1890 - 1918 / 1919 - 1933 / 1933 - 1945 / 1945 - 1949 / 1949 - 1989 / 1989 - 2016
Die Mauer und ihre Folgen
 

Neues Strafrecht
Am 12. Januar 1968 billigte die Volkskammer ein neues Strafgesetzbuch und eine neue Strafprozeßordnung der DDR. Das Strafgesetzbuch trat ab 1. Juli 1968 an die Stelle des alten deutschen Strafgesetzbuches von 1871, das zu Teilen bis dahin auch für die DDR noch Gültigkeit besessen hatte. Die Präambel des DDR-Strafgesetzbuches zog einen deutlichen Trennungsstrich zwischen DDR und Bundesrepublik, denn da hieß es: "Das sozialistische Strafgesetzbuch ist Bestandteil des einheitlichen sozialistischen Rechtssystems der Deutschen Demokratischen Republik. Es dient im besonderen dem entschiedenen Kampf gegen die verbrecherischen Anschläge auf den Frieden und die Deutsche Demokratische Republik, die vom westdeutschen Imperialismus und seinen Verbündeten ausgehen und die Lebensgrundlagen unseres Volkes bedrohen".
Das neue Strafgesetzbuch der DDR enthielt einige Änderungen, die auch die Strafrechtsreform in der Bundesrepublik 1969 prägten: Das Prinzip der Resozialisierung wurde gegenüber dem Vergeltungsgedanken gestärkt. Kurze Freiheitsstrafen wurden eingeschränkt oder konnten zur Bewährung ausgesetzt werden. Im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen fielen Tatbestände des alten Strafgesetzbuches wie Verleumdung und Beleidigung, Kuppelei, Homosexualität unter Erwachsenen sowie Ehebruch fort.
Den Kern des neuen Strafgesetzbuches aber machte das politische Strafrecht aus. Hier war nichts vom Erziehungsgedanken zu spüren. Im Gegenteil: Die Bestimmungen umfaßten ein breites Feld möglicher Straftaten, und der Wortlaut der entsprechenden Paragraphen ließ den Gerichten einen weiten Interpretationsspielraum. Die Strafandrohungen waren drakonisch. Nicht nur die staatliche Ordnung und die Staatsorgane, sondern auch die Gesellschaftsordnung und die Wirtschaft der DDR samt den darin tätigen Personen mit ihren Symbolen und Emblemen wurden durch das Strafrecht geschützt.
Als strafbar wurden bezeichnet Verbrechen gegen die "Souveränität der DDR", den Frieden, die Menschlichkeit und die Menschenrechte (§§ 85 bis 95), das ungenehmigte Verlassen der Republik, das je nach Begleitumständen als "staatsfeindlicher Menschenhandel" (§ 105) oder "ungesetzlicher Grenzübertritt" (§ 213) geahndet werden konnte. Strafbar war auch das Sammeln von "Nachrichten, die geeignet sind, die gegen die Deutsche Demokratische Republik oder andere friedliebende Völker gerichtete Tätigkeit von Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen zu unterstützen" (§ 98).
Bestraft werden konnte ein DDR-Bürger dafür, daß er sich zu "Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen, die sich eine gegen die staatliche Ordnung der Deutschen Demokratischen Republik gerichtete Tätigkeit zum Ziel setzen, in Kenntnis dieser Ziele oder Tätigkeiten in Verbindung setzt" (§ 219). Straftatbestände wie "Sabotage" (§ 104) oder "staatsfeindliche Hetze" (§ 106) waren so allgemein definiert, daß jede Kritik an den bestehenden Verhältnissen darunter fallen konnte. Die Diskussion über Themen, die den Staats- und Parteiorganen der DDR nicht genehm waren, konnte mit Hilfe des Strafrechts sofort unterbunden werden.
Die auffällige Verschärfung des politischen Strafrechts um die Jahreswende 1967/68 war eine Antwort der DDR-Führung auf "Aufweichungstendenzen im sozialistischen Lager", wie sie sich aus ihrer Sicht 1968 im "Prager Frühling" manifestierten. Sie war auch eine Reaktion auf Ansätze einer westlichen Entspannungspolitik, deren Streben nach "Wandel durch Annäherung" hier Einhalt geboten werden sollte.
Eine erste Gelegenheit zur Handhabung des verschärften politischen Strafrechts bot sich nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die »CSSR am 21. August 1968. Bis zum 29. August registrierte das Ministerium des Innern bereits 1112 Fälle "staatsfeindlicher Hetze" und "Staatsverleumdung". Gemeint waren mit diesen Straftatbeständen Sympathiekundgebungen für den reformorientierten tschechoslowakischen Parteisekretär Alexander Dubcek und sein Politbüro, Losungen an Hauswänden oder Brücken, selbstgefertigte Flugblätter und Unterschriftensammlungen gegen die Intervention. Am 20. November stellte das Ministerium für Staatssicherheit fest, daß bis dahin insgesamt 2129 "feindliche Handlungen", also Proteste gegen den Einmarsch in die »CSSR, begangen worden seien. In den meisten Fällen waren jüngere Arbeiter daran beteiligt. Im Oktober begannen die ersten Strafverfahren wegen "staatsfeindlicher Hetze" (§ 106 StGB). Die Strafen fielen im Vergleich zur Strafandrohung im Gesetzbuch relativ milde aus oder wurden zurückgenommen, vor allem dann, wenn westliche Medien über die Verfahren berichteten. Weniger bekannte "Staatsfeinde" mußten ihre Strafen aber absitzen. Viele der wegen "staatsfeindlicher Aktivitäten" Festgenommenen wurden zwar freigelassen, danach aber vom Staatssicherheitsdienst dauerhaft observiert und schikaniert.

Quelle: "Informationen zur politischen Bildung", Copyright
Bundeszentrale für politische Bildung
www.bpb.de


 
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