschlag fand der Gedanke der zentralen Lenkung der Wirtschaft sogar bei der CDU, die in ihrem Ahlener Programm von 1947 auch die Vergesellschaftung der Grundstoffindustrien nicht ausschließen mochte.
Während die britische Militärverwaltung solchen sozialistischen Vorstellungen durchaus folgen konnte, stiessen diese Gedanken bei den amerikanischen Dienststellen auf Ablehnung. Vor allem General Lucius D. Clay war klar, dass die Wirtschaft nur in Schwung kommen konnte, wenn für den Wiederaufbau genügend Kredite bereitgestellt würden. Kredite für eine von sozialistischen Theorien beherrschte Volkswirtschaft wären aber weder vom amerikanischen Kongress noch von der amerikanischen Wirtschaft zu erhalten gewesen. So zielte Clay in der amerikanischen Besatzungszone darauf ab, ein

möglichst liberales Wirtschaftssystem aufzubauen. Natürlich suchten die Vertreter der widerstreitenden Richtungen die Schlüssel-
positionen in den Länder-
regierungen und den zentralen Organen des Vereinigten Wirtschaftsgebietes mit ihren jeweiligen Anhängern zu besetzen. Mit Viktor Agartz als Direktor des Verwaltungsamtes für Wirtschaft der Bizone gelangte ein exponierter Sozialist in eine Schlüssel-
position. Die Vertreter einer liberaleren Wirtschaftspolitik - vor allem im süddeutschen Raum angesiedelt - sammelten sich um den parteilosen bayerischen Wirtschafts-
minister Ludwig Erhard. Im März 1948 wurde Erhard zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes gewählt.

Biographie
Ludwig Erhard

Sein Programm sah die Liberalisierung der Wirtschaft vor. Währungsreform und Marshallplanhilfe seien geeignet, den Wirtschaftsaufschwung zu sichern. Produktion und Konsum müssten mehr Freiheit haben, Wettbewerb und Leistungswille seien das Gebot der Stunde. Die soziale Marktwirtschaft bedingte nach Anlaufschwierigkeiten den wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik. Das so genannte »Wirtschaftswunder«, ist jedoch auch im Rahmen eines fast alle europäischen Länder erfassenden Wirtschaftswachstums zu

sehen. Die soziale Marktwirtschaft sieht bei grundsätzlicher Befürwortung und Absicherung der wirtschaftlichen Freiheit eine Regulierungs- und Kontrollfunktion des Staates vor, um ein Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit zu gewährleisten. Der Staat hat die Aufgabe, sozial unerwünschte Entwicklungen der Marktwirtschaft rechtzeitig zu korrigieren, den freien Wettbewerb unter anderem vor der Beeinträchtigung durch Kartelle und Monopole zu schützen und die Einkommens- und Vermögensverteilung im Interesse der nicht am Wirtschaftsprozess beteiligten Bevölkerungsgruppen zu steuern. Bestimmte Bereiche der Volkswirtschaft wie z.B. Raumordnung und Strukturpolitik, die der Privatinitiative nicht überlassen werden können, werden vom Staat geregelt. Ihm obliegt es ferner, die Stabilität des Geldwertes zu sichern.

Ökonomische Entwicklung der Bundesrepublik 1945 bis 1961

Das westdeutsche ”Wirtschaftswunder” begann erst 1951/52 - und nicht, wie in Rückblicken oft zu lesen, mit der Währungs- und Wirtschaftsreform vom Juni 1948. Mit der D-Mark existierte zwar wieder eine vertrauenswürdige Währung, doch die marktwirtschaftliche Ordnung, mit deren Aufbau Ludwig Erhard, Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in der amerikanisch-britischen Besatzungszone, ohne vorherige Zustimmung der Militärregierung begonnen hatte, brachte zunächst nicht die angekündigte grundlegende Wende zum Besseren. Die

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neue Wirtschaftsordnung stand in den Anfangsjahren der Bundesrepublik mehrfach auf dem Prüfstand.

Konsolidierung 1949-1952

Der außergewöhnliche Aufschwung in den fünfziger Jahren verband sich aus der Sicht der Zeitgenossen dennoch von Anfang an mit dem Programm der Sozialen Marktwirtschaft. Obgleich von seinen ”geistigen Vätern” und Anhängern als Gegenentwurf zur planwirtschaftlichen Praxis der unmittelbaren Nachkriegszeit verstanden, lassen sich seine Ursprünge bis in die frühen dreißiger Jahre zurückverfolgen. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise waren einige Nationalökonomen zu dem Schluss gekommen, dass der Staat lenkend in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen müsse, um Zusammenbrüche dieser Art künftig zu vermeiden; allerdings sollten diese Eingriffe marktkonform sein, die freie Preisbildung als regulierendes Prinzip anerkennen und einen fairen Wettbewerb sichern helfen. An diese Überlegungen knüpften die Reformer des Jahres 1948 an: ”Nicht die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums einer vergangenen Ära, auch nicht das ,freie Spiel der Kräfte‘ und dergleichen Phrasen, […] sondern die sozial verpflichtete Marktwirtschaft, die das einzelne Individuum wieder zur Geltung kommen lässt, die den Wert der Persönlichkeit obenan stellt und der Leistung dann aber auch den verdienten Ertrag zugute kommen lässt, das ist die Marktwirtschaft moderner Prägung” - so umriss Erhard auf einem Parteikongress der CDU am 28. August 1948 sein Konzept.

Die von ihm geweckten Hoffnungen erfüllten sich jedoch zunächst nur teilweise: Das durch die Währungsreform stimulierte Wirtschaftswachstum verlangsamte sich bald wieder, während die Preise und insbesondere die Arbeitslosigkeit bedrohlich stiegen. Zwar kam diese Entwicklung keineswegs völlig unerwartet, aber Tempo und Ausmaß überraschten die Experten dennoch. Der Anstieg der Preise gerade von Konsumgütern resultierte nämlich nicht nur aus höheren Produktionskosten; vielmehr reagierten Hersteller und Einzelhandel auf den enormen Nachfrageüberhang unverzüglich mit Preiserhöhungen. Obwohl neben den laufenden Einkommen auch grosse Teile der auf das neue Geld umgestellten Ersparnisse für Gebrauchsgüter ausgegeben wurden, konnte die Masse der Arbeitnehmer, deren Löhne und Gehälter zunächst eingefroren blieben, mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten, während ein kleiner, dafür um so zahlungskräftigerer Personenkreis die Preise noch zusätzlich in die Höhe trieb.

Die steigenden Lebenshaltungskosten und die wachsende Kluft zwischen Durchschnitts- und Spitzeneinkommen ließen Zweifel und Kritik an der neuen Wirtschaftsordnung aufkommen, die

in der Bizone Mitte November 1948 in einen eintägigen Generalstreik mündeten. Unterdessen war der noch aus der Zeit des Dritten Reiches stammende Lohnstopp aufgehoben worden, und im Dezember begannen die Preise nicht zuletzt dank einer die Geldmenge und die Kreditmöglichkeiten einschränkenden Politik der Bank Deutscher Länder, der Vorgängerin der heutigen Deutschen Bundesbank, zu sinken. Während die Gefahr einer Inflation damit abgewehrt war, wuchs die Zahl der Arbeitslosen unaufhörlich weiter.

Krisensymptome

Zwischen Juni und Dezember 1948 waren bereits 370000 Arbeitsplätze verlorengegangen, aber gleichzeitig 600000 neue in expandierenden Branchen entstanden; die Arbeitslosenquote betrug knapp über fünf Prozent. 1949 kehrte sich das Verhältnis mit einem Verlust von insgesamt 150000 Stellen um: Damit stieg die Arbeitslosenquote bei einer Beschäftigungszahl von etwa 13,5 Millionen auf über zehn Prozent Ende des Jahres und 12,2 Prozent im März 1950. Dass es für diesen Anstieg auf zwei Millionen Erwerbslose plausible Erklärungen gab - eine durch den ineffizienten Einsatz von Arbeitskräften verdeckte Arbeitslosigkeit zum Zeitpunkt der Währungsreform, einen starken Zustrom von Flüchtlingen und Heimat-
vertriebenen, einen unflexiblen Arbeitsmarkt - machte die Sorgen der Bundesregierung und der Alliierten Hohen Kommission nicht kleiner.

Vor allem die Amerikaner, die verständlicherweise ihre Marshallplangelder nicht vergeudet sehen wollten, riefen nach beschäftigungsfördernden Gegenmaßnahmen. Ihre Unruhe wuchs noch, als die wirtschaftliche Stabilisierung im Gefolge des Korea-Krieges durch Engpässe bei der Kohleversorgung und ein wachsendes Zahlungsbilanzdefizit zusätzlich bedroht wurde. Um dieser Gefahr entgegenzutreten, forderten sie, ausnahmsweise im Einklang mit der sozialdemokratischen Opposition, eine wirtschaftspolitische Kurskorrektur: die Rückkehr zu staatlicher Bewirtschaftung und Lenkung, Preiskontrollen und einen Prioritätenkatalog für ”lebenswichtige” Importe, also eine ”bedeutsame Modifizierung der Sozialen Marktwirtschaft”, wie der amerikanische Hohe Kommissar im Frühjahr 1951 dem Bundeskanzler schrieb. Auf Drängen Adenauers gab Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard diesem Druck nach - allerdings in eher bescheidenem Umfang.

Zu den strategisch wichtigen Rohstoffen zählte damals noch die Kohle, unverzichtbar für die Energiegewinnung ebenso wie für die Stahlerzeugung und in der Bundesrepublik in großen Mengen vorhanden. Die Lenkung des Kohleverbrauchs überließ der Bundeswirt-
schaftsminister mangels geeigneter staatlicher Instrumente und aus

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ordnungspolitischer Überzeugung der mit Unternehmern und Gewerkschaftern paritätisch besetzten Treuhandorganisation des westdeutschen Kohlenbergbaus und den Industrieverbänden. Sie lösten die Aufgabe, indem sie den einzelnen Branchen die verfügbare Menge an Kohlen nach bestimmten Dringlichkeitsstufen zuteilten, ohne jedoch den amerikanischen Wünschen nach einer rigiden Bewirtschaftung nachzukommen.

Die Überwindung der Zahlungsbilanzkrise stellte Erhards Wirtschaftspolitik auf eine härtere Probe. Auslöser der Krise waren ein rasanter Anstieg immer teurer werdender Rohstoff- und Nahrungsmittelimporte und die gleichzeitige Liberalisierung des Außenhandels im Rahmen der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (Organization for European Economic Cooperation: OEEC), der Westdeutschland, zunächst vertreten durch die Militärregierungen, seit ihrer Gründung im April 1948 angehörte. Unter dem Dach der OEEC war Mitte 1950 zur multilateralen Verrechnung der Überschüsse und Defizite im Handel mit den Mitgliedsländern die Europäische Zahlungsunion (EZU) gegründet worden, die auch längerfristige Kredite gewährte, um einem Land trotz eines akuten Defizits weitere Einfuhren zu ermöglichen. Als die Bundesrepublik diesen Kreditrahmen zu überschreiten drohte, setzte die Regierung die Handelsliberalisierung widerstrebend außer Kraft, um durch Importbeschränkungen, exportfördernde Maßnahmen und eine nachfragedämpfende Erschwerung der Kreditaufnahme Ein- und Ausfuhren wieder ins Gleichgewicht bringen zu können.

