Deutsche Geschichten
Antisemitismus
Antisemitismus
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nahrungsmittelchemischen Experimente ums Leben gekommen. Als sich die Front den osteuropäischen KZ näherte, befahl Himmler den Abtransport der Häftlinge in Richtung Westen, ließ die Vergasungen einstellen und ordnete zudem an, die bei früheren Massenerschießungen verscharrten Leichen auszugraben und zu verbrennen.

Heinrich Himmler

Auf den Rücktransporten sind in den letzten Monaten noch einmal unzählige Häftlinge durch völlige Erschöpfung und um sich greifende Seuchen gestorben. Man schätzt die Zahl der von den Nationalsozialisten insgesamt in den KZ Inhaftierten auf 7,2 Millionen, von denen nur etwa 500 000 überlebten.

Paul Spiegel-
"Wieder zu Hause?"

Paul Spiegels Erinnerungen. Ein jüdisches Leben in Deutschland, das ebenso widersprüchlich wie abenteuerlich, einzigartig wie exemplarisch ist.

Antisemitismus

Als die Überlebenden des Holocaust aus den Lagern oder den Verstecken kamen, glaubten viele, dass das Ausmaß der Verbrechen jedem Antisemitismus den Boden entziehen und sich, wie Heinz Galinski, bis 1992 Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, es formulierte, „eine Welt auftun (würde), in der Menschenliebe und Verständnis unter den Völkern herrschen werde“. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt, wenngleich heute in den europäischen Ländern und in den USA im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Antisemitismus in der Bevölkerung deutlich abgenommen hat und es auch keine Diskriminierungen von staatlicher Seite mehr gibt. Dennoch sehen sich Juden in vielen Ländern Vorurteilen und Übergriffen ausgesetzt. In Deutschland haben antisemitische Straftaten in den neunziger Jahren im Vergleich zu den Jahrzehnten davor erheblich zugenommen. Woher kommen die Vorurteile gegen Juden? Weshalb halten sich antijüdische Stereotype so hartnäckig, obwohl man ihnen nun jahrzehntelang in der Schule und der Öffentlichkeit entgegengetreten ist und in vielen europäischen Ländern nur noch wenige Juden leben? Welche Rolle spielt dabei, dass negative Äußerungen über Juden in der Öffentlichkeit tabuisiert sind, dass das Thema „Juden“ von vielen wegen des Holocaust als belastet und heikel empfunden und häufig gemieden wird? Gerade in Deutschland, wo Schuld- und Schamgefühle begreiflicherweise einem normalen, gelassenen Verhältnis zwischen Deutschen und Juden entgegenstehen, eignen sich antijüdische Bemerkungen, Witze oder gar Übergriffe besonders treffsicher als Mittel der Tabuverletzung und Provokation. Insofern gibt es in Deutschland und Österreich auch einen spezifischen „Antisemitismus wegen Auschwitz“, der sich gegen die Juden wendet, weil sie als diejenigen gesehen werden, die die

Deutschen permanent schmerzlich an die NS-Verbrechen erinnern. Dieser „sekundäre Antisemitismus“ greift auf alte antijüdische Vorurteile und Stereotypen zurück und aktualisiert sie. Deshalb muss man, um den heutigen Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausprägungen zu verstehen, auf die Geschichte der Judenfeindschaft zurückkommen, in der ein negatives Bild des Juden geprägt wurde, das ein zäher Bestandteil unserer kulturellen Überlieferung geworden ist. Hier liegt die große Gefahr bei der Weitergabe von Stereotypen, denn auch wenn man sie nicht teilt, kennt man die negativen Urteile über die Juden.
Die Judenfeindschaft besitzt mehrere historische Schichten, wobei die älteren Vorurteilsschichten in der nächsten Phase nicht „vergessen“, sondern nur von neuen überlagert wurden.

Christlicher Antijudaismus

Die erste Schicht ist die religiös motivierte Ablehnung der Juden durch die Christen, die als abgespaltene jüdische Sekte seit dem ersten Jahrhundert n. Chr. in Konkurrenz zum Judentum standen, das in seiner Mehrheit die christliche Lehre ablehnte. Aus dieser Situation von Nachfolge und Konkurrenz entstand eine bereits im Neuen Testament spürbare antijüdische Tradition, die die Juden als „Volk des alten Bundes“ aus dem neuen Gottesbund ausschloss. Im Zentrum der judenfeindlichen Vorwürfe stand die Überbetonung des Anteils der Juden an der Leidensgeschichte Jesu in den Evangelien (Matthäus 27,25: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“; Markus 15,6–15; Lukas 23,13–25), die im Vorwurf des Christusmordes gipfelte: „Welche auch den Herrn Jesum getötet haben, und ihre eigenen Propheten, und haben uns verfolgt“ (1 Thessalonicher 2,15). Weiter findet sich eine negative Zeichnung der jüdischen Pharisäer und Schriftgelehrten als Heuchler (Matthäus 23,13–29) und Verfechter einer nur äußerlichen Frömmigkeit (Lukas 16,15). Im Johannes-Evangelium werden die Juden schlechthin zu Feinden der Christen erklärt und beschuldigt, sie hätten „den Teufel zum Vater“ (8,23 und 8,40–44). Damit haben wir zentrale Bestandteile des religiösen Vorurteils beisammen: Verwerfung der Juden durch Gott, Vorwurf des Christusmordes und der Christenfeindlichkeit. Negative Stereotype aus dem neuen Testament reichen bis in den heutigen Sprachgebrauch hinein: Wir nennen einen Heuchler immer noch „Pharisäer“. Judas ist bis heute die Symbolfigur des Verräters, und Juden wurden in der Geschichte häufig des Verrats an ihren „Gastvölkern“ bezichtigt.
Der Abschluss der Christianisierung Europas, die innerkirchlichen Reformbewegungen, insbesondere die Missionsbestrebungen der Bettelorden und die Wendung gegen abweichende christliche „Irrlehren“ (so genannte Ketzer) und Feinde des Christentums (Kreuzzüge), verbreiteten die Judenfeindschaft über den Kreis der Theologen hinaus unter den Laien, sodass Vorurteile gegen Juden zum festen Bestandteil der erstarkenden Volksfrömmigkeit wurden.

Im 13. Jahrhundert gewannen mit der Verkündigung der Transsubstantiationslehre, die annahm, dass sich beim Abendmahl Brot und Wein real in den Leib und das Blut Christi verwandelten, die geweihte Hostie und das Blut zentrale religiöse Bedeutung. Christen fürchteten nun, Juden würden als „Feinde Christi“ die Hostie durchbohren, um damit den Leib Jesu erneut zu verletzen. Dieser Vorwurf der Hostienschändung hat häufig zu antijüdischer Gewalt geführt. Damals kam auch die Befürchtung auf, die Juden würden

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