Deutsche Geschichten
Reichstag
Reichstag
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kommunistischer Putschversuch hier, nationalsozialistische Verschwörung dort. In einem Punkt allerdings stimmen beide Deutungen überein. Und dieser eine Punkt wird über Jahrzehnte hinweg so gut wie niemals angezweifelt: Lubbe war kein Alleintäter!

Im Prozess versank er weitgehend in Apathie.
Marinus van der Lubbe (1909 - 1934)
Im Prozess versank er weitgehend in Apathie.

Nach dem Krieg mühten sich Historiker in Ost und West, die These von der Nazi-Täterschaft zu zementieren. Gutachten wurden erstellt, Zeitzeugen befragt, Dokumente studiert. Doch mit dem Beginn der sechziger Jahre gab es den großen Paukenschlag: Der Amateur- Historiker Fritz Tobias schien nachweisen zu können, dass Lubbe allein - ohne Mittäter, Auftraggeber oder Mitwisser - die spektakuläre Aktion unternommen hatte. Tobias legte das zunächst 1959/60 in einer Spiegel-Serie dar, und 1962 in einem dickleibigen Buch. Seine Auffassung setzte sich nicht kampflos aber stetig durch. Und ab den siebziger Jahren wussten wir es genau: Lubbe war doch allein!

Mehr als Kriminalgeschichte

Könnten wir es damit nicht gut sein lassen? Die Geschichte des Nazireichs ist geschrieben; bekannt ist, was vorher und nachher geschah. Ein simpler Kriminalfall schien aufgeklärt. Aber der Reichstagsbrand war immer mehr als nur ein Stück Kriminalgeschichte: Seine Rekonstruktion legt in einem sehr weiten Sinn unseren Blick fest auf das Wesen nationalsozialistischer Herrschaft. Wie das?

Organisation und Chaos

Tief verankert im Geschichtsbild war die Auffassung vom Nationalsozialismus als einer rational organisierten, mit klaren Befehlssträngen funktionierenden planvollen Macht. Nachdem - ebenfalls in den siebziger Jahren - die genauere Untersuchung der nationalsozialistischen Institutionen einsetzte, erwies sich diese Vorstellung als nicht länger haltbar: Konkurrierende Instanzen, Unordnung, Kompetenzwirrwarr schienen nun kennzeichnend für den Hitlerstaat; sei es im Bereich der Wirtschaft, des Militärs oder der Ideologie.
Vom "Chaos im Gleichschritt" war die Rede. Zusammengehalten worden sei das Ganze durch die "Intuition", die "Künstlernatur" des "Führers", der seine Paladine nach Belieben gegeneinander ausspielte. Joachim Fest hat hier mit seiner Biografie des Albert Speer viel beigetragen.

Nichts also mit planvoll, stattdessen das Agieren im Chaos, das Ausnutzen günstiger Gelegenheiten als Herrschaftstechnik! Immer

habe Hitler die Steilvorlagen seiner Gegner, manchmal auch – wie beim Reichstagsbrand - die des Zufalls genutzt. Sicher ist, dass jedes Gericht Verbrechen aus Gelegenheit anders werten würde, als die gezielte, langfristig durchdachte Tat.

Eine passende These

Folglich steht auch die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen im System, bis hin zur personengebundenen Kriegsschuld, jeweils anders. Zur eher "distanzierten" Geschichtsschreibung passte die These von der Zufallstäterschaft des Marinus van der Lubbe. Wirklich, wir sollten es damit bewenden lassen. Sollten wir?

Wie Geschichte gemacht wird

Ende 1999 erschien in der "Historischen Zeitschrift" ein Artikel, der die Ergebnisse des Fritz Tobias in neues Licht rückt. Dessen Autoren Alexander Bahar und Wilfried Kugel berufen sich auf Dokumente, die erst seit der Wende 1989/90 frei benutzbar sind.
Dazu gehören auch für Tobias und andere vor vierzig Jahren noch unzugängliche Akten des Reichstagsbrand-Prozesses von 1933. Der Vorwurf ist harsch: Um seine Alleintäterschafts-These zu stützen, habe Tobias Quellentexte manipuliert. Spätestens als im Jahr 2000 das Buch von Bahar und Kugel unter dem Titel "Der Reichstagsbrand – Wie Geschichte gemacht wird" erschien, brach ein Sturm los. War der Brand des Reichstags also doch geplant und von den Nazis in Szene gesetzt?
Der Kriminalfall Reichstagsbrand ist wieder offen. Und zur Debatte steht damit auch der bequemer gewordene Blick auf das Dritte Reich. So kann die Diskussion um persönliche Verantwortung, um die planvoll agierenden politischen Täter – wo und in welcher Zeit immer – eine schärfere Tonart bekommen.
Ist es denn so ein Wunder? Wenn Kriege, überall auf der Welt, wieder führbar sind, uns näher rücken, dann stellt sich auch die Frage nach der Schuld konkreter Personen wieder in grellerem Licht.

Im Prozess um den Reichstagsbrand ist er gescheitert
Herrmann Göring (1893 - 1946)
Im Prozess um den Reichstagsbrand ist er gescheitert

Die distanzierte, abgeklärte Sicht auf vergangene Ereignisse mag da manchem nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Was geht uns heute ein Kriminalfall aus den dreißiger Jahren an? Sehr viel, denn Geschichte ist der wechselvolle Entwurf der Vergangenheit – aus den Bedürfnissen und Interessen der Gegenwart.

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