ABM

Im Widerspruch zur liberalen Wirtschaftskonzeption standen schließlich neben einem Paket von Arbeits-
beschaffungsmaßnahmen auch die wiederum von den Unternehmerverbänden in eigener Regie vorgenommene, vom Gesetzgeber mit Steuervergünstigungen honorierte Investitionslenkung zugunsten der Kohle-
und Stahlindustrie, der Energie- und Wasserwirtschaft und der Bundesbahn. Die rechtliche Grundlage dieser Aktion bildete das Investitionshilfegesetz vom Januar 1952, das die gewerblichen Unternehmen dazu verpflichtete, insgesamt eine Milliarde DM zur Deckung des Investitionsbedarfs der Grundindustrien aufzubringen. Zu dieser ungewöhnlichen Maßnahme hatten sich die Spitzenverbände der Industrie entschlossen, nachdem deutlich geworden war, dass die Unternehmen der betreffenden Wirtschafts-
zweige aus eigener Kraft nicht in der Lage und die anderen Branchen freiwillig nicht bereit waren, die dringend erforderlichen Investitionen zu finanzieren. Im Grunde

bedeutete dies eine Ausschaltung der nach der Verfassung für die Wirtschaftspolitik zuständigen Bundesregierung, zumal die Verbände die staatliche Entscheidung nicht nur beeinflusst, sondern selbst formuliert hatten.

Zweifellos konnten insbesondere die Unternehmerverbände - der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) - in den krisenhaften Anfangsjahren der Bundesrepublik ihren Einfluss zu Lasten der Regierung vergrößern - allerdings nur vorübergehend: Die Entspannung auf den internationalen Rohstoffmärkten, die Normalisierung des westdeutschen Kapitalmarkts, der Umschwung in der Zahlungsbilanz und der wachstumsbedingte Rückgang der Arbeitslosigkeit regenerierten und rehabilitierten Erhards Soziale Marktwirtschaft. Deren konstitutive Elemente waren eine liberale, wettbewerblich ausgerichtete Ordnung, soziale Sicherheit und wirtschaftspolitische Gewaltenteilung. Zum Schutz dieser Grundpfeiler bedurfte es eines ”starken” Staates, der eingriff, wenn ihnen Gefahr drohte.

Sozialer Frieden

Zwei wichtige Voraussetzungen für die wirtschaftliche Stabilisierung und den folgenden Aufschwung verdienen noch erwähnt zu werden: die Anfänge der Sozialpartner-
schaft und die innere und äußere Bereinigung der Kriegsfolgen. Um die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen zu schaffen, waren allerdings heftige Auseinandersetzungen vonnöten.

Im Zeichen des Booms bedingten sich wirtschaftliche Prosperität und sozialer Frieden wechselseitig. Während einer Aufschwung-
phase hätten störende Einflüsse wie zum Beispiel Arbeitskämpfe jedoch leicht den Aufwärtstrend verzögern oder stoppen können. Dass in der Bundesrepublik dergleichen nicht passierte, war nicht zuletzt der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Unternehmen der beiden Schlüsselindustrien Kohle und Stahl zu verdanken. Die britische Militärregierung hatte diese Form kooperativer Betriebsleitung 1947 im Zuge der Entflechtung der großen, kaum zu kontrollierenden Stahlkonzerne gegen starke Widerstände seitens der betroffenen Besitzer und Manager durchgesetzt.

Als nach der Gründung der Bundesrepublik im Herbst 1949 Forderungen nach einer bundeseinheitlichen, branchenübergreifenden Regelung laut wurden, versuchten die Unternehmer, ihre betriebliche

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Entscheidungsfreiheit wiederherzustellen bzw. zu verteidigen. Die Gewerkschaften, die ursprünglich wesentlich weiter gehende Ziele verfolgt hatten, bestanden dagegen auf der gleichberechtigten Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft in den Aufsichts- und Verwaltungsgremien insbesondere der Großindustrie ”in allen personellen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen”. Am Ende stand ein Kompromiss: Das im Mai 1951 nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften verabschiedete Mitbestimmungsgesetz blieb zwar auf die Montanindustrie beschränkt, garantierte aber die Parität im Aufsichtsrat - nur bei Stimmengleichheit fiel dem elften, ”neutralen” Mitglied die Rolle des ”Züngleins an der Waage” zu - und einen für die sozialen Belange der Betriebsangehörigen zuständigen ”Arbeitsdirektor” im Vorstand von Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten.

Dagegen bescherte das für die übrigen Industriezweige geltende Betriebsverfassungsgesetz vom Oktober 1952 den Arbeitnehmervertretern lediglich in personal- und sozialpolitischen Fragen - beispielsweise bei der Regelung der Arbeitszeit, bei Einstellungen und Entlassungen oder der Einführung neuer Techniken - gewisse Mitwirkungsrechte und blieb damit deutlich hinter den Erwartungen der Gewerkschaften zurück.

Beide Gesetze bildeten dennoch die Basis für jene partnerschaftliche Form der Konfliktregulierung, die für das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik seither charakteristisch war und die sich deutlich von den auf Konflikt und Konfrontation, auf Arbeitskämpfe anstelle von Verhandlungen angelegten Sozialbeziehungen in Frankreich oder Großbritannien unterschied.

Dem sozialen Frieden diente auch das Lastenausgleichsgesetz von 1952, das ursprünglich zusammen mit der Währungsreform hatte in Kraft treten sollen. Mit ihm wurde der Versuch unternommen, die Unterschiede in der Belastung der Bevölkerung durch Kriegsschäden und Besitzverluste wenigstens teilweise auszugleichen. Dies geschah mit Hilfe individueller, in Raten zu entrichtender Abgaben auf land- und forstwirtschaftliches Vermögen, Grundbesitz, Betriebs- und sonstiges Eigentum, die sich bis 1989 auf über 130 Milliarden DM summierten. Dieses Geld kam den Anspruchsberechtigten - vor allem Vertriebenen, Kriegssach- und Währungsgeschädigten - in Form von Entschädigungen, Renten, Darlehen oder Ausbildungsbeihilfen zugute. Obwohl das Ziel, ein tatsächlicher Ausgleich der Lasten, letztlich verfehlt wurde, da die Leistungsempfänger günstigstenfalls eine Entschädigung in Höhe

von 30 Prozent ihres ehemaligen Besitzes erhielten, während die effektive Belastung der abgabepflichtigen Vermögen zehn Prozent kaum überschritt, trug das Gesetz als Geste des guten Willens zur sozialen Integration der Nachkriegsgesellschaft bei.

Internationale Kreditwürdigkeit

Um der Bundesrepublik den Weg in die westliche Staatengemeinschaft zu ebnen und die deutsche Kreditwürdigkeit wiederherzustellen, mussten schließlich noch die finanziellen Ansprüche insbesondere der Westmächte befriedigt werden. Im Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 akzeptierte die Bundesregierung deutsche Vor- und Nachkriegsschulden in Höhe von 14,5 Milliarden DM, rückzahlbar in jährlichen Raten von zunächst 567, dann 765 Millionen DM. Auf diese Weise gelang es, Vertrauen zurückzugewinnen, neue Kapitalmärkte zu erschließen und den Handelsverkehr zu erleichtern.

In diesem Sinne wirkte auch, von den wichtigeren moralisch-politischen Aspekten einmal abgesehen, das im September 1952 abgeschlossene Wiedergutmachungsabkommen mit Israel und der Claims Conference, einem Dachverband jüdischer Organisationen, über eine Summe von zusammen 3,45 Milliarden DM; die Zahlungen sollten überwiegend in Form von Waren aus deutscher Produktion erfolgen. Mit dem Abschluss der beiden Verträge signalisierte die Bundesregierung ihre Bereitschaft, für die Handlungen ihrer Rechtsvorgänger einzustehen; dass sie zugleich zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil gereichten, war ein willkommener Nebeneffekt.

Wirtschaftswunder

Der Durchbruch zum ”selbsttragenden” Wachstum gelang in der ersten Hälfte des Jahres 1952. Charakteristisch für das folgende Jahrzehnt waren außergewöhnliche Steigerungsraten des Bruttosozialprodukts und des Außenhandels - Erfolge, die im In- und Ausland bald als ”Wirtschaftswunder” apostrophiert wurden. Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard mochte diesen Begriff freilich nicht, war er doch geeignet, die eigentlichen Ursachen des Aufschwungs - dazu zählte für ihn auch sein Wirtschaftsprogramm - zu verschleiern.

Wachstum

Zwischen 1950 und 1960 stieg der Index des Bruttosozialprodukts von 100 auf 215; in Preisen von 1954 ausgedrückt, bedeutete dies

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einen Anstieg von 113 auf 235 Milliarden DM. Die jährlichen Steigerungsraten betrugen durchschnittlich 7,6 Prozent; ein Rekordergebnis mit 11,5 Prozent wurde 1955 erreicht. Im selben Zeitraum wuchs die Industrieproduktion um 149 Prozent, die für den Export wichtige Investitionsgüterindustrie verzeichnete sogar einen Zuwachs von über 220 Prozent. Die Investitionen stiegen von 1952 bis 1960 um 120 Prozent. Der Wert der Aus- und Einfuhren verdoppelte sich von 17 auf 37 bzw. 16 auf 31 Milliarden DM.

Dieses außergewöhnliche Wachstum lässt sich folgendermaßen erklären: Die Währungs- und Wirtschaftsreform hatte ihm den Boden bereitet, die Exporterfolge aufgrund des internationalen Korea-Booms gaben ihm die wesentlichen Impulse, und die Investitionen verliehen ihm Beständigkeit. Dass die Bundesrepublik die Chance, welche der Export Anfang der fünfziger Jahre bot, auch tatsächlich nutzen konnte, verdankte sie ihrer auf die spezifischen Weltmarktbedürfnisse zugeschnittenen Industriestruktur, den großen Kapazitätsreserven sowie der großen Zahl hochqualifizierter und hochmotivierter Arbeitskräfte.

Zusätzlich profitierte die westdeutsche Industrie davon, dass die westlichen Länder während des Korea-Krieges ihre Rüstungsproduktion auf Kosten des zivilen Sektors ausbauten. Da der Wiedereinstieg in das Rüstungsgeschäft durch alliierte Verbote zunächst blockiert war, konnten sich die westdeutschen Unternehmen darauf konzentrieren, die Auslandsnachfrage nach Investitions- und Konsumgütern zu befriedigen. Ihre Produkte waren aber auch deshalb attraktiv, weil sie nicht in - überall in Westeuropa knappen - Dollars bezahlt werden mussten. So wuchs das Ausfuhrvolumen beispielsweise nach Frankreich zwischen 1952 und 1958 von 1 auf 2,1 Milliarden und nach Großbritannien von 900 Millionen auf 1,4 Milliarden DM.

Strukturwandel

Der Boom war verbunden mit Verschiebungen zwischen den und innerhalb der einzelnen Wirtschaftssektoren. Gewinnerin der Umschichtungen war die Industrie, die große Verliererin die Landwirtschaft. Dieser Strukturwandel lässt sich anhand mehrerer Indikatoren verdeutlichen: Während der Anteil der Landwirtschaft an der Beschäftigung von 24 auf 14 Prozent sank, verbesserte sich die Industrie von 43 auf 48 Prozent und der Dienstleistungssektor von 33 auf 38 Prozent. Noch deutlicher wird die Dominanz der Industrie, vergleicht man die Produktionsentwicklung. Hier verzeichnete die Industrie zwischen 1950 und 1963 einen

Zuwachs von 185 Prozent, Handel und Verkehr brachten es immerhin auf 126 Prozent, während die Landwirtschaft mit lediglich 43 Prozent klar zurücklag. Damit konnte die Industrie ihren Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 47,3 im Jahr 1950 auf 55,6 im Jahr 1960 erhöhen; insbesondere die verarbeitenden Sparten - an der Spitze die Chemieindustrie, der Maschinenbau, die Automobilindustrie und die Elektrotechnik - avancierten nach Bedeutung und Wachstumstempo zum ”Motor der Expansion” (Gerold Ambrosius) der westdeutschen Wirtschaft. Das ”Wirtschaftswunder” war in der Bundesrepublik also in erster Linie ein ”Industriewunder”.

Das dynamische Wachstum des industriellen Sektors blieb verständlicherweise nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis der einzelnen Branchen zueinander. Erwirtschafteten die vier Bereiche Bergbau und Nahrungsmittel, Grundstoff- und Produktionsgüter, Investitionsgüter und Konsumgüter 1950 jeweils etwa ein Viertel der Gesamtproduktion, kamen die Produktions- und die Investitionsgüterindustrien zehn Jahre später mit 29 bzw. 34 Prozent zusammen auf einen Anteil von fast zwei Dritteln. Überdurchschnittlich wuchsen die besonders innovationsfreudigen Branchen: die kunststoffverarbeitende Industrie, die Automobilindustrie, die Mineralölverarbeitung, die elektrotechnische und die chemische Industrie, der Fahrzeug- und der Maschinenbau. Fundierte Berechnungen haben ergeben, dass sich das Wachstum in den fünfziger Jahren etwa zur Hälfte auf technische und organisatorische Fortschritte zurückführen lässt.

Im Zeichen eines expansiven wirtschaftlichen Wiederaufbaus hingen Produktion und Beschäftigung noch eng zusammen: So stieg die Zahl der Arbeitsplätze im Maschinenbau und in der elektrotechnischen Industrie zwischen 1950 und 1960 jeweils um fast eine halbe Million; prozentual lag die kunststoffverarbeitende Industrie mit einem Zuwachs von 285 Prozent hingegen einsam an der Spitze vor der elektrotechnischen Industrie mit 173 und dem Maschinen- sowie dem Fahrzeugbau mit jeweils etwa 100 Prozent.

Technischer Fortschritt

Verglichen mit dem stürmischen Wirtschaftswachstum verlief die technologische Entwicklung unspektakulär. Technischer Fortschritt erschöpft sich nicht allein in der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien, sondern schließt auch die Verbesserung erprobter Produkte oder Verfahren und neue Kombinationen älteren Wissens ein. Charakteristisch für die westdeutsche Entwicklung in diesem Zeitraum

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waren technisch anspruchsvolle Produkte von hoher Qualität und langer Lebensdauer. Angesichts der bemerkenswerten Exporterfolge fehlten die erforderlichen Impulse zu einer Kurskorrektur, die notwendig gewesen wäre, um in zukunftsträchtigen High-Tech-Sparten wie der Datenverarbeitung einen Spitzenplatz und damit neue Märkte zu erobern; überdies scheiterten deutsche Ingenieure und Unternehmer bei dem Versuch, in Spitzentechnologiesektoren Fuß zu fassen, zweimal: in der Luftfahrt mit einem Senkrechtstarter und in der Kernenergie mit dem Schwerwasserreaktor. Anders als in der Zeit nach der Ölkrise konzentrierte man sich noch ganz auf energie-, rohstoff- und kapitalintensive Technologien, ”Produktinnovationen” rangierten deutlich vor ”Prozessinnovationen”, das heißt vor der Entwicklung neuer, kostensparender Herstellungsverfahren.

Für einen gewissen Umschwung sorgte erst der ”Sputnik-Schock” von 1957. Mit dem erfolgreichen Einstieg in die unbemannte Raumfahrt zerstörte die Sowjetunion auf einen Schlag das in der westlichen Welt verbreitete Gefühl der eigenen technischen Überlegenheit. Schlagartig geriet der Rückstand in der deutschen Hochtechnologie ins öffentliche Bewusstsein der Deutschen. Die Ausgaben der Privatwirtschaft für Forschung und Entwicklung (FuE) stiegen von 200 Millionen DM (1950) über 600 Millionen (1955) auf 1,6 Milliarden DM (1960); die öffentlichen Aufwendungen erreichten ungefähr die gleiche Höhe. Bereits zuvor hatte die Gründung des Ministeriums für Atomfragen im Jahr 1955 den Beginn einer gezielten staatlichen Technologiepolitik markiert; Förderschwerpunkte waren neben der Kernenergie die Luftfahrt- und Weltraumtechnologie. Ungeachtet dieses privaten und staatlichen Engagements herrschte in der westdeutschen Industrie bemerkenswerterweise kein Konsens über die Notwendigkeit verstärkter FuE-Aktivitäten, von dem Bereich der Reaktortechnologie einmal abgesehen.

Wirtschaftsordnung

Wichtigste Voraussetzung einer marktwirtschaftlich-sozialstaatlichen Ordnung war nach Ansicht Ludwig Erhards und seiner Anhänger ein funktionierender Leistungswettbewerb, der andere als marktkonforme oder aus sozialen Gründen gebotene staatliche Eingriffe ebenso ausschloss wie privatwirtschaftlichen Dirigismus. Unmittelbar nach der Amtsübernahme ging Bundeswirt-
schaftsminister Erhard deshalb daran, dafür den gesetzlichen Rahmen zu schaffen.

Der Streit mit der Industrie um eine Anti-

Kartell-Gesetzgebung konzentrierte sich bald auf die Frage, ob ein prinzipielles Kartellverbot angestrebt werden sollte oder lediglich, wie die Industrie wünschte, eine Missbrauchsregelung für den Fall, dass Kartelle sich nicht an die gesetzlichen Vorschriften hielten oder den Wettbewerb völlig unterbanden.

Wegen des anhaltenden Streits zwischen Erhard und der Industrie konnte das ”Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen” erst 1957 im Bundestag verabschiedet werden. Ungeachtet eines generellen Kartellverbots wurden zahlreiche Ausnahmen erlaubt: Konditionen-, Strukturkrisen-, Rationalisierungs-, Export- und Importkartelle; alle anderen Kartelle bedurften der Genehmigung des Wirtschaftsministers. Beide Seiten hatten also Abstriche hinnehmen müssen.

Aufgrund seines Kompromisscharakters und weil es keine Handhabe gegen Unternehmenszusammenschlüsse bot, vermochte das Kartellgesetz den in den sechziger Jahren einsetzenden Rekonzentrationsprozess nicht nennenswert zu stören. Dass die westdeutsche Industrie in den folgenden Jahrzehnten dennoch wettbewerblich organisiert und damit im großen und ganzen auch wettbewerbsfähig blieb, war eher dem internationalen Konkurrenzdruck zu verdanken. Obgleich die Rede vom ”Grundgesetz” der Sozialen Marktwirtschaft vor diesem Hintergrund übertrieben erscheint, dürfte die langanhaltende öffentliche Debatte das ordnungspolitische Selbstverständnis der Bundesrepublik entscheidend geprägt haben.

Durchschnittliche Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts von annähernd acht Prozent könnten den Eindruck einer wirtschaftlichen Dynamik entstehen lassen, die keinerlei steuernder Eingriffe bedurft hätte. Konjunkturfördernde Maßnahmen waren in den fünfziger Jahren in der Tat kaum erforderlich, konjunkturdämpfende allerdings sehr wohl: Die große Herausforderung bestand in der ”Meisterung der Hochkonjunktur”, wollte man den gewohnten, große wirtschaftliche und soziale Probleme erzeugenden Zyklus von Boom, Abschwung, Krise und Aufschwung endlich überwinden.
Der Bundeswirtschaftsminister suchte dieser Aufgabe in Zusammenarbeit mit der Bank deutscher Länder bzw. der Bundesbank durch eine Kombination steuer-, kredit- und geldpolitischer Maßnahmen gerecht zu werden.

Flankiert wurden die Aktivitäten durch die berühmten Erhardschen ”Maßhalteappelle”. Von den Gewerkschaften forderte er Zurückhaltung bei den Löhnen, von den Unternehmern bei den Preisen, von den Verbrauchern beim Konsum. Zweimal, 1956

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und 1961, waren diese Versuche einer ”antizyklischen” Konjunkturpolitik ”mit erhobenem Zeigefinger” erfolgreich. Dennoch blieb Erhard, seinem demonstrativ zur Schau getragenen Optimismus zum Trotz, besorgt, dass im ”gleichen Maße, in dem durch die Mehrung des Wohlstands die soziale Sicherheit aus eigener Kraft sich verbessert und die Gleichförmigkeit einer nicht mehr von Risiken bedrohten, ständigen wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung das Gespenst sozialer Notstände gebannt hat, der Schrei nach immer mehr kollektiver Sicherheit nur immer lauter erschallt.”

Europäische und weltwirtschaftliche Integration

Zum Abschluss dieses Kapitels soll noch der Anteil der internationalen Zusammenarbeit am ”Wirtschaftswunder” in der Bundesrepublik Deutschland untersucht werden. Obwohl eine exakte Quantifizierung nicht möglich ist, kann doch kein Zweifel bestehen, dass ohne die Bereitschaft der Vereinigten Staaten und der westeuropäischen Staaten, dem einstigen Kriegsgegner zu helfen, ein Aufschwung in diesem Ausmaß und in diesem Tempo kaum denkbar gewesen wäre.

Die Wiederaufbauhilfe setzte ein mit dem vom damaligen amerikanischen Außenminister George Marshall initiierten European Recovery Program, einem Hilfsprogramm für Europa. Aus diesem Programm erhielt Westdeutschland zwischen 1948 und 1952 insgesamt 1,4 Milliarden Dollar, entsprechend 10 Prozent des Gesamtvolumens. Dieser Beitrag wurde für Einkäufe in den USA - hauptsächlich Nahrungs- und Futtermittel sowie Industrierohstoffe - verwendet; 1949 wurden auf diese Weise über ein Drittel, 1950 immerhin noch fast ein Fünftel aller westdeutschen Importe finanziert. Noch wichtiger dürfte indes der psychologische Effekt der nach ihrem Initiator benannten Marshallhilfe gewesen sein, vermittelte sie den Westdeutschen doch erstmals nach Kriegsende die Gewissheit, zum ”Westen” zu gehören.

Der Beitrag der OEEC, die ursprünglich gegründet worden war, um die Verteilung der Marshallplanmittel zu regeln, bestand vor allem darin, dass sie die koordinierte Befreiung des Handels von Mengenbeschränkungen und, mit Hilfe der unter ihrem Dach operierenden Europäischen Zahlungsunion, die gemeinsame Abwicklung des Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedsländern erlaubte: Hatte bis zu diesem Zeitpunkt jeder Staat auf eine ausgeglichene Zahlungsbilanz mit jedem seiner Handelspartner geachtet, war es nun möglich, sämtliche Schulden und Guthaben innerhalb der EZU gegeneinander zu verrechnen.

Für eine Wiederbelebung des Handelsverkehrs in Westeuropa war dies unerlässlich, und die Bundesrepublik, die vom Außenhandel abhängig war, profitierte davon: 1950 kamen 52,4 Prozent der Importe aus Westeuropa, 1960 waren es 54 Prozent; die Zahlen für die Exporte - 72 bzw. 63,5 Prozent - unterstreichen die Bedeutung des westeuropäischen Marktes sogar noch eindrucksvoller. Obwohl diese Orientierung langfristig auch Nachteile in sich barg, weil sie das Engagement auf anderen wichtigen Märkten bremste, war sie für die Rückkehr Westdeutschlands in den Kreis der Wirtschaftsmächte lebenswichtig. Nicht vergessen werden darf ferner, dass die bereits erwähnte Zahlungsbilanzkrise von 1950/51 nur dank der Hilfe der EZU so rasch überwunden werden konnte.

War die OEEC erfolgreich bemüht, die Kooperation auf dem Gebiet des Handels- und Zahlungsverkehrs zu intensivieren, wurde 1952 mit dem Inkrafttreten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ein anderer Weg eingeschlagen: die supranationale Lenkung der Montanindustrien Frankreichs, Westdeutschlands, Italiens und der Benelux-Staaten durch eine ”Hohe Behörde”, an die jedes Mitgliedsland bestimmte wirtschaftspolitische Kompetenzen abtrat. Die EGKS sollte ”die rationellste Verteilung der Erzeugung auf dem höchsten Leistungsstande sichern”, wie es im Vertrag hieß, und auf diese Weise zur Ausweitung der Wirtschaft, zur Steigerung der Beschäftigung und zur Erhöhung des Lebensstandards beitragen. Obwohl ihre Effekte auf die Produktion kaum exakt zu quantifizieren sind, lässt sich doch feststellen, dass Westdeutschland seinen Anteil an der Steinkohlen- bzw. an der Rohstahlerzeugung Westeuropas zwischen 1948 und 1957 von 22 auf 28 bzw. von 14,6 auf 29,8 Prozent steigern konnte. Diese Zahlen blieben zwar deutlich hinter denen von 1937 - 35,6 bzw. 40,2 Prozent - zurück, doch wären ohne die EGKS und die damit verbundene Aufhebung der alliierten Restriktionen für die Stahlproduktion mit Sicherheit nicht einmal diese Marken in so kurzer Zeit erreicht worden.

Die Integration der sechs EGKS-Staaten wurde mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) fortgesetzt. 1957 wurden in Rom die Gründungsverträge (Römische Verträge) unterzeichnet. Im Januar 1958 traten sie in Kraft. Die EWG, die wichtigere der beiden Organisationen, erstreckte sich im Gegensatz zur EGKS auf alle Wirtschaftsbereiche, doch fehlten ihr deren ausgeprägt supranationale Entscheidungsstrukturen. Ihre Hauptziele waren der Abbau aller Hindernisse für den

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internen Waren- und Dienstleistungsverkehr, Freizügigkeit für Kapital und Arbeit, ein gemeinsamer Agrarmarkt, ein gemeinsamer Außenzoll sowie eine teilweise Harmonisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Teilnehmerländer. Dass es der Bundesregierung weitgehend gelang, die EWG nach ihren marktwirtschaftlichen, freihändlerischen Vorstellungen zu gestalten, spiegelte den in den fünfziger Jahren ständig wachsenden deutschen Einfluss in Westeuropa wider und war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Liberalisierungspolitik in der EWG fortgesetzt werden konnte. Die Folge war ein beschleunigtes Wachstum des Handels innerhalb der Gemeinschaft. So stieg beispielsweise der Anteil der EWG-Länder am westdeutschen Export kontinuierlich von 27 auf über 40 Prozent.

Weltmarkt und Konvertibilität

Die Konzentration des Handelsaustauschs auf Westeuropa im allgemeinen, auf die EWG im besonderen stand in einem gewissen Gegensatz zur offiziellen Parole von der ”Rückkehr zum Weltmarkt”, so der Titel eines 1953 erschienenen Buches von Ludwig Erhard. Zwar rückte die Bundesrepublik Mitte der fünfziger Jahre auf den dritten Rang unter den Welthandelsnationen vor, zog 1958 mit Großbritannien gleich und belegte 1960 bereits den zweiten Platz hinter den USA; von einer gleichmäßigen Präsenz auf den Weltmärkten konnte dennoch keine Rede sein. Die Rückkehr auf den nordamerikanischen Markt, dessen Anteil am deutschen Export allerdings traditionellerweise niedrig war und 1960 gerade neun Prozent betrug, ging nämlich sehr langsam vonstatten; auch der frühere Anteil Lateinamerikas, Asiens und Afrikas wurde bis 1960 nicht ganz erreicht.

Der eigentliche Einbruch gegenüber der Vorkriegszeit erfolgte jedoch im Austausch mit Osteuropa. Hatte Deutschland 1937 noch 17 Prozent der Ein- und 16 Prozent der Ausfuhren mit Osteuropa abgewickelt, waren es 1960 nur noch jeweils vier Prozent. Dafür waren freilich weder das Versagen der westdeutschen Exporteure noch Qualitätsmängel verantwortlich, sondern vor allem politische Gründe: der Ost-West-Konflikt und die von den USA durchgesetzten Handelsrestriktionen gegenüber dem Ostblock. Immerhin konnte die Bundesrepublik den generellen Aufschwung im Osthandel zwischen 1953 und 1958 am besten nutzen. Ab 1957 übernahm die Bundesrepublik die Spitzenposition. Ermöglicht wurde dieser Erfolg hauptsächlich durch die auf den Investitionsgüterbedarf der dortigen Kunden zugeschnittene Produktpalette der westdeutschen Industrie.

Besondere Bedingungen galten für die

innerdeutschen Wirtschaftsbeziehungen, die 1951 vertraglich geregelt wurden. Zum einen erstreckte sich das ”Interzonenhandelsabkommen” (Berliner Abkommen) nicht auf Staaten (da seitens der Bundesrepublik Deutschland die DDR nicht als fremdes Wirtschaftsgebiet galt), sondern auf die beiden Währungsgebiete DM-West und Mark-Ost. Zum anderen sah es ausschließlich bilaterale Handelsbeziehungen vor, die mittels einer Verrechnungseinheit abgewickelt werden mussten; schließlich sollte ein zinsloser Überziehungskredit (Swing) in Höhe von 200 Millionen Verrechnungseinheiten, der allerdings fast ausnahmslos von der DDR in Anspruch genommen wurde, für einen permanenten Ausgleich der Salden sorgen. Der Handel mit der DDR unterlag den gleichen Embargorichtlinien wie der Osthandel insgesamt. Während er für die DDR mit einem Anteil von etwa 15 Prozent am gesamten Außenhandel von existentieller Bedeutung war, fiel er für die Bundesrepublik mit weniger als zwei Prozent ökonomisch kaum ins Gewicht.

Bis Anfang 1959 fehlte auch eine wichtige Voraussetzung eines ungehinderten, weltweiten Handels - die Konvertibilität der D-Mark. Die Möglichkeit eines uneingeschränkten Umtauschs einer Währung in ausländisches Geld oder in Gold ist bei ”normalen” internationalen Wirtschaftsbeziehungen nichts Besonderes. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren jedoch die meisten westeuropäischen Länder von der währungspolitischen Normalität weit entfernt. Der Handel erfolgte auf ”bilateraler” Basis, jede Seite erklärte sich bereit, die Währung des Partnerlandes zu einem festgelegten Wechselkurs und bis zu einer vereinbarten Höhe gegen eigene Währung anzukaufen; ergänzend wurden Abkommen über wechselseitig erwünschte Warenlieferungen getroffen. Auf Druck der USA, die möglichst schnell zum Freihandel zurückkehren wollten, hatte Großbritannien schon 1947 den Versuch gewagt, das Pfund Sterling gegenüber dem Dollar konvertibel zu machen - und war gescheitert. Erhard blieb davon jedoch unbeeindruckt; angesichts steigender Devisen- und Goldreserven der Bank Deutscher Länder, hoher Wachstumsraten und innerer Geldwertstabilität machte er sich zum unermüdlichen Fürsprecher einer raschen Rückkehr zur Konvertierbarkeit. Vor einem deutschen Alleingang schreckte er allerdings doch zurück, zumal zahlreiche Experten vor einem solchen Schritt warnten. So dauerte es bis Dezember 1958, ehe erneut Großbritannien die Initiative ergriff; die meisten anderen westeuropäischen Länder folgten umgehend.

Ganz ohne bestimmte Regeln und Institutionen, das lehrte die Erfahrung, waren ein freier Welthandel und geordnete internationale Währungsbeziehungen jedoch

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nicht zu verwirklichen. Die Bundesregierung trug dieser Einsicht Rechnung, indem sie den entsprechenden Organisationen beitrat: 1951 dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), 1952 dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Das GATT verpflichtete seine Mitglieder dazu, alle Partnerländer handelspolitisch gleich zu behandeln (Meistbegünstigung); der IWF bemühte sich um eine stabile Währungsordnung und um ein multilaterales, handelsförderndes Zahlungssystem. In beiden Institutionen spielte die Bundesrepublik dank ihrer liberalen Handelspolitik und ihrer stabilen Währung eine wichtige Rolle.

Bedeutung des Wirtschaftswunders

Alles in allem war die Boom-Phase, die ja noch bis Anfang der siebziger Jahre dauerte, eine Zeit grundlegender Weichenstellungen. Die Soziale Marktwirtschaft entwickelte sich vor allem dank wachsenden Wohlstands zur allseits anerkannten Wirtschaftsordnung, ein auf Konsens angelegtes Modell der sozialpolitischen Interessenregulierung setzte sich durch, die De-Agrarisierung erhielt einen kräftigen Schub, die Verflechtung der westeuropäischen Volkswirtschaften erreichte eine neue Intensität. Das ”Wunder” hatte aber auch seine Schattenseiten - es verdeckte wirtschaftsstrukturelle Fehlentwicklungen, insbesondere die ”Überindustrialisierung”, und förderte das Anspruchsdenken. Zu übertriebenem Stolz bestand ohnehin kein Anlass: Der Boom war das Ergebnis gemeinsamer, zielstrebiger Aufbauarbeit, aber vor allem auch ausländischer Hilfe - und ”glücklicher” Umstände.

Wirtschaftliche Entwicklung und Lebenslage in der DDR

In den Fünfzigern wurde auch in der DDR ein sehr hohes Wirtschaftswachstum erzielt. Der Umfang des produzierten Nationaleinkommens wuchs von 1950 bis 1960 auf das 2,5fache, dabei waren besonders zu Beginn der fünfziger Jahre die Zuwachsraten beachtlich. Eine vergleichbare Wachstumsdynamik vermochte die DDR in den darauffolgenden Jahrzehnten ihrer Existenz nicht mehr zu erreichen. Ähnlich wie im Westen Deutschlands war das hohe Wirtschaftswachstum nach Kriegsende maßgeblich eine Folge der gründlichen Ausschöpfung der vorhandenen industriellen Substanz (Rekonstruktionspotential), aber bei einer verhältnismäßig geringen Investitionsfähigkeit. Die von der Industrie in der Zeit vor 1945 erbrachten Modernisierungsleistungen wurden zur Behebung von Kapazitätsengpässen und zur Ausbeutung der wirtschaftlichen Reserven genutzt. Der Wirkungsgrad von Techniken und Technologien aus der Zeit zwischen den beiden

Weltkriegen konnte vielfach noch einmal erheblich gesteigert werden. Größere Neuerungsprozesse (Innovationen) blieben in der Wiederaufbauphase weitgehend aus. Etwa ab Mitte der fünfziger Jahre zeigte sich, dass die Möglichkeiten der verstärkten Auslastung der vorhandenen Industriekapazitäten ausgereizt waren. Das Wachstumstempo begann nachzulassen.

Hinter dem hohen Wirtschaftswachstum steckte zugleich der Versuch der SED-Führung, eine schnelle Industrialisierung nach sowjetischem Vorbild umzusetzen. Damit war eine Umstrukturierung der Wirtschaft zugunsten der Metallurgie und des Schwermaschinenbaus verbunden. Die ohnehin knappen Investitionen und Ressourcen flossen damit primär in den Neuaufbau nicht vorhandener oder nicht ausreichend entwickelter Zweige der Grundstoffindustrie.

Diese Bevorzugung verschärfte die bestehenden wirtschaftlichen Probleme, die durch Kriegszerstörungen, Demontageverluste und Reparationslieferungen aus der laufenden Produktion entstanden waren. Zusätzlich bewirkte der Kalte Krieg eine Abschottung gegenüber dem westlichen Markt, die Einbindung in den vergleichsweise industriell rückständigen osteuropäischen Wirtschaftsraum und Arbeitskräfteverluste durch die Westabwanderungen. Die Zerstörung eines organisch gewachsenen Systems der wirtschaftlichen Arbeitsteilung durch die deutsche Teilung und durch Gebietsabtrennungen spitzte die Lage noch weiter zu. Insofern muss die wirtschaftliche Rückständigkeit der DDR gegenüber der Bundesrepublik aus einer ganzen Kette sich gegenseitig verstärkender Faktoren interpretiert werden.

Generell stand die DDR-Wirtschaft in den fünfziger Jahren vor der schwierigen Situation, gleichzeitig drei Aufgaben von gleicher Dringlichkeit lösen zu müssen:

die Erhöhung des privaten Verbrauchs; den Ausbau und die Modernisierung der Infrastrukturen; die Absicherung der Investitionen in allen Industriebranchen.

Jede Bevorzugung musste angesichts der geringen Spielräume zur Vernachlässigung anderer Ziele führen und in angespannter Lage krisenhafte Wirkungen hervorrufen. Die Überforderung war damit programmiert und ernsthafte Wachstumseinbrüche erschütterten die DDR-Wirtschaft 1952/53, 1956 und 1960/61. Die unmittelbaren Ursachen für die Einbrüche 1952/53 und 1960/61 hingen wesentlich mit den Versuchen der SED-Führung zusammen, die Errichtung der neuen

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sozialistischen Eigentumsordnung zu beschleunigen. So wurde im Juli 1952 unter anderem die Kollektivierung der Landwirtschaft verkündet und 1958 die Überführung der letzten Einzelbauern in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) beschlossen. Der Wachstumseinbruch des Jahres 1956 hatte dagegen vor allem außenwirtschaftliche Gründe, da wichtige Rohstoff- und Warenlieferungen aus Polen und Ungarn aufgrund der Aufstände dort ausgeblieben waren. In der DDR führte die Einstellung der Lieferungen zu empfindlichen Störungen im Wirtschaftsleben.

Demontagen und Reparationen

Eine der tieferen Ursachen für die wirtschaftlichen Probleme muss in den Reparationsleistungen an die Sowjetunion (1945-1953) gesucht werden. Die SBZ/DDR erbrachte die höchsten im 20. Jahrhundert bekannt gewordenen Reparationsleistungen, nach neueren Berechnungen mindestens 14 Milliarden Dollar (in Preisen von 1938) inklusive Besatzungskosten. Im Vergleich zum Westen Deutschlands hatte der Osten zwar geringere Substanzverluste durch Kriegsschäden, doch die Verluste durch die sowjetischen Beuteaktionen, Demontagen und Reparationsleistungen lagen deutlich über denen der Bundesrepublik. Zwischen 1945 und 1948 entstanden infolge der sowjetischen Demontagen industrielle Strukturschäden, die besonders die spätere Wettbewerbsfähigkeit der DDR negativ beeinflussten. In der SBZ und in Ost-Berlin demontierte die sowjetische Besatzungsmacht mindestens 2000 bis 4000 Betriebe, mehr als die Hälfte davon vollständig. Als die Demontagen 1948 endeten, betrug die Gesamtkapazität der Industrie der SBZ nur noch schätzungsweise 50 bis 70 Prozent des Standes von 1936. Letztlich haben die Demontagen die industrielle Substanz stärker geschädigt als die eigentlichen Kriegszerstörungen.

Einzelne Wirtschaftsbereiche vermochten sich von den Demontagefolgen nicht vollständig zu erholen. Beispielsweise lag Mitte der fünfziger Jahre die Personenkraftwagen-Produktion bei nur etwa einem Drittel des Produktionsstandes von 1936. Spätere wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen der SED-Führung ruinierten die einstmals führende Automobilindustrie schließlich auf Dauer. Noch gravierender waren die Folgen für das Transportwesen der SBZ/DDR. Die Transportleistungen erreichten aufgrund der umfangreichen Demontage von Gleisanlagen (Abbau des zweiten Gleises), der Mitnahme von Lokomotiven und Waggons sowie dem Abbau moderner Bahneinrichtungen 1950 nur noch etwas mehr als die Hälfte der Transportleistungen des Jahres 1936.

Neben den Demontagen führten die Reparationsleistungen, die als laufende Abschöpfungen eines Teils der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion durch die Besatzungsmacht verstanden werden müssen, zu Verschiebungen des industriellen Strukturgefüges und zum Entzug von Investitionsgütern. Immerhin kamen 1949 drei Viertel aller Reparationslieferungen aus Betrieben des Maschinen- und Schwermaschinenbaus und des Schiffbaus, also aus Zweigen, die es im einstigen mitteldeutschen Raum nicht oder nur in geringem Umfang gegeben hatte.

Sowjetische AG

Eine zentrale Rolle in der Reparationsproduktion spielten die Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG). Formal lehnten sich diese an die aus dem deutschen Recht stammende Form der Aktiengesellschaften an, das heißt, es gab einen Vorstand, einen Aufsichtsrat, eine überwiegend nach deutschen Vorschriften arbeitende Buchhaltung und das Gesellschaftskapital wurde in Aktien aufgeteilt. Damit endete aber auch schon die Anlehnung an das deutsche Aktienrecht. Die SAG waren weder publikationspflichtig noch durfte ein Handel mit Aktien stattfinden. Sie waren fest in sowjetischer Hand und in die sowjetische Volkswirtschaft eingebunden. Zugleich kontrollierte die Sowjetunion mit den SAG die Schlüsselbereiche der SBZ/DDR-Wirtschaft. Durch die Überführung in sowjetisches Eigentum hatten die deutschen Finanz- und Wirtschaftsbehörden kaum Zugriffsmöglich-keiten. In der SBZ/DDR wurden diese Unternehmen in jeder Hinsicht begünstigt, sie hatten mehr Ressourcen zur Verfügung, konnten über lukrative Löhne Arbeitskräfte abwerben, erhielten finanzielle Stützungen aus dem Haushalt der SBZ/DDR und verfügten aufgrund der Reparationsforderungen über einen gesicherten Absatz.

Gegen Mitte 1947 gab es mehr als 200 SAG-Betriebe, deren Anteil an der industriellen Gesamtproduktion der SBZ/DDR zwischen 1947 und 1950 mehr als 30 Prozent betrug. Ihr Produktionsanteil an den Reparations-
leistungen lag 1947 bei 40 Prozent und erhöhte sich bis 1952 vorübergehend auf 78 Prozent. Mit dem 1. Januar 1954 galten die Reparationsleistungen offiziell als beendet. Damit waren, bis auf eine Ausnahme, auch alle ostdeutschen SAG-Betriebe wieder in DDR-Besitz.

Bei der Ausnahme handelte es sich um den Uranbergbau der Wismut AG in Sachsen und Thüringen, deren Produktion für die Sowjetunion bei der Absicherung ihrer

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Atomrüstung höchste strategische Priorität besaß. Zwischen 1946 und 1956 wurde die Wismut AG personell und materiell zu einem monopolartigen Unternehmen ausgebaut und nahm eine Sonderstellung in der SBZ/DDR ein. Bis 1956 unterstand die Wismut AG direkt dem sowjetischen Verteidigungsministerium. Zu diesem Zeitpunkt waren etwa 100000 Menschen im Uranbergbau tätig. Der sowjetische Einfluss blieb bis zum Ende der DDR bestimmend und die Wismut entwickelte sich zu einem der größten Uranproduzenten der Welt. Am Beispiel der Wismut wird deutlich, dass es nach der offiziellen Beendigung der Reparationen (1954) zu indirekten Reparationsleistungen kam. Von 1954 bis 1957 stellte beispielsweise die DDR in Form direkter und indirekter Ausgaben für den sowjetisch kontrollierten Uranbergbau der Wismut eine Summe von mehr als 1,5 Millionen Ost-Mark bereit, die der Volkswirtschaft verlorenging.

Industrielle Entwicklung ab 1955

Der industrielle Strukturwandel in Ost-Deutschland nach 1945 bewirkte eine Verschiebung der traditionellen, von Leichtmaschinenbau und Elektroindustrie geprägten Industriestruktur hin zur Metallurgie und zur Schwerindustrie. Bis 1955 galten Objekte der Schwerindustrie wie der Aufbau des Eisenhüttenkombinates Ost und des metallurgischen Produktionszentrums Calbe sowie der Ausbau der Stahlwerke Brandenburg, Hennigsdorf, Riesa, Gröditz und Freital als bevorzugte Investitionsprojekte der SED-Führung. Zugleich wurden 24 Betriebe des Schwermaschinenbaus ausgebaut.

Die anderen osteuropäischen Länder signalisierten aufgrund der dort parallel vorangetriebenen Industrialisierung nach sowjetischem Vorbild einen großen Bedarf an schwerindustriellen Ausrüstungen, die vor allem robust und technisch leicht zu handhaben sein sollten, so dass darüber hinaus kein Anreiz zu moderneren und auf dem westeuropäischen Markt absatzfähigeren Erzeugnissen gegeben war. Die großen Verlierer des Strukturwandels waren der Energiesektor, der Bergbau, die Textilbranche, verschiedene Bereiche der Konsumgüterindustrie, die polygraphische Industrie sowie die Sektoren Holz, Glas, Keramik, Zellstoff und Papier.

Die staatliche Investitionspolitik verschob ab Mitte der fünfziger Jahre diese Prioritäten, da der SED-Führung nicht verborgen geblieben war, dass die Konzentration der Ressourcen auf die Schwerindustrie die Leistungsfähigkeit anderer wichtiger Industriezweige beeinträchtigte und damit das

Wirtschaftswachstum insgesamt gefährdete. Durch den Strukturwandel waren besonders bei der Elektroenergieerzeugung Schwierigkeiten aufgetreten, die im Rahmen der sogenannten ”Kohle- und Energieprogramme” (1954-57 und 1957-60) behoben werden sollten. Gefördert wurden nunmehr auch Industriezweige wie der zivile Flugzeugbau (1954), der Leichtmaschinenbau und die chemische Industrie. Zugleich sollte die Nutzung der Kernenergie und die Automatisierung in der metallverarbeitenden Industrie vorangetrieben werden.

Von nicht unerheblichem Einfluss war hierbei, dass in den fünfziger Jahren in mehreren Wellen rund 3000 hochqualifizierte Fachleute auf den Gebieten der Kernphysik, Chemie, Optik, Elektrotechnik, Flugzeug- und Raketenentwicklung aus der Sowjetunion nach Deutschland zurückkehrten. Sie waren nach Kriegsende in die Sowjetunion verbracht worden, um dort vor allem an der Entwicklung militärischer Hochtechnologien zu arbeiten. Von ihnen versprach sich die SED-Führung die notwendigen innovationsfördernden Impulse bei der Errichtung einer modernen Industriestruktur. Zugleich sollte die Westabwanderung der wertvollen Rückkehrer verhindert werden, indem man versuchte, ihnen ein möglichst attraktives berufliches Betätigungsfeld anzubieten. Doch diese Rechnung ging vielfach nicht auf. Die Flugzeugindustrie wurde beispielsweise nach kaum siebenjähriger Existenz im Frühjahr 1961 wieder aufgelöst.
Da in der Kernenergie, der Flugzeugproduktion und der Automatisierung keine schnellen Erfolge zu erreichen waren, rückte die chemische Industrie in das Zentrum des staatlichen Interesses. 1958 wurde ein gewaltiges Chemieprogramm beschlossen, das der Bevölkerung ”Brot, Wohlstand und Schönheit” versprach. Dieses Programm war zugleich Kernstück des Siebenjahrplanes (1959-1965), mit dem der westdeutsche Lebensstandard in die Wohnungen und vor die Haustüren der DDR-Bürger gebracht werden sollte.

Bruttorechnung und administrative Preisbildung

Die SED-Führung verstand in den fünfziger Jahren das Wirtschaftswachstum als Wirtschaftsexpansion. Ende der vierziger Jahre wurde die in ihrer Tradition bis in das 19. Jahrhundert zurückreichende Nettorechnung der amtlichen deutschen Produktionsstatistik, die nur die tatsächlich von einem Betrieb erbrachten Leistungen (Wertschöpfung) erfasste, durch die sowjetische Bruttorechnung ersetzt. Bei dieser Erfassungsmethode konnte der Wert der Rohstoffe, Zwischenprodukte und

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des Zubehörs mehrmals gezählt werden, indem ”Produkte” in der Stufenfolge der Verarbeitung, Weitergabe und Verteilung so oft zur Verrechnung kamen, wie sie den Produktionsprozess durchliefen. Die unvollendete Produktion der einzelnen Betriebe wurde damit miteinbezogen und die Planerfüllung konnte verhältnismäßig einfach ”gehandhabt” werden. Hatte beispielsweise ein Betrieb die Auflage bekommen, Drehbänke im Umfang von 40000 Tonnen zu produzieren, so konnte der Betrieb diese Auflage durch die Produktion weniger, aber sehr schwerer Drehbänke erfüllen. Dagegen hätte eine Auflage in Stückzahlen dazu führen können, dass der Betrieb viele und möglichst leichte Drehbänke produzierte.

Die ”Tonnenideologie” brachte damit eine Unterbewertung der Qualität, Produktivität und Rentabilität mit sich. Real wurden so die Bruttosteigerungssätze in den fünfziger Jahren um etwa ein Drittel überhöht angezeigt, und die gesamtwirtschaftliche Rechnung beruhte auf einer unsicheren Grundlage, die sich deutlich in einer Scherenbildung zwischen Brutto- und Nettogröße offenbarte. Zusätzlich wurde das System durch die administrative Preisbildung meist willkürlichen Charakters negativ beeinflusst. Eine freie Preisbildung als ein zuverlässiger Knappheitsindikator und Vergleichsmaßstab blieb in der DDR ausgeschaltet. Es konnten sich dadurch nur schwer sinnvolle Orientierungsmarken für ökonomisch rationales Verhalten und intensives, ressourcensparendes Wachstum herausbilden.

In der Gesamtsicht erwies sich zwar das planwirtschaftliche System der fünfziger Jahre bei der Stimulierung des expansiven Wirtschaftswachstums recht erfolgreich; doch bei einem Umschalten auf intensives, das heißt ressourcensparendes Wachstum versagte es häufig. Die Betriebe und Ministerien schenkten dieser Seite des ökonomischen Handelns in den fünfziger Jahren wenig Beachtung, weil sie sich bei ihrer Berichterstattung auf die Planerfüllung in Form der Volumenabrechnung konzentrierten. Ein weiteres Dilemma zeigte sich darin, dass der Hauptteil des Gewinns an den Staatshaushalt abgeführt und der gesamte Bedarf wieder aus dem Staatshaushalt zugeteilt wurde. Dadurch fehlte die unmittelbare Abhängigkeit zwischen dem hergestellten Betriebsergebnis und den zur Verfügung stehenden Ressourcen. Wirksame Anreize zur Gewinnerwirtschaftung und Kostensenkung konnten sich deshalb nicht herausbilden. Insofern darf die Tendenz zur Produktion materialaufwendiger und qualitätsminderer Erzeugnisse nicht verwundern, da sich bei der Bruttorechnung die Zunahme der Materialkosten in einem höheren Gesamtpreis des Erzeugnisses niederschlagen konnte, der wiederum eine bequemere Planerfüllung ermöglichte.

Die Bruttoerfüllung bewirkte immer wieder, dass in den Betrieben kein echtes Interesse bestand, eine höhere Veredlung des Einsatzmaterials oder eine Verbesserung des Produktionsablaufes herbeizuführen. Mit anderen Worten, die Form der Abrechnung bedeutete eine Barriere, die den Betrieb davon abhielt, in der laufenden Produktion Verbesserungen vorzunehmen.

Neue Eigentumsordnung

In der DDR wurden in den fünfziger Jahren die grundlegenden Strukturen eines neuen politischen Ordnungssystems errichtet. Die SED erhob den Anspruch, die kommunistische Utopie sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit zu verwirklichen. Damit war das Ziel verbunden, ein gesellschaftliches System zu planen und die darin ablaufenden Entwicklungsprozesse zu beherrschen. Wichtiger Bestandteil der Utopie war, eine Wirtschaftsentwicklung ohne Krisen und Arbeitslosigkeit zu ermöglichen. Grundlage hierfür war die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln und, damit verbunden, die Beseitigung der Trennung zwischen Politik und Ökonomie. Gemäß dieser Vorstellung dominierte in der Eigentumsordnung der DDR schon zu Beginn der fünfziger Jahre die staatliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Der Anteil der staatlichen Wirtschaft am Nationaleinkommen (Nettoprodukt) lag 1950 bei mehr als 50 Prozent. Bis zum Ende der fünfziger Jahre wurde die staatliche Verfügungsgewalt weiter ausgedehnt, so dass 1960 der Anteil fast 90 Prozent betrug. Die private Eigentumsform war damit im ersten Jahrzehnt der DDR zu einer Randerscheinung geworden.

Die Veränderung der Eigentumsordnung bedingte zugleich große Wandlungsprozesse in der Sozialstruktur der ostdeutschen Bevölkerung. Der selbständige Bauer oder Handwerker wurde zum Genossenschaftsmitglied, der Arbeiter zum Angehörigen einer Arbeitsbrigade, der Privateigentümer verlor seinen Besitz. Die damit verbundenen sozialen Verdrängungen und Abstiege wurden vielfach mit der Abwanderung in den Westen beantwortet. Gerade die Bevölkerungsverluste durch die Westabwanderung verstärkten in der DDR-Gesellschaft die durch den Krieg und die Nachkriegszeit schon bestehenden Verwerfungen in der Bevölkerungs- und Sozialstruktur noch weiter. Insgesamt verließen zwischen 1950 und dem Mauerbau 1961 rund 3,1 Millionen Menschen die DDR.

Versorgungsmängel

Eines der Wohlstandsversprechen der SED-Führung lautete in den fünfziger Jahren: ”So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben”. Von der Bevölkerung wurde auf diese

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Weise ein Konsumverzicht verlangt, der angesichts des seit 1948 einsetzenden westdeutschen ”Wirtschaftswunders” zu einem tiefen Interessenkonflikt im Osten Deutschlands führte. Zudem konnten die DDR-Verbraucher bis zum Mauerbau den West-Ost-Vergleich durch einen Besuch in Westdeutschland oder eine S-Bahnfahrt in Berlin noch selbst durchführen. Das Ergebnis solcher Konsumvergleiche ”vor Ort” ließ berechtigte Zweifel an den Fähigkeiten des planwirtschaftlichen Systems der DDR aufkommen.

Es gab frühzeitig von seiten der SED den Versuch, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Einmal wurden die schon im 19. Jahrhundert entstandenen Interessengemeinschaften der Verbraucher, die Konsumgenossenschaften (KG), wieder zum Leben erweckt, nachdem sie während des Krieges aufgelöst worden waren. Sie sollten hauptsächlich die Versorgung der Bevölkerung auf dem Land mit Konsumgütern absichern helfen. Eine besondere Rolle spielten die Läden der 1948 gegründeten staatlichen Handelsorganisation (HO). Die HO-Läden sahen für östliche Verhältnisse sehr westlich aus und galten als der ”kleine Westen im Osten”. In ihnen wurden rationierte Waren frei verkauft und für damalige Verhältnisse im ”Überfluss” angeboten. Jedoch waren die angebotenen Erzeugnisse anfangs stark überteuert. Mit der HO schuf die SED neben der Rationierungswirtschaft ein zweites Verkaufssystem, auf dessen Basis die Kaufkraft der besserverdienenden Schichten abgeschöpft werden sollte. Von Anfang an zeigte sich hier ein gravierender Widerspruch in der Konsumpolitik der DDR, die auf der einen Seite die gleichmäßige Verteilung des Wohlstandes unter alle Mitglieder der Gesellschaft propagierte, und im Gegenzug mit den HO-Läden ein staatlich verordnetes Zweiklassensystem von Käufern schuf.

Anfang der fünfziger Jahre war der Westen jedoch noch nicht der alles bestimmende Vergleichsmaßstab in der Bevölkerung. Vielmehr wurde das Denken zu diesem Zeitpunkt durch Vorstellungen über den Lebensstandard der Vorkriegszeit beeinflusst. Der Blick nach Westen kam erst in zweiter Linie zum Tragen. Immerhin hatten die Rationierungen, Ernährungs- und Versorgungskrisen, die Wohnraumknappheit, der Zusammenbruch eines sozialen Wertesystems und das Empfinden eines sozialen Abstieges während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit tiefe Spuren im Gedächtnis der Bevölkerung hinterlassen. Die Erwartungshaltungen waren weit nach unten geschraubt. Jede Verbesserung der Lebenslage wurde dankbar als Rückkehr in die ”friedensmäßige” Versorgung der Vorkriegszeit

angesehen. Je deutlicher sich jedoch die Versorgungssituation der Bevölkerung im Westen zu verbessern begann und eine jüngere Generation mit anderen Wertvorstellungen heranwuchs, um so mehr verschob sich der Vergleichsmaßstab im Verlauf der fünfziger Jahre in Richtung Westen. Das Wohlstandsniveau Westdeutschlands wurde zum eigentlichen Gradmesser, zum ”Maß für die eigene Unzufriedenheit”.

Langer Abschied von der Lebensmittelkarte

Mit Blick auf die Entwicklung in Westdeutschland hatte die SED-Führung noch 1951 - ungeachtet der schwierigen Wirtschaftslage - im Gesetz des 1. Fünfjahrplanes (1951-55) die Aufhebung der Lebensmittelrationierung für das Jahr 1953 vorgesehen. Doch mit der Verkündung des Aufbaus des Sozialismus im Sommer 1952 vollzog die SED-Spitze einen radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel, der eine Aufhebung der Lebensmittelrationierungen in weite Ferne rücken ließ. Als Folge der Aufbau-Entscheidung sank 1952/53 der Lebensstandard der Bevölkerung unter das Niveau des Jahres 1947. Die Lücken im Warenangebot wurden noch größer, Stromabschaltungen häuften sich wieder, die Situation des Transportwesens erreichte einen kritischen Punkt. Hinzu kamen Lohneinbußen, Normerhöhungen und Preissteigerungen. Eine große Unzufriedenheit machte sich in der Bevölkerung breit, die zum Aufstand am 17. Juni 1953 führte. Danach vermied es die Parteiführung tunlichst, eine soziale Unzufriedenheit unter der Bevölkerung über das noch beherrschbare Maß hinaus aufkommen zu lassen. Um die Lage zu stabilisieren kam es 1953/54 kurzfristig zu weitreichenden Mittelumverteilungen in den konsumtiven Bereich und zu beachtlichen Preissenkungen. Seit dieser Zeit galt für die SED-Führung bis zum Ende der DDR die Regel, weder in den Preisen noch in den Arbeitsnormen noch in der Lohnstruktur abrupte Veränderungen vorzunehmen.

Das Rationierungssystem musste allein schon aus politischen Gründen aufrechterhalten werden, um weiterhin über ein direktes und wirksames Regulierungsinstrument für den privaten Konsum der Bevölkerung zu verfügen. Zugleich sicherte die Rationierung der Bevölkerung ein Mindestmaß an Zuteilung bestimmter knapper Güter und ermöglichte, dass die weiterhin bestehenden Versorgungsengpässe beherrschbar blieben. Insgesamt funktionierte das Rationierungs-
system jedoch nicht mehr als ein System der gerechten Verteilung von Mangelwaren, sondern als Teil eines Preisregulierungs-
systems. Durch mehrfache

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Preissenkungen bei den bewusst überteuerten HO-Waren wurde eine Annäherung und letztlich eine Verschmelzung der beiden staatlich gesteuerten Preisebenen (Karten- und HO-Preise) angestrebt. Das Instrument der Preissenkung zur Beeinflussung des privaten Konsums wurde aber - noch dazu bei offener Grenze und starker Westmark - gegen Mitte der fünfziger Jahre zusehends unbrauchbarer.

Zu diesem Zeitpunkt war der Westen Deutschlands der eigentliche Gradmesser für die Lebenslage der DDR-Bevölkerung geworden. Das erkannte schließlich auch die SED-Führung und verkündete im Juli 1958 die ”ökonomische Hauptaufgabe”, Westdeutschland bis 1961 im Pro-Kopf-Verbrauch aller wichtigen Lebensmittel und Konsumgüter zu überholen. Schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit war es deshalb im Vorfeld notwendig geworden, die letzten Relikte des Rationierungssystems abzuschaffen. Damit endete am 29. Mai 1958 eine seit dem 27. August 1939 andauernde ununterbrochene Periode der Lebensmittelrationierung. Die endgültige Aufhebung der Rationierung traf jedoch nicht auf die uneingeschränkte Zustimmung der Bevölkerung, da die neuen Preise etwas über den Kartenpreisen lagen. Die Wogen der Unzufriedenheit in der Bevölkerung glätteten sich aber, als den schlechter Verdienenden die entstandenen Mehrbelastungen finanziell ausgeglichen wurden.

Lebenslage

Gemessen am Nahrungsmittel- und Güterverbrauch hatte sich die Lebenslage der Bevölkerung seit der Gründung der DDR deutlich verbessert. Im Bereich der Grundnahrungsmittel konnte das Verbraucherniveau der Vorkriegszeit (1936) wieder erreicht bzw. überschritten werden.

Am Ende der fünfziger Jahre zeigte sich - wenn auch in viel geringerem Umfang - eine ähnliche Veränderung im Verbraucherverhalten der Bevölkerung wie im Westen

Deutschlands. Die Anschaffung langlebiger technischer Konsumgüter wie Waschmaschinen, Kühlschränke, Fernsehempfänger, Personenkraftwagen und Motorräder spielte eine zunehmende Rolle. Die Motive für die Arbeitsleistungen der Menschen in Ost und West stimmten zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend überein.

In der Regierung wurde, mit besorgtem Blick auf die Bedarfsdeckung, der größer werdende Kaufkraftüberhang und das Zwecksparen auf hochwertige Konsumgüter aufgrund der

inflationären Tendenzen misstrauisch beobachtet. Immerhin waren die Spareinlagen bei den Kreditinstituten der DDR zwischen 1950 und 1961 auf das über 15fache angewachsen. Auch die Nettogeldeinnahmen eines durchschnittlichen Arbeiter- und Bauernhaushaltes verdoppelten sich von 1949 bis 1960. Doch sowohl bei Nahrungsmitteln als auch bei Konsumgütern bedeutete die rasch wachsende Kaufkraft der DDR-Bevölkerung im Verlauf der fünfziger Jahre, dass die Möglichkeiten der staatlichen Bedarfsdeckung trotz eines zunehmenden Handelsvolumens oftmals überschritten wurden. Zusätzlich hatte die Kollektivierung zu Engpässen in der Lebensmittelversorgung geführt.

Schwer lastete die ungenügende Ausstattung mit Wohnraum auf der Bevölkerung. Wohnungen waren Mangelware erster Ordnung. Zwar wuchs die Zahl der Wohnungen von 1950 bis 1961 absolut um etwa 500000 an, doch eine Entlastung bedeutete dieser Zuwachs keinesfalls, da die Zahl der wegen Baufälligkeit gesperrten Wohnungen etwa der Zahl der neugebauten und instandgesetzten Wohnungen entsprach. Erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre begann die Zahl der neugebauten Wohnungen erkennbar zuzunehmen. Am Ende der fünfziger Jahre resultierte außerdem die Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum zu etwa 50 Prozent aus der Westabwanderung. In der Gesamtsicht blieb der Wohnungsneubau jedoch auf einige größere Städte wie Ostberlin und den Werkswohnungsbau der neuerrichteten Industriestandorte (Eisenhüttenstadt oder Neu-Hoyerswerda) beschränkt. Die Vernachlässigung des Wohnungsbaus in der DDR wird noch deutlicher, wenn die Entwicklung in der Bundesrepublik zum Vergleich herangezogen wird. Dort hatte die Bundesregierung 1950 den Bau von 1,8 Millionen Wohnungen bis 1965 vorgesehen, gebaut wurden 3,1 Millionen.

Während im Bereich des Konsums - abgesehen von den deutlichen Niveauunterschieden - im wesentlichen die westdeutsche Entwicklung nachempfunden wurde, gelang es der SED-Führung bei der medizinischen Versorgung und Kinderbetreuung schon in den fünfziger Jahren eigene Wege gegenüber Westdeutschland zu gehen. Die durch den Krieg und die Nachkriegszeit entstandenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen begannen sich vielfach bereits in den fünfziger Jahren ernsthaft auszuwirken. Die jahrelange Mangel- und Fehlernährung erhöhte die Infektionsanfälligkeit der Bevölkerung. Krankheiten wie die Tuberkulose breiteten sich aus. Andererseits blieben schleichende Krankheiten wie die Zuckerkrankheit oder Bluthochdruck oftmals über Jahre unerkannt.

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Die Zusicherung einer unentgeltlichen, allgemein zugänglichen medizinischen und sozialen Betreuung fand deshalb bei der Bevölkerung Anerkennung und wurde hoch bewertet. Den Ausbau der medizinischen Betreuung in bis dahin unterversorgten ländlichen Gebieten durch Landambulatorien und Gemeindeschwesternstationen, die zahnmedizinische Versorgung, den Aufbau des Impfwesens, den prophylaktischen Gesundheitsdienst und die Kinderbetreuung empfanden breite Kreise der Bevölkerung als eine Verbesserung ihrer Lebenslage.

Neue Städte

Wenige Monate nach der Gründung der DDR erließ die Regierung ein ”Aufbaugesetz” (1950). Wie und nach welchem städtebaulichen Leitbild gebaut werden sollte, wurde in den ”Sechzehn Grundsätzen des Städtebaus” festgeschrieben. Die Maxime lautete: ”National, schön und großzügig”. Zu den markantesten Beispielen und zugleich wichtigsten Bauvorhaben der ersten Aufbauphase bis 1955 zählte die Stalinallee in Ost-Berlin (später Karl-Marx-Allee) und der Aufbau der Wohnstadt ”Stalinstadt” (später Eisenhüttenstadt) des Eisenhüttenkombinates/Ost.

Im Vergleich dazu wurde in der Bundesrepublik seit 1950 mit einer ”Politik des konzentrierten Mitteleinsatzes” ein umfangreicher Wohnungsbau praktiziert, der die hohe Erwartungshaltung der Bevölkerung erfüllte und maßgeblich zum Mythos des sogenannten ”Aufbauwunders” beitrug. Die DDR schwenkte nach 1955 in eine ähnliche baupolitische Richtung. Ohne öffentliche Auseinandersetzung wurden die ”Sechzehn Grundsätze” stillschweigend aufgegeben und durch das Motto ”Besser, billiger und schneller bauen” ersetzt. Die westdeutschen Erfolge im Wohnungsbau, eine unbefriedigte Erwartungshaltung in der eigenen Bevölkerung und das sowjetische Bekenntnis zu einem modernen industrialisierten Wohnungsbau ohne ”Zuckerbäckerei und Fassadenkosmetik” (1954) sorgten im wesentlichen bei der SED-Führung für die Revision ihres städtebaulichen Leitbildes.

Auf der ”1. Baukonferenz” im April 1955 wurde die ”Industrialisierung und Typisierung” des Bauwesens beschlossen. Das Zauberwort hieß nun Großplattenbauweise (Fertigbauweise). Ab 1957 begann mit dem Aufbau der Wohnstadt Neu-Hoyerswerda für das Braunkohleverarbeitungswerk ”Schwarze Pumpe” der erste Großversuch, eine ganze Stadt in Plattenbauweise zu errichten. Wie im Westen entstanden nun Stadtentwicklungspläne, in denen der Wohnungsbau in Form neuer

Trabantensiedlungen verwirklicht werden sollte. Der Siebenjahrplan von 1959 versprach, dass auf der Grundlage der Fertigbauweise bis 1965 jeder eine Wohnung haben würde. Dieses Versprechen konnte nicht eingelöst werden und Anfang der Siebziger kündigte die SED-Führung noch einmal die Lösung der Wohnungsfrage an, diesmal für das Jahr 1990.

Die Kehrseite dieser Entwicklung war eine Vernachlässigung der Innenstädte und die Festlegung einer Hierarchie der Städte. Letztere orientierte den Städtebau nicht auf den Zerstörungsgrad, sondern auf die Bedeutung der jeweiligen Stadt im Rahmen des wirtschaftlichen Aufbaus. Von Anfang an wurde hierbei Ost-Berlin aufgrund seiner ”Schaufensterfunktion” zu West-Berlin und der Rolle als Hauptstadt der DDR zum Dreh- und Angelpunkt der Städtebaupolitik. Nicht zuletzt deshalb blieb auch der Versuch, Ende der fünfziger Jahre die letzten Kriegsschäden in den Zentren der Bezirksstädte zu tilgen, halbherzig, und die Spuren des Zweiten Weltkriegs prägten bis zum Ende der DDR die Stadtbilder.

Konsum

Das mit den fünfziger Jahren häufig verbundene Bild vom schlemmenden Michel, dem Wohlstandsbürger, der von der ”Fresswelle” zu immer feineren sonstigen Genüssen und Vergnügungen überging, ist unzutreffend. In den meisten westdeutschen Haushalten ging es noch lange sehr bescheiden zu. Die Löhne und Einkommen von 1950 entsprachen von der Kaufkraft her etwa denen der besten Jahre der Zwischenkriegszeit (1928 und 1938). Allerdings hatten Krieg und Nachkriegswirren sehr häufig zum Verlust von Hausrat und Einrichtungsgegenständen geführt, so dass es einen großen Nachholbedarf gab.

Die ausgabefähigen Einkommen (das heißt sämtliche Einkommen abzüglich der Steuern und gesetzlichen Versicherungen) verdoppelten sich bei einem vierköpfigen Arbeitnehmerhaushalt (laut Statistischem Bundesamt) zwischen 1950 und 1960 auf monatlich 670 DM. Den größten Ausgabenposten bildeten die Nahrungsmittel, allerdings mit sinkendem Anteil (1950: 46 Prozent; 1960: 36 Prozent), während für Getränke und Tabakwaren 1960 relativ mehr ausgegeben wurde als ein Jahrzehnt zuvor.

Da auch die Ausgaben für die Wohnung mit neun bis zehn Prozent während des gesamten Jahrzehnts stabil blieben - Ergebnis gesetzlicher Mietpreisbindungen und staatlicher Wohnungsbaupolitik - überwog nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes

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Ende der fünfziger Jahre erstmals der sogenannte ”elastische” den sogenannten ”starren Bedarf” (Nahrungsmittel, Wohnung, Heizung und Beleuchtung). Die Summe der - in engen Grenzen - wahlweise für verschiedene Zwecke einzusetzenden Ausgaben wuchs an, in vielen Haushalten eine völlig neue Erfahrung.

Langlebige Gebrauchsgüter

Aber noch auffälliger war in den fünfziger Jahren der steile Anstieg der Sparquote (Anteil des gesparten an der Summe des verfügbaren Einkommens), die sich im Laufe des Jahrzehnts in etwa verdreifachte und 1960 bei 8,7 Prozent lag; das Bausparen verzwölffachte sich sogar. Man könnte die fünfziger Jahre pointiert als Jahrzehnt des Sparens bezeichnen. Bewusst wurde in vielen Haushalten auf vieles verzichtet, was man sich mit dem gesteigerten Einkommen hätte leisten können. Es handelte sich aber nicht um Konsumverzicht, sondern um die Konzentration auf die wichtigsten Wünsche wie die Erlangung der Wohnung oder des eigenen Heims und die Anschaffung langlebiger Konsumgüter.

Der Ausstattungsgrad mit solchen Gütern war in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre noch sehr niedrig. Nach einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie verfügten 1953 neun Prozent aller Haushalte über einen Kühlschrank und 26 Prozent über einen Staubsauger, 1962/63 waren es - laut Einkommens- und Verbrauchsstichproben des Statistischen Bundesamtes - 52 Prozent bzw. 65 Prozent. Und ähnlich verhielt es sich mit den Steigerungsraten vieler anderer Geräte, die zum größten Teil aber erst seit dem Ende der fünfziger Jahre angeschafft werden konnten.

Vor allem der Kauf eines Personenkraftwagens, für viele Berufspendler unabdingbare Notwendigkeit oder attraktive Alternative zur Fahrt in überfüllten Vorortzügen, rückte nun erst für breitere Schichten in den Bereich des Möglichen. Während 1959 jeder vierte Angestellten- und Beamten- und sogar erst jeder achte Arbeiterhaushalt über ein eigenes Auto verfügte, besaß bereits drei Jahre später ein Drittel aller Arbeitnehmerhaushalte einen ”fahrbaren Untersatz” - überwiegend einen erschwinglichen Kleinwagen. Obwohl sich die Zahl der zugelassenen Personenkraftwagen schon während der fünfziger Jahre verachtfacht hatte, stand Westdeutschland mit vier Millionen zugelassenen Fahrzeugen 1960 erst am Beginn eines Automobil-Booms.

Sehr weit entfernt scheinen uns die fünfziger Jahre hinsichtlich des geringen

Ausstattungsgrades mit einem heute obligatorischen Kommunikationsmedium zu sein, denn 1960 gab es erst in 14 Prozent aller Haushalte ein Telefon.

Lebensstil und Freizeit

In allen Untersuchungen zur Freizeit in den fünfziger Jahren wurde als auffälligster Grundzug die ausgeprägte Häuslichkeit und das Beisammensein innerhalb der Familie betont. Der private Rückzug prägte nicht nur den werktäglichen Feierabend, sondern auch das lange Wochenende. Arbeit in Haus und Garten, die Lektüre der Tageszeitung und das Radio bildeten das Zentrum der Freizeit.

Die Verstärkung nachbarlicher Bindungen, welche die Soziologen und Städteplaner sich von den Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus erhofft hatten, wollte sich nicht einstellen, und auch in den neuen Eigenheimvierteln der Vor- und Satellitenstädte lebten die meisten Familien eher für sich. Für den besonders ausgeprägten Hang zum Familiären und Privaten gab es verschiedene Gründe. Vor allem ist der sehr lange Arbeitstag (Arbeitszeit plus Arbeitswegzeit) anzuführen. Wer zwischen sechs und sieben Uhr morgens aufstand und zwischen 18 und 19 Uhr abends nach Hause zurückkehrte - dies sind die Mitte der fünfziger Jahre ermittelten Durchschnittswerte für die erwerbstätige Bevölkerung - der suchte zunächst einmal Ruhe. Außerdem lag die Trennung vieler Familien durch die Abwesenheit des Vaters als Soldat und in der Gefangenschaft, der Söhne und Töchter durch die Evakuierung im Krieg, durch Ausbombung und Wohnungsnot noch nicht lange zurück.

Das Anwachsen des Wohlstands und der zur Verfügung stehenden Freizeit änderte zunächst wenig an der vorherrschenden Häuslichkeit, die durch steigenden Komfort immer attraktiver wurde, nicht zuletzt durch die Ausstattung mit elektronischen Massenmedien.

Die wichtigste außerhäusliche Unternehmung bildete für einen kleineren Teil der Bevölkerung der Sport. Etwa ein Viertel betätigte sich regelmäßig oder gelegentlich sportlich. Die Mitgliederzahl der Sportvereine erhöhte sich von vier Millionen (1954) auf 4,8 Millionen (1959). Etwa 40 Prozent davon waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Der Vereinssport stellte in den fünfziger Jahren eine männliche Domäne dar. Nur etwa ein Siebtel der erwachsenen Mitglieder waren Frauen.

Die fünfziger Jahre gelten als das deutsche Kinojahrzehnt. Allerdings hatte die Zahl der Kinobesuche mit 490 Millionen (das heißt etwa zehn je Einwohner) 1950 noch längst nicht den

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im Zweiten Weltkrieg bereits erreichten Höchststand eingeholt. In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre erfolgte allerdings eine rasche Zunahme auf etwa 820 Millionen (= 15,6 Kinobesuche je Einwohner) 1956. Danach ging die Zahl der Kinobesuche allmählich wieder unter den Stand von 1950 zurück.

Schließlich soll als besonderes außerhäusliches Ereignis der Kirchgang - gewöhnlich am Sonntagvormittag - erwähnt werden, der während der fünfziger Jahre, entgegen dramatischen Klagen über eine fortschreitende Verweltlichung der Gesellschaft, gleichbleibend hoch blieb. Über die Hälfte der Katholiken und etwa ein Siebtel der Protestanten zählten zu den regelmäßigen Kirchgängern. Bei der traditionell höheren Gottesdienstaktivität der Katholiken muss zudem bedacht werden, dass sie eher in kleineren Ortschaften lebten, wo der sonntägliche Kirchgang stärker zum Lebensrhythmus der Bevölkerung gehörte als in der Stadt. Erst seit Mitte der sechziger Jahre verringerte sich die Zahl der Gottesdienstbesuche zuerst langsam, dann sehr rasch, Anzeichen eines Bruchs im kirchlichen Verhalten zwischen den Generationen.

Anfänge des Massentourismus

Zum häuslich geprägten Familien- und Privatleben, einem ruhigen Feierabend und unspektakulären Wochenende passte der noch sehr geringe Stand des Tourismus - entgegen dem verbreiteten Bild vom deutschen Italienurlauber, das als typisch für die fünfziger Jahre assoziiert wird.

Die Urlaubsdauer war kurz und wurde nur unwesentlich ausgeweitet, weil die Verringerung der Wochenarbeitszeit Vorrang hatte. Erst 1963 kam es zu einer bundesgesetzlichen Regelung des Mindesturlaubs: 15 Tage bis zur Vollendung des 35. Lebensjahres, danach 18 Tage Urlaub im Jahr. Eine Urlaubsreise unternahm zu Beginn der fünfziger Jahre etwa ein Fünftel, Mitte des Jahrzehnts ein Viertel und 1960 ein Drittel der westdeutschen Bevölkerung (aber nur ein Viertel der Arbeiterhaushalte).

Beim Tourismus handelte es sich zudem noch kaum um Urlaubsreisen ins Ausland - Mitte der fünfziger Jahre besaß überhaupt erst ein Fünftel der Bundesbürger einen Reisepass, damals in der Regel Voraussetzung für einen Grenzübertritt. Auch 1960 reiste erst jeder dritte Tourist, also jeder zehnte Einwohner, ins Ausland. Abgesehen von Italien handelte es sich dabei überwiegend um die deutschsprachigen Nachbarländer, vor allem Österreich, wo die Sprache verstanden wurde und man sich heimisch fühlen konnte.

Seit dem letzten Drittel der fünfziger Jahre modernisierte sich der Massentourismus dann zusehends. Bis 1957 benutzte die Mehrheit der Urlaubsreisenden die Eisenbahn, ein Viertel den Personenkraftwagen. Bis zur Mitte der sechziger Jahre hatte sich dieses Verhältnis umgekehrt. Und während Mitte der fünfziger Jahre noch fast die Hälfte der Touristen bei Verwandten unterkam, waren es Anfang der sechziger Jahre weniger als ein Drittel. Die anderen zwei Drittel machten in Pensionen und Hotels Urlaub oder pflegten die aufkommende Camping-Kultur, deren Basis die individuelle Reise mit dem Auto oder mindestens mit dem Motorrad war. Die zunehmende Motorisierung war auch der Grund für die steigende Entfernung der Reiseziele.

Massenmedien

Die fünfziger Jahre waren der Höhepunkt des Radiozeitalters und zugleich der Beginn des Fernsehzeitalters in der Bundesrepublik.

Der Siegeszug des Hörfunks hatte zwar schon in den zwanziger Jahren begonnen, und am Vorabend des Zweiten Weltkriegs verfügten bereits zwei Drittel aller deutschen Haushalte über einen Rundfunkapparat. Aber die beinahe restlose Versorgung der Bevölkerung mit diesem Medium vollzog sich in den fünfziger Jahren.

Das Rundfunkgerät stellte das ideale Mittel dar, die Häuslichkeit attraktiv zu gestalten und bildete das Zentrum des Feierabend- und Wochenendgeschehens. Eindeutiger Spitzenreiter in der Hörergunst waren unterhaltende Sendungen, besonders sogenannte Bunte Abende mit leichter Musik, einigen kabarettistischen Einlagen und Ratespielen sowie leicht fassliche Hörspiele mit heiterer und kriminalistischer Note. Unterhaltungsmusik aller Art war gefragt, von der Operette bis zur Marschmusik, von den leichten Weisen der sendereigenen Orchester bis zur deutschen Schlagerparade, die es schon Anfang der fünfziger Jahre gab. Verpönt war beim Publikum lediglich der Jazz, der nur eine Minderheit jugendlicher Liebhaber fand - ein Indiz für die Ähnlichkeit geschmacklicher Vorlieben der dreißiger und der fünfziger Jahre.

Am Ende der fünfziger Jahre gingen die Einschaltquoten, vor allem abendlicher Sendungen, und die durchschnittliche tägliche Hördauer deutlich zurück (von drei auf zwei Stunden), eine Folge vor allem der beginnenden Massenverbreitung des Fernsehens (ab 1954), dessen Angebot von Sendungen der 1950 gegründeten ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik

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Deutschland) gestaltet wurde. Im Oktober 1957 wurde das millionste Gerät angemeldet, zwei Jahre später hatte sich die Zahl der Teilnehmer verdreifacht, und 1960 verfügte ein Viertel aller Haushalte über das neue Medium.

Das Fernsehen brach nicht plötzlich in die Familien ein und verdrängte dort Eigenaktivitäten wie das Lesen oder die Hausmusik - auch wenn es manche kulturpessimistischen Kritiker so sahen. Tatsächlich ersetzte das neue Medium vor allem das Radio in der hauptsächlichen Sendezeit am Abend. Durch das Fernsehen gingen nicht die Auflagen der Illustrierten, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher zurück, auch nicht die Besuchszahlen von Konzerten, Theateraufführungen oder Ausstellungen. Einbußen erlebten allerdings Gastwirtschaften, der Stadionbesuch beim Fußball, wenn das Spiel im Fernsehen übertragen wurde, und vor allem das Kino. Insofern verstärkte das Fernsehen die ohnehin dominierende Häuslichkeit in der Familie. Dies galt insbesondere auf dem Lande und unter Arbeitern, für die die Anschaffung des Geräts mit den größten finanziellen Anstrengungen verbunden gewesen war und denen auch sonst in ihrer Freizeit wenig attraktive Alternativen zur Verfügung standen.

Dem Radio blieb im übrigen durchaus noch ein wichtiger Platz, zumal das Fernsehen noch keine 24-Stunden-Veranstaltung war. Im letzten Drittel der fünfziger Jahre war zwar mit regionalen Programmen die vorabendliche Lücke zwischen einem in der Regel einstündigen Nachmittagsprogramm für Frauen und Kinder und der ”Tagesschau” als Beginn des Abendprogramms geschlossen worden. Aber der Vormittag, Mittag und spätere Abend waren noch weitgehend fernsehfrei. Für das abendliche Programm des ARD-Fernsehens gab es jedoch zunächst keine Konkurrenz. Die Fernsehgesellschaft hatte begonnen.